Eine deutsche Ausnahme
"Liebe Alice", schrieb der evangelische Theologe Johannes Lepsius Anfang August 1915 aus Istanbul an seine Frau in Potsdam: "Es ist unsagbar, was geschehen ist, und noch geschieht. Die vollkommene Ausrottung ist das Ziel - alles unter dem Schleier des Kriegsrechtes. Vorläufig ist nicht mehr dazu zu sagen." Johannes Lepsius, der Mitbegründer der Deutschen Orient-Mission und Vorsitzende der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, war am 24. Juli in der osmanischen Hauptstadt eingetroffen. Die Geschichte dieser Reise ist Thema in Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh", und sie beruht auf einer wahren Begebenheit. Seit dem Beginn des Weltkrieges hatte sich die Stimmung gegenüber den osmanischen Armeniern spürbar verschlechtert. Es hatte Hausdurchsuchungen, irreguläre Requisitionen, Verhaftungen und politische Morde gegeben. Im Winter wurden armenische Siedlungen im Grenzgebiet zum Iran von Massakern heimgesucht. Im späten Frühjahr 1915 begann eine systematische Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem Osten Anatoliens. Ganze Ortschaften, Stadtteile und Landschaften wurden zwangsweise geräumt und die Armenier auf lange Märsche in den Süden geschickt. Das alles blieb nicht unbemerkt.
Botschafter Hans von Wangenheim telegraphierte am 7. Juli aus Istanbul an Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg auf der Grundlage von präzisen Informationen aus den ihm bis dahin aus allen Landesteilen zugegangenen Berichten, es stehe außer Zweifel, so wörtlich, "dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten". Das war eine eindeutige Aussage, und sie bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass die deutsche Politik spätestens Anfang Juli 1915 zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Deportationen und Massaker, die man verstärkt seit den Frühlingsmonaten in den anatolischen Provinzen beobachten konnte, dem erklärten Ziel dienten, eine ethnische Gruppe - die osmanischen Armenier - systematisch der Vernichtung zuzuführen - und dies als Ergebnis einer staatlich gelenkten Politik. Dieses Urteil ist seit nunmehr hundert Jahren deutsches Regierungswissen.
Johannes Lepsius stammte aus dem gehobenen Berliner Bildungsbürgertum mit exzellenten Beziehungen in wichtige Kreise von Politik, Wissenschaft, Kirche und Hof hinein. Sein Vater Carl Richard war in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Leiter einer vierjährigen preußischen Ägyptenexpedition und der eigentliche Begründer der deutschen Ägyptologie. In Jerusalem, wo Johannes seit 1884 als Hilfsprediger und Lehrer arbeitete, begegnete ihm zum ersten Mal die Realität des osmanischen Vielvölkerstaates, dessen Probleme sein Leben bestimmen würden. Dieses Umfeld prägte Johannes Lepsius mehr noch als sein Elternhaus. Er kam hier in Kontakt mit Kreisen, die der Schweizer Orientalist und Historiker Hans-Lukas Kieser "das informelle Netzwerk einer Protestantischen Internationale" genannt hat. Politisch waren sie meist angelsächsisch beeinflusste progressive Liberale.
1896, zu einer Zeit von großen Massakern an Armeniern mit über 100.000 Toten, veröffentlichte Lepsius, mittlerweile Landpfarrer im Mansfeldischen Friesdorf, sein umfangreiches Buch "Armenien und Europa". Es entfaltete eine erhebliche internationale Wirkung. Das von imperialen Großmachtinteressen statt von politisch-moralischen Maßstäben geleitete Bild, das die Regierungen Europas über die Massaker verbreiteten, schrieb der britische Liberale und ehemalige Premierminister William Gladstone nach Lektüre dieses Buchs 1897 an Lepsius, sei "eine der traurigsten, wenn nicht die traurigste Tatsache dieser Zeit". Lepsius bezeichnete sein Buch als eine "Anklageschrift" und kultivierte damit einen Gestus, der ein Jahr später in dem berühmt gewordenen "J'accuse" Émile Zolas seine klassische Wirkung entfalten würde.
Seine Schrift erschien zu einer Zeit, als Bismarcks kalkulierte Realpolitik zunehmend durch Visionen eines geographisch ausgreifenden deutschen Machtstaates ersetzt wurde, der auch Einflusssphären im Osmanischen Reich ins Visier nahm. Lepsius und die meist christlich fundierte Moralpolitik der deutschen pro-armenischen Bewegung befanden sich aus diesen Gründen in Opposition zur offiziellen Politik des Kaiserreiches. Adolf Stoeckers "Deutsche Evangelische Kirchenzeitung" warf ihm vor, politisch wie theologisch von englischen Einflüssen abhängig zu sein. Das preußische Innenministerium intervenierte. Der nationalsoziale Pastor und Politiker Friedrich Naumann ging so weit, den armenischen Opfern einen höheren Sinn abgewinnen zu wollen, der in Deutschlands Bestimmung zur Weltpolitik im Orient begründet liege. Wer wie Lepsius international denke - und damit meinte Naumann: "englisch" –, der möge es mit den Armeniern halten.
Traurige Tatsache
Johannes Lepsius selbst ging es zunächst darum, die Überlebenden - meist Frauen und Waisenkinder - zu retten und so die Grundlagen für eine Wiedergeburt des dezimierten armenischen Volkes zu schaffen. 1896 gründete er in Urfa die erste Niederlassung des künftigen Lepsius-Hilfswerks. Er wusste aber, dass größere Mittel nur dann aufgebracht werden konnten, wenn man zuvor die Öffentlichkeit mit unanfechtbaren Informationen versorgte. Die evangelische Amtskirche, entsetzt über die Angriffe, die Lepsius' Publikationen und Vorträge erhoben, verweigerte ihm ein längeres Urlaubsgesuch für seine pro-armenische Tätigkeit und handelte dabei, wie Martin Rade - der linksliberale Herausgeber der "Christlichen Welt" - feststellte, keineswegs aus kirchlich-evangelischen Erwägungen heraus, sondern vielmehr durchsichtig politisch wie eine Staatsbehörde. Lepsius kündigte.
Er war jedoch kein grundsätzlicher Gegner von deutscher Weltpolitik, aber sie hatte für ihn nur sehr bedingt etwas mit den wilhelminischen Konjunkturen von Machtpolitik zu tun. Weltpolitik bedeutete für ihn als Theologen in erster Linie eine Vorbedingung des endlichen Anbruchs des Reiches Christi, das er als eine nach den Grundsätzen des Evangeliums rechtsstaatlich eingerichtete Welt auf Erden betrachtete. Allerdings sah Lepsius, wie alle gebildeten Protestanten seiner Zeit, in Luthers Deutschland Gottes prädestiniertes Land. Er musste jedoch erleben, wie die im Weltkrieg begangenen Verbrechen zunehmend dazu in Widerspruch gerieten.
Im Unterschied zu der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Personen im Deutschen Reich, die genau wussten, was in der Türkei vor sich ging, beschloss er nach seiner Rückkehr aus Istanbul im Herbst 1915, nicht aus Gründen der Staatsräson und des Kriegszustandes zu schweigen. Er wurde, schon in Istanbul, wie der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau beobachtete, wie 1896 zu einem emphatischen Moralpolitiker, der sich in Opposition zur Regierungspolitik verhielt. Auf einer Pressekonferenz am 5. Oktober 1915 in Berlin wurde er deutlich, als der er die deutsche Regierung anklagte, ein Sklave der osmanischen Führung geworden zu sein und nicht ihr Meister, was ihr eigentlich zustünde. Lepsius hatte noch zu Beginn des Krieges in der Illusion gelebt, das deutsch-türkische Waffenbündnis würde zwangsläufig zu einer gewissen - in seinen Augen positiven - hegemonialen Europäisierung der Türkei durch Deutschland und zur Herstellung geordneter Rechtsverhältnisse beitragen.
Diese Illusion war jetzt zerbrochen. Der protestantische deutsche Patriot Johannes Lepsius verwandelte sich angesichts eines großen Menschheitsverbrechens in einen Ankläger seiner Regierung und ihres orientalischen Opportunismus', der auch viel mit einem deutschen Geist des kulturellen Relativismus' zu tun hatte, den er nicht teilte. Die moralischen Gesetze, ob humanistisch oder christlich begründet, seien universal, hatte er schon 1897 in Maximilian Hardens "Zukunft" geschrieben, und niemals dürfe nationales Interesse zum herrschenden Maßstab sittlichen Denkens, Urteilens und Handelns werden.
"Das Gewissen des Staatschristentums", meinte er in dieser Zeit, "fühlt sich bei solchen Interessengegensätzen leicht versucht, das, was menschlich geboten ist, dem, was politisch bequem ist, unterzuordnen." Lepsius tat dies nicht. Mit Blick auf die existentiellen Folgen, die ihre ebenso persönliche wie politische Entscheidung nach sich zog, schrieb Wolfgang Huber einmal, könne man Johannes Lepsius durchaus mit Dietrich Bonhoeffer vergleichen.
Zerbrochene Illusion
Im April 1916, mitten im Krieg, veröffentlichte Lepsius seinen dreihundertseitigen Bericht über "Die Lage des armenischen Volkes in der Türkei" mit einer präzisen Darstellung der Zeitabläufe und der regionalen Ereignisse sowie genauen Statistiken. Es war ein Hilferuf, aber auch ein Versuch, die zivilisatorische Zäsur dieses Genozids zu analysieren und zu verstehen. Die zentrale Aussage des Buches - nach dem Urteil des Historikers Ulrich Trumpener für Jahrzehnte das beste synthetische Werk über diesen Gegenstand - besteht darin, dass ab Frühjahr 1915 eine staatlich geplante ethnische Säuberung stattfand, die unmittelbar, exekutiert von Organen eines "tiefen Staats", in genozidale Maßnahmen umschlug. Der Bericht stellt auch die Frage nach der Strafwürdigkeit, und zitiert in diesem Kontext die alliierte Erklärung vom 24. Mai 1915, in der die Vorgänge als Verbrechen gegen Menschlichkeit und Zivilisation charakterisiert wurden.
Der Genozid von 1915/16 war in den Augen von Lepsius, der die Entwicklung der armenischen Frage in der Türkei seit 1896 intensiv verfolgt hatte, ein unter dem Schleier des Kriegsrechts vollzogenes ausschließlich türkisches - innenpolitisches - Projekt, bei dem es im völkischen Sinne darum ging, in der Konsequenz alles zu vernichten, was nicht rein türkisch oder türkisch assimilierbar war.
Dem Deutschen Reich sprach er schon Ende 1918 eine Mitschuld durch Duldung und feige Untätigkeit zu. Nach dem Krieg hat Lepsius - der den 9. November 1918 ganz in der Tradition der Protestantischen Internationale als Durchbruch einer neuen demokratischen Weltära begrüßte - einen vom Auswärtigen Amt selbst ausgewählten Teil der Dokumente und des Schriftwechsels zu den Ereignissen in der Türkei während des Krieges unter dem Titel "Deutschland und Armenien" in seinem Potsdamer Tempel-Verlag veröffentlicht. Inwieweit alte Beamte des Auswärtigen Amts, die dafür bekannt waren, Antragstellern nach Belieben Akten vorzuenthalten, dies auch bei Lepsius in einigen, deutsche Militärs und Politiker belastenden, Fällen getan haben, lässt sich nicht mehr klären, ist aber nicht unwahrscheinlich. Dennoch war "Deutschland und Armenien" die erste systematische Dokumentation diplomatischer Quellen zum Völkermord an den Armeniern überhaupt, und sie war aufschlussreich für die Klärung der wesentlichen Fragen des Verlaufs und der Hintergründe des Völkermords.
Was bleibt? Johannes Lepsius' klarsichtige Analyse der destruktiven Potentiale eines extremen Nationalismus, seine Bereitschaft, mitten im Weltkrieg das Schweigen zu brechen und, christlich begründete, ethisch-internationalistische Beweggründe über die eigene Staatsräson zu stellen, sein unzeitgemäßer ziviler Ungehorsam und seine unermüdliche und erfindungsreiche Aktivität, einer verfolgten und von der Vernichtung bedrohten Ethnie - den Armeniern - praktische Hilfe zu leisten, kennzeichnen ihn auch heute noch als eine deutsche Ausnahmefigur. Kurz nach seinem Tod 1926 bezeichnete ihn George Peabody Gooch, der Herausgeber der Zeitschrift "Contemporary Review", als berühmten Armenophilen mit substantiellem politischem Urteilsvermögen.
Lepsius war natürlich auch und in erster Linie Theologe. Aber die Theologie taugte für ihn weniger zur Analyse der Welt als zu ihrer ethischen Bewertung, zu ihrer Befriedung und als Aufruf zum Handeln.
Literatur
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck Verlag, München 2015, 288 Seiten Euro 24, 95 (siehe auch zeitzeichen 3/2015).
Rolf Hosfeld