Partei für die Opfer

Androhung und Ausübung militärischer Gewalt kann notwendig und geboten sein
Günsbach im Elsass: Militärbischof Sigurd Rink (links) und der französische evangelische Militärpfarrer Paul Muller beim Gottesdienst zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges. Foto: dpa/ Winfried Rothermel
Günsbach im Elsass: Militärbischof Sigurd Rink (links) und der französische evangelische Militärpfarrer Paul Muller beim Gottesdienst zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges. Foto: dpa/ Winfried Rothermel
Seit zwei Monaten ist Sigurd Rink evangelischer Militärbischof. Für ihn genießt zivile Konfliktlösung Vorrang, aber manchmal sei militärische Gewalt "ethisch erlaubt oder sogar geboten". Der 53-Jährige skizziert auch, wie sich seine "radikal-pazifistische Auffassung" geändert hat.

Wenn du den Frieden willst, bekämpfe den Krieg!" Diese Kernaussage stammt aus der Umgebung meines Amtssitzes. Sie ist einer Predigt entnommen, die in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehalten wurde, von Pfarrer Walther Nithack-Stahn am 2. September 1911, dem Sedanstag, an dem man im Kaiserreich des Sieges der deutschen Truppen über den so genannten Erzfeind Frankreich gedachte. 1911 dachten viele, Krieg liege in der Luft, und meinten, es müsse wieder einmal ein solches "Völkerringen" geben. Aber für Nithack-Stahn war Krieg nicht gesetzte Weltordnung, sondern menschliche Unordnung. Krieg sei gekennzeichnet durch Gesetzlosigkeit und Lieblosigkeit. Ja, mehr noch: Krieg sei ein Zeichen der Gottlosigkeit. Denn "Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens", betonte der Pfarrer. Friede, das sei der innere Herzton, der die ganze Bibel durchdringe. Daher rief Nithack-Stahn die Gemeinde zum freimütigen Protest gegen alle Kriegsgelüste auf. Sie solle den Frieden fördern. Zwischen den Völkern solle das Recht aufgerichtet werden, Völker sich um das Recht versammeln und gegen das Unrecht kämpfen. Daher: Wenn du den Frieden willst, bekämpfe den Krieg!

Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges wissen wir: Nithack-Stahns Aufforderungen wurden nicht gehört. Und drei Jahre später taumelte die Welt in die Urkatastrophe der Zwanzigsten Jahrhunderts, die Millionen von Opfern forderte.

Und am 1. September vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, der noch mehr Opfer forderte und weite Teile Europas in ein Trümmerfeld verwandelte. Es bedurfte noch dieser zweiten Katastrophe, dass Menschen in der Welt erkannten: Der Krieg muss bekämpft werden.

Das ist die Lektion, die nicht nur die Deutschen, sondern alle Völker gelernt haben. Am 26. Juni 1945 unterzeichneten in San Francisco, zum Abschluss der Konferenz über eine internationale Organisation, fünfzig Gründungsstaaten die Charta der Vereinten Nationen. In deren Präambel heißt es: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen - [sind] fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat ..." In der UN-Charta, dem Grunddokument internationalen Völkerrechts, verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, auf die "Geißel des Krieges" als politisches Mittel zu verzichten.

Früher Pazifist

In ähnlicher Weise argumentierten die Christen auf der ersten Vollversammlung des Weltkirchenrates (ÖRK) in Amsterdam 1948. Im Bericht der IV. Sektion "Die Kirche und die internationale Unordnung" wurde "der ganzen Welt einmütig bezeugt", Krieg solle "nach Gottes Willen nicht sein". Und diese Grundaussage ist bis heute gültig. Jede religiöse Legitimierung militärischer Gewalt wird damit unmöglich gemacht. Krieg wird als Zeichen der noch nicht erlösten Welt betrachtet.

"Frieden schaffen ohne Waffen" - diese Aussage war prägend für meine friedensethische Haltung. Ich war Teil der Friedensbewegung und vertrat die pazifistische Position, dass es - vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der Bergpredigt - militärisch-gewaltsames Handeln nicht mehr geben dürfe. Neben den Kirchentagen und der Friedensbewegung prägte mich auch der "Konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung", der 1983 vom ÖRK initiiert worden war. Hier ging es nicht mehr nur um Fragen der Abrüstung, sondern auch um den Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit. Wir müssen nach Wegen zur Überwindung der Gewalt und nach Mitteln zur zivilen Konfliktlösung suchen.

Meine persönliche Wende in dieser radikal-pazifistischen Auffassung erfuhr ich während meiner Zeit als Gemeindepfarrer in Königstein-Falkenstein. Ich kam Mitte der Neunzigerjahre mit Mitarbeitern der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit im benachbarten Eschborn ins Gespräch. Sie machten mir deutlich, dass zivile Konfliktbearbeitung ihre Grenzen habe. Es gebe Punkte, wo man mit der zivilen Aufbauarbeit nicht weiterkommt. Entwicklungszusammenarbeit sei ohne ein Mindestmaß an innerer Sicherheit nicht möglich. Ja, manchmal komme es zu Situationen, die bestimmte Formen der Androhung und notfalls Ausübung rechtserhaltender Gewalt notwendig machen. Ohne sie müsse man die Entwicklungshelfer abziehen.

Eingreifen nötig

Vor zwanzig Jahren geschah der Völkermord in Ruanda. Innerhalb weniger Monate wurde nahezu Dreiviertel der Tutsiminderheit getötet. Die UN-Friedenstruppen waren bei Ausbruch der Gewalt nicht verstärkt, sondern verringert worden. Das festigte in mir die Meinung: Es gibt Situationen, in denen die Völkergemeinschaft eingreifen muss, um größeres Unglück zu verhindern. Und die Menschenrechtsverletzungen in Bosnien, Kosovo und Somalia haben diese Einsicht verstärkt.

Dankbar bin ich, dass die Erfahrungen der deutschen Geschichte, die auch Teil meiner eigenen Biografie sind, sich - friedensethisch reflektiert - in der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen" spiegeln. Und ihre Grundgedanken sind leitend für die friedensethische Reflexion der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr.

"Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor." Dieses Wort bestimmt das Nachdenken über Krieg und Frieden in der evangelischen Kirche. Ganz im Sinne von Pfarrer Nithack-Stahn und des Konziliaren Prozesses denken wir zunächst nicht über die Bedingungen militärischen Handelns nach, sondern über das, was notwendig ist, um in Frieden zu leben.

Im Leitbild vom gerechten Frieden wird gesagt, dass Friede mehr ist als Nicht-Krieg. Jeder Mensch braucht einen angemessenen Anteil an den Gütern des Lebens. Nur wo die Menschenrechte respektiert und gefördert werden, macht man sich auf den Weg zum Frieden. Auf politischer Ebene wird es daher darum gehen müssen, Prozesse zu fördern, in denen Menschen vor Gewalt geschützt werden, ihre Freiheit gefördert, ihre Not gelindert und ihre kulturelle Vielfalt gefördert wird. Dazu ist der Aufbau oder Ausbau einer globalen Friedensordnung als internationaler Rechtsordnung notwendig. Nicht das Recht des Stärkeren darf bestimmend sein, sondern die Stärke des Rechts.

Vorrang für zivile Mittel

Ganz im Sinne der nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnenen Erkenntnisse gilt auch hier: In einer solchen internationalen Rechtsordnung haben zivile und gewaltfreie Mittel der Konfliktbearbeitung immer Vorrang . Daher spielen auch die zivilen Friedens- und Entwicklungsdienste eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, einen nachhaltigen Frieden zu bewahren und zu fördern.

Die Stärke des Rechts soll die Schwachen vor willkürlicher Gewalt schützen. Wo aber Unrecht Macht ergreift, muss man für die Opfer Partei ergreifen. Das geschieht durch humanitäre Unterstützung, Diplomatie oder Entwicklungszusammenarbeit und andere Mittel der zivilen Konfliktbewältigung.

Die Krisen der letzten Jahrzehnte haben uns Situationen vor Augen geführt, in denen es zu Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und anderen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam. Hier reichten die gewaltfreien Mittel nicht aus, um die Opfer zu schützen. Vor diesem Hintergrund formulierte die EKD schon 1994 in der Schrift "Schritte auf dem Weg des Friedens" den Grundsatz: "Die Völkergemeinschaft hat die Pflicht, zur Geltung und Durchsetzung der Menschenrechte beizutragen und darum den Opfern von Unterdrückung und Gewalt Schutz und Hilfe zuteilwerden zu lassen."

Neben anderen Mitteln, Zwangsmaßnahmen wie wirtschaftlichen Sanktionen, kann dazu auch die Androhung und Ausübung militärischer Gewalt als äußerste Erwägung und Möglichkeit im wahrsten Sinne des Wortes not-wendig sein, um die Opfer - auf ihren Hilferuf hin - zu schützen.

Mag auch die Androhung und Ausübung militärischer Gewalt manchmal ethisch erlaubt oder sogar geboten sein, muss sie doch sorgsam erwogen werden. Zum einen muss sie an enge ethische Kriterien gebunden sein. In einer Ethik rechtserhaltender Gewalt werden Prüffragen über die ethische Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt im Sinne einer internationalen Polizeiaktion gestellt.

Zum anderen müssen immer wieder die Grenzen militärischen Gewaltgebrauchs verdeutlicht werden. Darauf weisen die Soldaten selbst hin: Der Einsatz militärischer Gewalt schafft keinen Frieden. Er kann maximal der Politik und anderen Verantwortungsträgern für eine begrenzte Zeit den Raum schaffen, mit zivilen Mitteln friedensschaffende und friedensfördernde Prozesse in Gang zu bringen.

Schutz durch Soldaten

Daher müssen militärische Maßnahmen in ein umfassendes friedens- und sicherheitspolitisches Konzept eingebettet sein. Wir müssen wissen, wie wir mit zivilen Aufbauorganisationen zusammenarbeiten können, was wir genau erreichen wollen und wie wir einen Einsatz beenden können, ohne Chaos zu hinterlassen. Ziel aller Bemühungen muss es sein, das Recht wieder zur Geltung zu bringen und den Frieden nachhaltig wiederherzustellen.

Damit die Völkergemeinschaft aber ihrer Schutzverantwortung nachkommen kann, bedarf es Menschen, die bereit sind, rechtserhaltende, rechtserzwingende und rechtsermöglichende Gewalt auszuüben. So verstehe ich den Auftrag von Soldatinnen und Soldaten: Sie sollen Menschen in Situationen von Gewalt, Not und Unfreiheit schützen. Insofern dienen Soldatinnen und Soldaten dem gerechten Frieden.

Dabei handeln Soldatinnen und Soldaten immer im Auftrag der politischen Verantwortungsträger. Diese entscheiden über die Legitimität des Einsatzes. Doch unabhängig von der politischen Entscheidung haben die Soldatinnen und Soldaten ihren Einsatz immer vor ihrem Gewissen zu verantworten. Ich bin froh, dass dieser Grundsatz ein wesentliches Prinzip der Inneren Führung der Bundeswehr ist. Soldatinnen und Soldaten bleiben in ihrem Einsatz unter den gegebenen politischen und militärischen Rahmenbedingungen an ihr Gewissen gebunden.

Daher werden gewissenhaft handelnde Soldatinnen und Soldaten gegebenenfalls den politisch Verantwortlichen mögliche Gewissenkonflikte und daraus folgende physisch-psychische Belastungen vor Augen führen. Denn das Gewissen der Politikerinnen und Politiker - wie dasjenige aller Bürgerinnen und Bürger - kann nicht von den Lasten und Zumutungen unberührt bleiben, die sie den Soldatinnen und Soldaten aufbürden.

Alle tragen Verantwortung

Das ist nicht ohne Bedeutung. Soldatinnen und Soldaten müssen in außergewöhnlichen Lagen handeln. Sie können in ethische Konflikte geraten. Manchmal müssen sie zwischen zwei Übeln wählen. Und selbst wenn alle Güter sorgsam abgewogen wurden, bleibt das Risiko, Schuld auf sich zuladen.

Daher ist es nötig, dass die politisch Verantwortlichen sorgsam das Für und Wider eines militärischen Einsatzes abwägen. Aber nicht nur sie. Letzten Endes tragen wir alle als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit an der Verantwortung, wenn Soldatinnen und Soldaten sich unter Gefahr ihres Lebens für die internationale Friedensordnung einsetzen. Das ist die Konsequenz einer Konzeption, nach der die Bundeswehr der Demokratie dient und selbst Teil der demokratischen Gesellschaft ist.

Insofern ist es hilfreich, dass über Deutschlands künftige außenpolitische Rolle seit den Äußerungen von Bundespräsident Joachim Gauck öffentlich und auch kontrovers diskutiert wird. Gerade angesichts der verheerenden Sonderrolle, die Deuschland im 20. Jahrhundert spielte, müssen wir uns fragen lassen, wie wir unsere Verantwortung in EU, NATO und UN am besten wahrnehmen können. Dazu gehört - nicht ausschließlich, aber auch - der Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen eines militärischen Engagements.

Gefahr des Scheiterns

Auch wenn die Entscheidung zu einem gewaltsamen Handeln nach sorgsamer Abwägung erfolgt ist, besteht die Gefahr des Scheiterns. Schwere, gewaltsam ausgetragene Konflikte sind immer die Frucht von schuldhaftem Vergehen und Versagen auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Der Blick in die Ukraine und den Nahen Osten gibt dazu eine Anschauung.

Ich brauche aber gar nicht so weit zu schauen. Was militärische Gewalt anrichten kann, sehe ich schon, wenn ich auf die Turmspitze der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche blicke. Daher gilt bis heute der Satz ihres damaligen Pfarrers: "Wenn du den Frieden willst, bekämpfe den Krieg!"

Wir Christen haben die besondere Verantwortung, uns für die Versöhnung der Völker einzusetzen. Und daran beteiligt sich auch die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr. Von daher bin ich froh, dass ich zu Beginn meiner Amtstätigkeit am Gottesdienst mitwirken durfte, den die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges im elsässischen Günsbach hielt. Dort sprachen ein französischer Militärpfarrer und ich gemeinsam das Sündenbekenntnis und die Absolution. Damit sollte gezeigt werden: Wir sind alle auf Vergebung und Versöhnung angewiesen.

Und wenn Versöhnung gestiftet wird, gerechte Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern herrschen und die Opfer vor willkürlicher Gewalt geschützt werden, befinden wir uns auf dem Weg zu einem gerechten Frieden.

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