Lebensfreude, Trance, Herrschertum

Der heilige Tanz hat in den meisten Religionen der Welt seinen festen Platz
Hat die Welt durch seinen Tanz erschaffen: Der Hindu-Gott Shiva. Foto: dpa/ Philippe Lissac
Hat die Welt durch seinen Tanz erschaffen: Der Hindu-Gott Shiva. Foto: dpa/ Philippe Lissac
Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielte der Tanz als Ausdruck religiöser Hingabe im Christentum so gut wie keine Rolle. Doch in anderen Religionen gehört der "Gottesdienst mit dem Körper" sehr wohl zum rituellen Leben dazu. Adelheid Herrmann-Pfandt, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg, gibt einen Überblick.

"Tanzt, tanzt, wo immer ihr mögt sein / Ich bin des Tanzes Herr, sprach er / und ich führe euch, wo immer ihr mögt sein, und ich führe euch im Tanz, sprach er." Dieser ungewöhnliche Refrain wird Jesus in dem aus Irland stammenden Lied "Lord of the Dance" in den Mund gelegt, das 1963 von Sydney Carter geschrieben wurde und trotz seines unorthodoxen Textes binnen kurzem einen Siegeszug durch die christlichen Gottesdienste der englischsprachigen Welt antrat. In Ich-Form beschreibt Jesus seinen Tanz vom Schöpfungstag an ("Ich tanzte an dem Morgen, als die Welt begann") bis hin zu seinem Tode am Kreuz, der nicht das Ende ist, denn: "Ich bin der Tanz, und der Tanz hält an!" Charakteristisch für dieses Lied ist die spielerische Gelassenheit, die durch alles Leiden hindurch in Text und Melodie zum Ausdruck kommt. So heißt es etwa über die Religionsfunktionäre, mit denen Jesus sich anlegte: "Ich tanzte für Schreiber und Pharisäer / doch tanzten sie nicht, und sie folgten mir nicht. / Ich tanzte für die Fischer, für Jakob und Johann / Sie kamen mit mir, und der Tanz hielt an!"

Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielte der Tanz als Ausdruck religiöser Hingabe im Christentum so gut wie keine Rolle. In einer Religion, in der Körper und Geist lange als getrennt und einander fremd angesehen wurden, war Gottesdienst mit dem Körper kaum vorgesehen, schon gar nicht als Ausdruck der Lebensfreude, allenfalls in Form des demütigen Kniens während der Gebete oder der Selbstkasteiung in manchen extremen Richtungen. Lediglich ein Dissident des Christentums wie Friedrich Nietzsche war sich der Tiefenwirkung des Tanzes bewusst, wenn er in seinem Zarathustra, genannt nach dem Begründer der nichtchristlichen Religion des Zoroastrismus, die spirituelle Wirkung des Tanzes mit den wohlbekannten Worten besang: "Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich!"

Es überrascht daher nicht, dass auch Sydney Carter beim Dichten seines Liedes und seines Titelmotivs von einer nichtchristlichen Religion inspiriert war, nämlich von der hinduistischen Gestalt des Shiva Nataraja, des Gottes Shiva als "Herr des Tanzes", dessen Bild während der Entstehungszeit des Liedes auf seinem Schreibtisch stand. Shiva ist der Gott, aus dessen Tanz die Welt entsteht und in dessen Tanz der Zerstörung sie einst untergehen und sodann wieder neu entstehen wird, entsprechend der zyklischen Weltsicht des Hinduismus. Die Erschaffung der Welt aus dem Tanz wird auch in den bereits zitierten Worten Jesu, "Ich tanzte an dem Morgen, als die Welt begann", angedeutet. Im Tanz der Gottheit offenbart sich Souveränität und Kreativität, Lebensfreude und göttliches Herrschertum.

Hingabe im Tanz

Das antwortende Handeln eines gläubigen Menschen, der von diesem tanzenden Gott erfüllt ist, ist erwartungsgemäß gleichfalls Tanz: der Tanz der Hingabe an die Gottheit. Eine Verbindung beider Aspekte, des Tanzes als Ausdruck göttlicher Souveränität auf der einen und der Hingabe an das Göttliche auf der anderen Seite, wird in einer beliebten Sequenz aus einer populären indischen Fernsehserie deutlich. Sie zeigt den als Mensch inkarnierten Gott Ram, wie er Shiva, den Herrn des Tanzes, vor dessen säulenförmigem Standbild (Lingam) in einem Hymnus preist und dazu die Vina, ein indisches Saiteninstrument, spielt. Shiva sitzt auf seinem heiligen Berg im Himalaya, beobachtet Ram bei seinem Gesang und freut sich so sehr über das gelungene Musikstück, dass er aufsteht und dazu zu tanzen beginnt. Über die Bergspitzen des Himalaya hinweg und am Himmel zwischen sich bewegenden Himmelskörpern tanzt er seinen kosmischen Tanz, bis schließlich sein vor dem singenden Ram stehendes Standbild durchsichtig wird und Raum für den tanzenden Shiva bietet. Als Ram seinen Hymnus mit einer Verneigung vor dem Herrn des Tanzes beschließt, verneigt sich Shiva im Standbild seinerseits vor dem göttlichen Sänger.

An dieser gegenseitigen Ehrenbezeugung zweier der wichtigsten göttlichen Personen des Hinduismus wird deutlich, dass Shiva nicht allein im Bewusstsein seiner göttlichen Machtvollkommenheit, sondern ebenso sehr aus Respekt vor seinem Mit-Gott getanzt hat. In einer Religion mit mehreren Göttern, wie es der Hinduismus ist, kann ein Gott durch seinen Tanz seine eigene Göttlichkeit feiern und zugleich einem anderen Gott oder einer Göttin Verehrung bekunden. Eine solche Szene ist indirekt auch ein Aufruf an die verschiedenen Sekten und Schulen des Hinduismus, die verschiedenen Gottheiten anhängen, sich gegenseitig nicht zu bekämpfen, sondern mit Respekt zu begegnen.

In vielen Religionen, nicht nur dem Hinduismus, ist der Tanz eine gebräuchliche Form des Gottesdienstes und aufgrund der Trance, in die er die Tanzenden versetzt, auch eine Form der Annäherung an die Transzendenz, an die mystische Erfahrung des Göttlichen. Zu den bekannten Formen des tranceinduzierenden Tanzes gehört der Derwisch- oder Sufi-Tanz, der von muslimischen Mystikern getanzt wird und im Wesentlichen aus einer bestimmten ritualisierten Form der Körperdrehung um die eigene Achse besteht. Die Lieder, nach denen die Sufis tanzen, haben sehr oft die Form von Liebesliedern, in denen aus dem Text nicht erkennbar ist, ob sie sich an eine oder einen menschlichen oder eben an den göttlichen Liebenden wenden.

Wiederbelebter Sonnentanz

Eine Tanztradition mit völlig anderer Schwerpunktsetzung ist der Sun Dance (Sonnentanz) der Ureinwohner Nordamerikas. Die komplexe Zeremonie, die Monate der Vorbereitung benötigt, wird als ein körperliches Opfer verstanden, das die Sonnentänzer und Sonnentänzerinnen für das Wohlergehen ihrer Familien und der Gemeinschaft darbringen. Das tagelange Ritual während der heißesten Tage des Jahres fordert körperlich das Äußerste von den Tänzern, die während seiner Dauer auf Essen und Trinken verzichten. Auch rituelle Hautdurchbohrungen, um die Tänzer mit Schnüren an einen Baum zu binden, gehören oft dazu. Durch den Schmerz werden tranceähnliche Bewusstseinszustände bis hin zu Todesnäheerlebnissen herbeigeführt. In Visionen können Antworten auf existenzielle Fragen erlangt werden. Die Qualen werden als Selbstreinigung angesehen. In einigen Kulturen haben die Hautdurchbohrungen zudem den Zweck, Männern jene Schmerzerfahrung zu vermitteln, die Frauen durch Menstruation und Geburt erleben; sie werden daher als rituelle Bezeugung des Respekts vor den Frauen und ihres Beitrags zur Fortexistenz der Menschheit gedeutet.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde der Sonnentanz von den Weißen zunächst eingeschränkt und dann flächendeckend verboten, während man die Stammesangehörigen zwang, sich, zum Beispiel in Internatsschulen, der europäisch-christlichen Kultur anzuschließen. Seit den 1960er Jahren erfolgte jedoch eine Wiederbelebung der alten, halbvergessenen Traditionen. Heute wird der Sonnentanz über ganz Nordamerika in zahlreichen Varianten wieder jährlich durchgeführt. Sonnentänzer und Sonnentänzerinnen betrachten ihn als eine wirksame Form kultureller Selbstvergewisserung und daher als wichtiges Erbe an die junge Generation. Die Tatsache, dass sich seit einigen Jahrzehnten auch Weiße für den Sonnentanz und die religiösen Praktiken der amerikanischen Ureinwohner interessieren, wird von diesen selbst dabei mit Skepsis gesehen, da sie wohl nicht zu Unrecht befürchten, ihre alten, geheiligten Rituale könnten kommerzialisiert werden.

Cham-Tanz in Tibet

Wieder ganz andere Aspekte rituellen Tanzens treten beim Cham-Tanz der tibetischen Mönche und Nonnen zutage, der vielen westlichen Menschen mittlerweile durch Fernsehberichte und Reisen wohlbekannt ist. Auch hier ist rituelle Reinigung ein wichtiger Zweck, daher findet der Cham-Tanz traditionell zum Beispiel zu Neujahr statt, um das Kloster vor dem Neubeginn von den Vergehen des alten Jahres zu reinigen. Die Tänzer tragen zwar grundsätzlich ihre Mönchsroben, darüber aber farbenfrohe Brokatgewänder und Masken, durch die sie als Verkörperungen verschiedener Gottheiten oder mythischer Helden erkennbar sind. Dargestellt werden Szenen aus der tibetischen Religionsgeschichte, zum Beispiel aus dem achten und neunten Jahrhundert, als der Buddhismus von Indien und China aus nach Tibet eingeführt wurde.

Typisch für Cham sind die getragenen Bewegungen der Tänzer, die dadurch zustandekommen, dass bei jedem Schritt ein gebeugtes Bein mit nach außen gekehrter Fußspitze erhoben wird, während auf dem anderen Fuß ein kleines Nachhüpfen erfolgt, das die Dauer des Schrittes verdoppelt. Daneben gibt es schnellere Schrittfolgen und akrobatisch wirkende Sprünge und Drehungen der Tänzer um ihre eigene Achse. Viele Cham-Vorführungen kulminieren in der rituellen Durchbohrung einer Teigfigur, die als eine Art Sündenbock alle Unreinheiten des Jahres in sich trägt und nach der "Tötung" so schnell wie möglich über die Klostermauer geworfen wird. Damit ist die Reinigung des Gemeinwesens vollzogen.

Im Judentum gehört der Tanz seit biblischer Zeit zu den geläufigen Ausdrucksformen der Freude in Gott. Aufgrund des Fehlens einer asketischen, körperfeindlichen Tradition war der Tanz im Judentum kaum einmal in Gefahr, geächtet zu werden. Selbst fundamentalistische Richtungen wie die ostjüdischen Mystiker, die Chassidim, halten den Tanz neben Gebet und Gesang für die wichtigste Form des Gottesdienstes. Baal Schem Tov (um 1700-1760), der Gründer des Chassidismus, wurde einmal gefragt, warum die Chassidim bei jeder Gelegenheit gleich zu singen und zu tanzen anfingen. In seine Antwort sagte er: "Chassidim werden von der Melodie, die von jedem Lebewesen der Schöpfung Gottes ausgeht, bewegt. Falls dies sie in den Augen der Menschen, die weniger empfindsame Ohren haben, verrückt erscheinen lässt, sollten sie deshalb aufhören zu tanzen?"

Spiralen tanzen

Zu den modernen Entwicklungen im sakralen Tanz gehört der sogenannte Spiraltanz, ein Gruppentanz, der von der neuheidnischen Autorin und Priesterin Starhawk (geb. 1951) entwickelt wurde und die Spirale als Symbol der Großen Göttin feiert. Der Spiraltanz wird von einer beliebig großen Gruppe getanzt. Alle fassen sich an den Händen und folgen der LeiterIn am Beginn der Reihe in einer Kreisbewegung, die sich langsam zu einer Spirale entwickelt. Dazu wird ein von Trommeln begleitetes Lied gesungen, das meist aufgrund vieler Wiederholungen leicht zu lernen ist, so dass alle mitsingen können. Wenn die Spirale sich aufgebaut hat, wechselt die LeiterIn die Tanzrichtung und zieht so an den nachfolgenden Personen vorbei, dass sie nacheinander jeder von ihnen ins Gesicht schaut. Dasselbe tun auch alle folgenden Tänzer. Diese Richtungswechsel können beliebig oft wiederholt werden. Am Ende des Tanzes steht die Spirale still, die Hände werden gelöst, und es erfolgt eine Zeit des unartikulierten Tönens, bis zum Schluss die aufgebaute Energie in einem "Kraftkegel", wie es heißt, nach oben entlassen wird. Der Spiraltanz wird seit seiner ersten Aufführung 1979 in San Francisco von mehreren neopaganen Richtungen, insbesondere der von Starhawk gegründeten feministisch-ökologischen Reclaiming-Bewegung, regelmäßig getanzt. In San Francisco findet das Ritual jedes Jahr zum Ahnenfest Samhain (31. Oktober) statt und hat inzwischen mehr als 1?500 Teilnehmende.

Christen, die sich zum heiligen Tanz hingezogen fühlen, können heute auf Traditionen vieler Religionen zurückgreifen, die im Zeitalter der Globalisierung in unserer unmittelbaren Reichweite, nicht selten sogar in kirchlichen Einrichtungen, miterlebt und gelernt werden können. Jedoch gibt es auch in unserer eigenen Tradition noch manch ungehobenen Schatz zu fördern, so zum Beispiel ein Wort aus den apokryphen Johannesakten (zweites bis drittes Jahrhundert), das die spirituelle Tiefendimension des Tanzes unnachahmlich zum Ausdruck bringt: "Die Gnade tanzt. Der ganze Himmel kann tanzen. Wer nicht tanzt, weiß nicht, was geschieht! Amen.”

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Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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