Konkurrenz belebt das Geschäft

Über das Zusammenspiel von historischer Kompetenz und dem Mut zur Theologie
Baustelle Reformationsgedenken - auch in Wittenberg Foto: epd
Baustelle Reformationsgedenken - auch in Wittenberg. Foto: epd
Über die EKD-Veröffentlichung "Rechtfertigung und Freiheit" streitet sich die Wissenschaft. Auf die scharfe Kritik von Thomas Kaufmann in zeitzeichen 8/2014 antwortet Christoph Strohm. Für den Heidelberger Kirchenhistoriker können sich historische und systematische Sichtweisen auf das Reformationsjubiläum trefflich ergänzen.

Thomas Kaufmann hat seine scharfe Kritik an dem EKD-Text "Rechtfertigung und Freiheit" in der August-Ausgabe dieser Zeitschrift ausführlich begründet. In der Süddeutschen Zeitung vom 1. Juli erläuterte er seine Verblüffung, "mit welcher Entschiedenheit die monumentalistische Geschichtsbetrachtung nun obsiegt hat". Er sieht "die definitive Abkehr von einem geschichtswissenschaftlich fundierten Bild der Reformation" vollzogen und ein "auf 'ein religiöses Ereignis' fokussierte(s) biedermeierlich-fromme(s) Konzept" am Werk. Zählt man alle Argumente Kaufmanns zusammen, kann es überhaupt keinen aktualisierenden Rückgriff auf reformatorische Lehrbildung und Frömmigkeitspraxis in der Gegenwart mehr geben. Zieht man die Pauschalisierungen und polemischen Zuspitzungen (Parallelisierung mit der Geschichtspolitik der DDR!) ab, bleiben ein paar Gesichtspunkte übrig, über die sich zu streiten lohnt. Hier kann die Diskussion über Inhalte, Formen und Ziele der Reformationserinnerung 2017 zur Klärung des Verhältnisses von Historiographie und Theologie beitragen.

Kaufmann liest das Papier "Rechtfertigung und Freiheit" mit den Augen des Kirchenhistorikers. Er erinnert an eine grundlegende Alternative in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Text und seine Autoren werden einer dieser Alternativen zugeordnet. Bis zur Krise des Ersten Weltkrieges hatte die so genannte Religionsgeschichtliche Schule das Programm einer historischen Kontextualisierung der Theologie insgesamt und des reformatorischen Erbes im Besonderen entfaltet. Ernst Troeltsch wurde mit dem Aufsatz "Über historische und dogmatische Methode in der Theologie" von 1898 und anderen Schriften zum Systematiker dieses Programms.

Die Krise des Ersten Weltkriegs beförderte mit der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths und der Luther-Renaissance Karl Holls pointierte Gegenentwürfe. Nun erschien wiederum allein die dogmatische Methode zu einer angemessenen Theologiebegründung fähig. Kaufmann stellt jetzt alle diejenigen, die sich in der Weise des EKD-Textes um eine "evangelische Theologie" bemühen, in die Nähe der "antihistoristischen Neuorientierung evangelischer Theologie bei Karl Holl und den Dialektikern". Das ist zu einfach und wird dem Text "Rechtfertigung und Freiheit" nicht gerecht.

Aktualisierender Rückgriff

Auch wenn es sich um einen lediglich 110 Taschenbuchseiten starken, für die Allgemeinheit bestimmten Text handelt, ist einer von drei Teilen ausschließlich der Frage des angemessenen Erinnerns und Feierns der Reformation gewidmet. Es wird ein knapper Überblick über die problematischen Formen des Luthergedenkens in den vergangenen Jahrhunderten gegeben, auf den Unterschied von Geschichtsschreibung und Gedächtniskultur hingewiesen und ausdrücklich die Orientierung am "jeweiligen Stand historiographischer Reflexion" (Seite 97) eingefordert. Hier - wie an anderen Stellen des Textes - betonen die Autorinnen und Autoren den Abstand zwischen Reformation und Gegenwart. "Die kategoriale historische wie existenzielle Differenz zwischen Menschen des sechzehnten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts kann nicht einfach überspielt werden." Man benötige Mut, "Vergangenes in vollkommen neue Kontexte einzuzeichnen".

In diesem Sinn wird exemplarisch der Begriff "Freiheit" herangezogen, da mit ihm Sachanliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre zur Geltung gebracht werden könnten. Dass man nicht einen Begriff wie "Dienst" oder "Beruf" gewählt hat, ist natürlich Ausdruck einer dogmatischen Setzung. Sie ist meines Erachtens sachgemäß, weil die Semantik der frühen Rezeption der reformatorischen Botschaft und jedenfalls Teile der Wirkungsgeschichte dies rechtfertigen.

Es ist auch festzuhalten, dass in der kirchlichen Verkündigung jeden Sonntag eben solche dogmatische Setzung geschieht. Es wird ein Text aus der biblischen Pluralität herausgegriffen, und der wird dann auch noch in meist (und hoffentlich!) kreativer Weise auf die Existenz der Zuhörenden in ihrer ganz anderen Welt bezogen. Historisch-kritische Bibelauslegung soll dabei Schutz vor willkürlicher Interpretation oder Ideologisierung bieten. Im gleichen Sinne hat sich ein aktualisierender Rückgriff auf reformatorisches Gedankengut vor geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zu verantworten. Hier kann man dem Text "Rechtfertigung und Freiheit" zwar eine gewisse Einseitigkeit, aber keine wirklich gravierenden Mängel vorwerfen. Er ist im Bewusstsein des großen Abstands geschrieben und geht auf die Wirkungsgeschichte ein. Im Großen und Ganzen wird der Text der Pluralität der Reformation gerecht.

Verkürzungen unvermeidbar

Der Zusammenhang von Rechtfertigung und christlicher Freiheit war nicht nur für Luther, sondern auch für andere Reformatoren zentral. Luther stellte immerhin die frühe Programmschrift von 1520, in der er seine reformatorische Erkenntnis konzentriert wie kaum an einer anderen Stelle entfaltet hat, unter den Titel "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Huldrych Zwinglis Reformation ist gar als "Reformation der Freiheit" beschrieben worden, so zum Beispiel vom Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm. Und auch der Genfer Reformator Johannes Calvin hat - wenig beachtet - bereits in der ersten Ausgabe seines noch knappen "Unterrichts in der christlichen Religion" von 1536 den Zusammenhang von Rechtfertigung und christlicher Freiheit profiliert entfaltet. Die frühen Gegner der Reformation nahmen ebenfalls diesen Zusammenhang wahr. So sah sich Luther 1520 gezwungen, dem Vorwurf des Libertinismus mit seiner Schrift "Von den guten Werken" zu begegnen. Auch die aufständischen Bauern haben sich - wider Luthers Intention - 1524 zur Begründung ihrer Forderungen auf den Zusammenhang von Rechtfertigung und Befreiung bezogen.

Es ist klar, dass es zu Verkürzungen kommen muss, wenn man sich so konsequent um eine Aktualisierung bemüht, wie das in dem Text geschieht. Luthers Verschärfung des Geltungsanspruchs des Gesetzes oder das endzeitliche Gericht als unmittelbarer Horizont der Rechtfertigungslehre treten in den Hintergrund. Man verkennt aber das Genus des Textes, wenn man die Konzentration auf die religiösen Aspekte der Reformation - oder besser: auf die Probleme der Lebensgewissheit und des getrösteten Gewissens - in so massiver Weise kritisiert, wie Kaufmann das tut.

Es klingt nach Selbststilisierung, wenn man den Autorinnen und Autoren des Textes vorwirft, dass sie "sich der bitteren Pflicht der Historisierung und ihrer Folgen auf so seicht-frömmelnde Weise entziehen zu können" meinen (so Kaufmann in der Süddeutschen Zeitung). Was spricht dagegen, den Vätern des 19. Jahrhunderts zu folgen und die Rechtfertigungslehre mit Hilfe von fünf Exklusivpartikeln ("solus Christus, sola gratia, solo verbo, sola scriptura, sola fide") zu erläutern? Das ist ein respektabler Versuch, Kernaussagen einer gleichwohl vielgestaltigen Reformation wenigstens in Ansätzen gerecht zu werden.

Thema Gewissensfreiheit

Kaufmann ist Recht zu geben, dass die stilistische Form des EKD-Textes "zwischen Predigt, historischem Sachtext und einer Kurzdogmatik" schwankt. Jeder Ausstellungsmacher kennt den Unterschied zwischen historiographischem Diskurs und Gedenkkultur. Darf man Karl den Großen (oder meinetwegen Karl V.) als ersten Europäer präsentieren? Im Falle des Reformationsjubiläums sollte es unterschiedliche Genera der Vermittlung geben. Welche Medien, Formen und Inhalte des Gedenkens passen zusammen? Statt Polemik und falsche Alternativen wäre hier konstruktive Kritik gefragt.

Der Text "Rechtfertigung und Freiheit" geht über die Frage nach der Gegenwartsbedeutung reformatorischer Theologie und Frömmigkeit hinaus, indem er dem reformatorischen Freiheitsverständnis kulturgeschichtliche Folgen zuspricht. Mehrfach wird der spezifische Anteil der Reformation an der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte hervorgehoben. Luther habe durch seinen Auftritt vor dem Kaiser in Worms 1521 "erstmals an prominenter Stelle das für die europäische Neuzeit so überaus bedeutsame Thema der Gewissensfreiheit eines Einzelnen gegenüber institutionellen Zwängen prominent zur Geltung" gebracht (Seite 101). Zugleich wird immer wieder vor einer Überbewertung gewarnt. "Luthers Rede von 1521 war keine feierliche Erklärung der Gewissensfreiheit im modernen Sinne eines allgemeinen Menschenrechts" (Seite 101). Es wird nicht geleugnet, dass auch andere Impulse die neuzeitliche Freiheitsgeschichte gefördert haben. Wenigstens am Rande erwähnt wird, dass die Reformation "an einzelnen Punkten gerade kein Teil dieser Freiheitsgeschichte war" (Seite 105).

Hierüber gilt es zu diskutieren. Den Kritikern ist Recht zu geben, dass die Bedeutung der Reformation für die "Säkulargesellschaft" herauszuarbeiten und dabei zwischen intendierten und nicht intendierten Folgen zu unterscheiden ist. Das erfolgt in dem Text "Rechtfertigung und Freiheit" nur in Ansätzen. Im Geleitwort des Ratsvorsitzenden heißt es: "Als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung hat die Reformation nicht allein Kirche und Theologie, sondern das gesamte private und öffentliche Leben verändert und bis in die Gegenwart (mit) geprägt. Sie wirkte als Bildungsimpuls, trug zur Ausbildung der modernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfreiheit bei, veränderte das Verhältnis von Kirche und Staat, hatte Anteil an der Entstehung des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs und des modernen Demokratieverständnisses - um nur einige Beispiele zu nennen" (Seite 9). Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Reformation ist hier umfassend, zugleich aber recht unbestimmt zum Ausdruck gebracht.

Stand der Forschung

Entsprechen solche Formulierungen dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand? Im deutschsprachigen Bereich dominiert seit Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts das so genannte Konfessionalisierungsparadigma. Die Historiker Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard arbeiteten heraus, dass die drei Hauptkonfessionen in gleicher Weise zur Formierung der frühmodernen Gesellschaft beigetragen haben. Die Leistungskraft der Thesen bestand darin, dass angesichts eines religionskritischen Klimas in den Geschichtswissenschaften die modernisierende Kraft der Konfessionen wieder ernst genommen wurde. Zugleich spielten die inhaltlichen Besonderheiten der drei Hauptkonfessionen dann aber keine Rolle mehr. Gegen die vermeintliche Gefahr einer Überbewertung der Bedeutung des Protestantismus für die Moderne wurde nun vielfach betont, dass ihm keine besonderen Kulturwirkungen, zum Beispiel im Blick auf die neuzeitliche Freiheits- und Bildungsgeschichte, zukämen (so zuletzt wieder der Bochumer Historiker Lucian Hölscher).

Es ist klar, dass es hier keine monokausalen Erklärungen geben kann und sich im konfessionellen Lehrbestand jeweils auch gegenläufige Impulse finden. Aber konfessionelle Faktoren sollten bei der Erklärung kultureller Unterschiede auch nicht völlig vernachlässigt werden. Die Zurückweisung "positiver" Kulturwirkungen des Protestantismus im Kontext der Konfessionalisierungsthese passt jedenfalls schlecht zur Diagnose problematischer Tendenzen protestantischer Staatsfrömmigkeit. So ist das in Wolfgang Reinhards großer "Geschichte der Staatsgewalt" zu lesen (2. Auflage 2000, Seite 266f.). Die krasseste Variante vertritt hier einer der profiliertesten katholischen Reformationshistoriker, der an der katholischen University of Notre Dame (Indiana) lehrende Historiker Brad S. Gregory. Für ihn ist die Zerstörung der Autorität des kirchlichen Amtes durch die Reformatoren der wesentliche Grund für das Elend der Moderne mit all ihrem "hyperpluralism" und Relativismus ("From Wittenberg to Wal-Mart").

Monokausale konfessionelle Zuschreibungen bestimmter Kulturwirkungen oder gar ganzer Modernisierungstheorien sind ebenso zu vermeiden wie die völlige Egalisierung der kulturellen Prägekraft der einzelnen Konfessionen. Zur Versachlichung der Debatte kann ein Gesichtspunkt beitragen, der in der neueren Forschung zunehmend thematisiert wird: die produktive Kraft der konfessionellen Konkurrenz. Die römisch-katholische und die evangelischen Kirchen, aber auch die westliche Zivilisation insgesamt haben von der konfessionellen Konkurrenz in erheblichem Maß profitiert. Der überragende Erfolg des jesuitischen Bildungswesens seit den 1550er Jahren lässt sich zum Beispiel nicht ohne diesen Horizont verstehen.

Der EKD-Text zitiert Joseph Ratzinger, der 1986 auf einen Aspekt der produktiven konfessionellen Konkurrenz hingewiesen hatte (Seite 21): "War es für die katholische Kirche in Deutschland und darüber hinaus nicht in vieler Hinsicht gut, dass es neben ihr den Protestantismus mit seiner Liberalität und seiner Frömmigkeit, mit seinen Zerrissenheiten und mit seinem hohen geistigen Anspruch gegeben hat?"

Christoph Strohm

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Christoph Strohm

Christoph Strohm ist Professor für Reformationsgeschichte und neuere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.


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