Tanz ist eine verschollene Sprache

Gespräch mit dem Theologen und Tanztherapeuten Volker Lang über Tanz, Trance und heilige Momente
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Viele Christen lehnen es ab, im Gottesdienst zu tanzen. Das müsse man respektieren, sagt Volker Lang, Seelsorger an der Psychiatrischen Klinik in Emmendingen, der selbst viele Jahre Gemeindepfarrer war. Wie es dem begeisterten Tänzer dennoch gelang, Gemeindemitglieder in Bewegung zu bringen, und was das Tanzen mit Menschen macht, beschreibt er im Gespräch mit zeitzeichen.

zeitzeichen: Herr Lang, Sie sind Theologe und Tänzer. Das ist eine, gerade im evangelischen Bereich, sehr seltene Kombination. Wie ist der Tanz in Ihr Leben gekommen?

Volker Lang: Vor etwa 40 Jahren, durch den Tanzkurs, den man als Jugendlicher macht. Damals gehörte das noch zum Erwachsenwerden dazu. Zunächst war ich noch relativ unbeholfen, aber nicht ganz unbegabt, habe nach zwei Jahren das Silberne Tanzabzeichen gemacht, und dann habe ich den Tanz lange liegenlassen.

Wie lange?

Volker Lang: Etwa 20 Jahre lang. Ich habe Theologie studiert, habe mich besonders für Seelsorge und Psychologie interessiert und nach dem Examen eine pastoralpsychologische Fortbildung gemacht. Über die Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie habe ich dann Tanz als Therapieform kennengelernt. Das war für mich eine Offenbarung.

Warum? Was war anders als in der Tanzschule?

Volker Lang: Der Tanz in der Tanzschule war ein Nachvollziehen von Bewegungen, die mir vorgemacht wurden und die ich versucht habe, möglichst fehlerfrei zu kopieren. Das war wie eine Rechenaufgabe, die man lösen muss. Es hat mir schon Freude gemacht, aber ich kam selbst nicht wirklich vor. Ich war immer der Schüler und hatte nie die Möglichkeit, wenigstens zu hoffen, dass ich einmal so gut werden könnte wie der Lehrer. Letztendlich war es eine permanente Frustrationsgeschichte. Bei der Ausbildung zum Tanztherapeuten war das ganz anders: Meine Lehrerin Ursel Burek hatte die Fähigkeit, die Menschen in ihrer Bewegung zu beobachten, wertzuschätzen und zu entwickeln, so dass sich plötzlich etwas in mir veränderte. Ich kam mit Emotionen in Verbindung, die mir bis dahin unzugänglich gewesen waren. Das hat in mir eine neue Form der Lebensfreude ausgelöst, die ich nicht mehr missen möchte.

Was waren das für Tänze und Bewegungen, die so eine Wirkung hatten?

Volker Lang: Ganz unterschiedliche Tänze aus verschiedenen Kulturen, auch sakrale Tänze. Solche Tänze tragen ein großes Potenzial an Weisheiten in sich, die sich über Körperbewegungen vermitteln. Wer sie lernt, bekommt ein größeres Repertoire, sich in seinen Bewegungen zu spüren. Aber man lernt auch zu improvisieren, Wörter in Bewegungen umzusetzen und umgekehrt. Es werden zum Beispiel Träume getanzt oder Körperbilder oder Lebenswege. Dazu braucht man nicht unbedingt Musik. Man kann sogar eine Mauer tanzen, fünf Minuten bewegungslos stehen - auch das kann ein höchst intensiver Tanz sein.

Der Tänzer und Choreograph John Neumeier sieht den Tanz als "verschollene Sprache" ...

Volker Lang: Das ist ein Ausdruck, den ich faszinierend finde. Denn was verschollen ist, kann ja auch wieder auftauchen. Es gibt im Tanz eine reiche Sprache, gerade dann, wenn es um kultische Tänze geht. Im Tempel der Königinnenmutter in Kambodscha gab es zum Beispiel 2.400 Priester und 600 Tänzerinnen. Die Tänzerinnen hatten eine verkündigende Aufgabe und haben sich jahrelang darauf vorbereitet, vier Bewegungen zu tanzen, und zwar das Pflanzen, das Wachsen, das Reifwerden und das Ernten von Reis. Die Idee dahinter war die Inkarnation von Vishnu im Reis. Wenn die Tänzerinnen tanzten, war das aber nicht nur Mittel zum Zweck oder eine Illustration, sondern es war ein heiliger Moment, in dem etwas entstand. Und John Neumeier hat mit seiner Choreographie der Matthäus-Passion von Bach genau diese Idee aufgenommen. Er geht mit der Musik eine Verbindung ein, die es möglich macht, als Mensch etwas von Gott zu erfahren, aber auch die eigene Liebe zu Gott in eine Form zu bringen. In solchen Momenten geschieht Evangelium im Sinne von "Berührung von Gott her".

Im Christentum hat das aber keine Tradition, oder?

Volker Lang: Von Augustinus soll ja der Satz stammen: "Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen." Aus der gleichen Zeit stammt aber auch eine Verfügung von Bischof Ambrosius von Mailand, wonach der Tanz aus der Liturgie zu verbannen sei. Diese Körperfeindlichkeit nahm im Laufe der Jahrhunderte noch zu. In Wirklichkeit leben wir in unseren Kirchen auch heute noch in einer ziemlich körperfeindlichen Situation. Der Tanz ist gerade auch im Christentum eine verschollene Sprache.

Kann man sie wiederentdecken? Kann man die Bibel und den Glauben tanzen?

Volker Lang: Ja, wie man im Fall der Matthäus-Passion sieht. Aber man muss sich vor der Vorstellung hüten, dass man den Tanz zu einem Vehikel machen kann, mit dem ich etwas transportiere, was ich vorher genau definiert habe. Als Tänzer bin ich selbst Wahrnehmender, Staunender, Beschenkter. Natürlich gilt es die Choreographie zu lernen und die Idee des Choreographen umzusetzen, doch diese Idee verwandelt sich immer wieder neu, bei jedem Tanz, bis zu dem Ergebnis, das das Publikum sieht. Aber auch das Publikum muss etwas von sich investieren, wie auch die Tänzerinnen und Tänzer in ihre Vorbereitung investiert haben und mit ganzer Energie und Herzblut dabei waren. Es muss sich vom Geschehen einbeziehen lassen und mit auf heiligem Boden tanzen. Billiger ist diese - auch religiöse - Erfahrung nicht zu haben.

Mittanzen auf heiligem Boden, wenn ich doch eigentlich in einer Kirchenbank sitze? Wie kann das gehen?

Volker Lang: Es ist wie bei jeder anderen Kunst: Ein Kunstwerk ist für sich ein totes Ding. Der Künstler hat es in die Welt gegeben, es gehört nicht mehr ihm, sondern demjenigen, der es betrachtet. Doch es beginnt nur zu leben, wenn derjenige, der es sieht, das Kunstwerk mit sich ins Gespräch bringt. Wenn es mir nichts sagt, dann bleibt es tot. Genauso ist es auch mit diesem Moment geteilter Gegenwart beim Tanz. Wenn ich mich selbst nicht innerlich in ein Geschehen hineinbringe, werde ich damit auch nichts verbinden können. Das gilt übrigens auch für den Gottesdienst.

Wahrscheinlich würde das leichter fallen, wenn das Publikum selber in Bewegung käme und nicht nur innerlich mittanzt. In evangelischen Kirchen ist das allerdings ein eher seltenes Ereignis. Für viele ist die Vorstellung, im Gottesdienst tanzen zu müssen, eher beängstigend. Woher kommt das?

Volker Lang: Wahrscheinlich weil sie Angst haben, dass sie dabei komisch aussehen. Körper und Bewegung sind ja sozial kodiert. Kinder machen sich da nicht so viele Gedanken, aber gerade Männer im mittleren Alter sind sehr vorsichtig, und das muss man respektieren. Ich bin dagegen, den Tanz der Gemeinde im Gottesdienst zu einem allgemeinen Ziel zu machen. Es macht auch mir eher Angst, dass jemand einfach so im Gottesdienst vor die Gemeinde tritt und sagt: "Jetzt legen wir los." Es muss eine Wahl bleiben. Aus therapeutischer Sicht ist Tanz zudem eine Interventionsform, mit der man vorsichtig umgeht.

Sie waren 17 Jahre lang Gemeindepfarrer. Wie haben Sie denn den Menschen in Ihrer Gemeinde den Tanz näher gebracht?

Volker Lang: Man muss mit unterschiedlichen Zielgruppen unterschiedlich arbeiten, verschiedene Formensprachen entwickeln. Mit Kindern der dritten und vierten Klasse habe ich im Religionsunterricht, zum Beispiel zu Ostern, einen Emmaus-Tanz eingeübt. Kurz vorher hatte ich das Tanzstück "Kontakthof" von Pina Bausch gesehen, bei dem eines der Leitmotive die Musik aus dem Orson-Wells-Film "Der dritte Mann" ist. Das passte gut zu den beiden Jüngern und dem "dritten Mann", Jesus. Ich habe mit den Kindern eine ganz einfache Choreographie mit wenigen Bewegungen eingeübt. Traurigkeit, Durchkreuzen, Umkehren, Neu-Aufbrechen - ein Tanz von drei Minuten, da war alles drin, was die Geschichte ausmacht.

Haben Sie auch mit Erwachsenen in der Gemeinde getanzt?

Volker Lang: Ich habe mit allen getanzt. Und sie mit mir. Zum Abschied aus der Gemeinde hat der Kirchengemeinderat mir einen Tanz geschenkt. Die Mitglieder haben eine eigene Choreographie entwickelt und mich dann auf der Bühne in den Tanz hineingenommen. Ich fand das toll.

Kann jeder Mensch tanzen?

Volker Lang: Jeder Mensch ist ein Künstler und hat etwas in die Welt hineinzubringen, was sonst keiner kann. Das kann durch Tanzen geschehen, aber auch durch Singen, Orgel spielen, Malen, Schreiben oder andere künstlerische Dinge. Es muss nicht jeder tanzen. Aber wer tanzen kann, ist ein gesegneter Mensch, weil er eine Beweglichkeit in sich spürt, die ihm das Leben noch mal neu aufschließt. Manchmal auch erst am Ende eines Prozesses, wenn er vieles abgelegt hat, was ihn belastet hat. Vielleicht tun sich ältere Menschen deshalb oft leichter damit, zu tanzen.

Also ist es nicht so, dass man durch den Tanz Barrieren niederreißen kann und befreit wird, sondern so, dass man erst die Freiheit zum Tanz finden muss?

Volker Lang: Es geht eher um ein Bild von Wachstum und Reifung. Im Tanz spüren wir uns frei und lebendig. Für Menschen aber, die etwa mit Traumatisierung zu tun haben, löst merkwürdigerweise genau das oft Angst aus. Das Totstellen ist ja auch ein Schutz davor, nicht noch mehr geschädigt zu werden. Das bedeutet, man muss ganz behutsam anfangen, damit ein Mensch sich überhaupt wieder traut und etwa eine Kleinstbewegung als Äußerung seiner Lebendigkeit auch nur aushalten kann. Zum Beispiel Stehen und das Fußgewölbe anheben. Oder ein Tanz mit den Augen. Das kann Festgefahrenes wieder in Bewegung zu bringen. Aber ein Tanz mit dem ganzen Körper wäre in manchen Momenten eine totale Überforderung.

Sie beschreiben jetzt Erfahrungen aus der Arbeit als Klinikseelsorger in einer psychiatrischen Klinik. Sie laden Mitarbeiter und Patienten zwei Mal im Monat zu einer Veranstaltung unter dem Titel "Balancen" ein. Was passiert da?

Volker Lang: Es geht, wie der Name schon sagt, darum, Balance zu finden. Manchmal mit ganz kleinen Bewegungen, wie ich sie gerade beschrieben habe, oftmals auch mit Qi-Gong-Übungen, also Bewegungen, bei denen ich noch einmal meine eigene Gegenwart spüre und mich in meiner Körperlichkeit wahrnehme. Dann machen wir eine erste Bewegungsfolge, auch ohne Musik, und danach wird getanzt, meist sakrale Tänze. Manchmal stelle ich ein Thema, etwa eine dieser großen inneren Figuren, die uns Kraft geben. Zum Beispiel die Königin oder die Magierin, die auch unlösbare Dinge lösen kann. Und dazu wird mit passender Musik frei improvisiert.

Was bewirkt das bei den Teilnehmern?

Volker Lang: Meistens kommen sie zur Ruhe, agieren etwas aus,erfreuen sich an der Bewegung. Manche machen aber auch besondere Erfahrungen, über die wir dann danach sprechen. Und wenn ich dann merke, dass Menschen auf diesem Wege berührt werden, ist das für mich ein Geschenk.

Religiöse Tänze, etwa die der Sufis, führen mitunter zu Trance-Zuständen, also zu einem gewissen Kontrollverlust. Passt das zu einem aufgeklärten Protestanten?

Volker Lang: Wenn wir über "Trance" reden, haben wir oft klischeehafte Bilder im Kopf: Voodoo-Priester, die in Trance fallen und keinen Schmerz mehr spüren oder plötzlich irgendwelche Visionen haben. Das ist aber nicht das, was ich unter "Trance" verstehe. Für mich geht es darum, dass ich beim Tanzen nicht nur auf irgendwelche Inhalte fixiert bin, sondern dass ich gleichzeitig etwas erlebe. Ich kann mich spüren. Ich kann den anderen spüren. Ich kann kreative Ideen bekommen. Ich bin. Und wenn ich zwischen Emotionen und Gefühl und Empfindung frei tanzen kann, mich dabei an etwas erinnere und möglicherweise auch Gemeinsamkeiten mit anderen Tänzern entdecke, dann ist das so etwas wie Trance. Der Psychoanalytiker Thomas Ogden nennt solche Situationen "Gespräche im Zwischenreich des Träumens".

Träumen während eines Tanzes? Sie müssen doch eine Choreographie beachten, vielleicht auf Tanzpartner eingehen ...

Volker Lang: Innerhalb eines Tanzes bin ich in einer hochkonzentrierten Aufgabe, muss meine Choreographie tanzen, aber irgendwann bin ich auch raus aus dieser Choreographie. Ich habe eine hohe Form von konzentrierter Gegenwart erlebt, die mit einer leichten Erschöpfung endet. Und auch wenn das Ergebnis nicht genau das ist, was ich mir gewünscht habe, ist es schön. Manchmal bin ich selbst zum Schluss erstaunt, ich habe etwas Neues erfahren, was vorher so nicht da war. Ich bin auf eine bestimmte Art verändert, es ist etwas Neues entstanden. Aber das ist nicht planbar. Der Tanz darf nicht Mittel zum Zweck sein, dann wird er missbraucht.

Wie kann man den Tanz missbrauchen?

Volker Lang: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Um die vorletzte Jahrhundertwende herum plante die Stadt Wien einen Umzug, in dem sich die unterschiedlichen Berufsgruppen präsentieren sollten, und der sollte etwas Besonderes werden. Die Veranstalter fragten den Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban, ob er sich daran beteiligen wolle. Er hat dann mit den zum Teil sehr grobschlächtigen Männern Tänze einstudiert, die aus den Bewegungen ihrer Arbeit bestanden. Das war etwas ganz besonderes, für die Männer und für das Publikum. Aber dann hat man diese Bewegungsanalysen, die er in die Tanzsprache gebracht hatte, dazu benutzt, die Arbeitsabläufe in den Fabriken zu optimieren. Der Tanz diente also zum Schluss der Effizienzsteigerung bei der Arbeit. Das ist für mich Missbrauch von Tanz. Der Tanz hat eine belebende, eine sprengende Kraft, aber man darf ihn nicht funktionalisieren.

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 16. September 2014 in Emmendingen.

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