Heilige Bewegungen

Religion und Spiritualität im zeitgenössischen Tanz
Springer, Tanz 2, 2004. Foto: Sandstein-Verlag
Springer, Tanz 2, 2004. Foto: Sandstein-Verlag
Der zeitgenössische Tanz beschäftigt sich nur selten mit explizit religiösen Themen. Dennoch gibt es eine enge Verbindung zwischen Tanz und Spiritualität, auch scheinbar profane Bewegungen können in die Transzendenz führen. Alexander Schwan, Tanzwissenschaftler und evangelischer Theologe, erläutert aus diesem Blickwinkel das Geschehen in der zeitgenössischen Tanzszene.

Für den französischen Philosoph Jean-Luc Nancy verlässt jede Tanzbewegung - jeder Schritt, jeder Sprung, jede Drehung - die Welt des Notwendigen und Zweckdienlichen. Bereits aufgrund dieser Überschreitung entfaltet sich dabei eine spirituelle Dimension. So formuliert Nancy in einem Gespräch mit seiner Philosophiekollegin Véronique Fabbri: "Ich würde sagen, dass die geringste künstlerische Gebärde etwas Heiliges erzeugt, ob dies nun beabsichtigt ist oder nicht, und dass dies beim Tanz vielleicht besonders sichtbar ist. Jedenfalls gibt es beim Tanz etwas, das - wenn ich so sagen darf - weniger profan als bei den anderen Künsten ist. Wenn jemand eine Tanzgebärde macht, löst er sich gleich von der alltäglichen Existenz."

Bemerkenswert sind an dieser Aussage nicht nur ihre eigentümliche Verschränkung von Tanz und Heiligem und die Idee eines grundsätzlich transzendierenden Charakters von Tanzbewegung. Auch Nancys Auffassung, was überhaupt unter Tanz zu verstehen sei, lässt hellhörig werden. Denn anders als die Ästhetik von Kirchentanz oder liturgischem Tanz, die vor allem das Ausführen spezieller Bewegungen mit Spiritualität aufladen - das feierliche Heben der Arme, das sanfte Schwingen im Kreis, sorgfältig gesetzte Schritte -, ist für Nancy jede Tanzbewegung mit Aspekten von Öffnung, Loslösung und Überschreitung verbunden. Damit ist es möglich, auch die Figurationen und De-Figurationen von Bewegung in einen Bezug zu Spiritualität zu setzen, wie sie in vielen Arbeiten der zeitgenössischen Choreographieszene von New York bis Amsterdam und Berlin begegnen. Vorsätzliches Fallen, scheinbar unkontrolliertes Zucken und dumpfes Stampfen und Schlagen sind dabei ebenso wenig von einem Transzendenzbezug ausgenommen wie einfache und minimale Bewegungen - ein Gehen, Sitzen, Stehen oder Liegen. Und auch der gegenwärtige Trend, weniger die realen Bewegungen als vielmehr deren Übertragung von Körper zu Körper zum Inhalt von Inszenierungen zu machen, kann mit der Frage untersucht werden: Wie religiös ist die Bewegung im zeitgenössischen Tanz?

Deformierende Bewegung

Nicht zu vergessen ist dabei, dass es "den Tanz" nicht gibt, sondern immer nur eine Vielzahl höchst unterschiedlicher und historisch bedingter Vorstellungen, was Tanzen sei. So wäre es müßig bis falsch, gar gefährlich, zu spekulieren, ob Tanzen als eine Art universelle Sprache alle Menschen verbindet. Denn unterschlagen wird hierbei, dass diese Spekulation selbst historisch bedingt ist und einem problematischen Universalismus folgt, der alle anderen Vorstellungen von Tanz dem eigenen Verständnis unterwirft. Gleiches gilt für die häufig anzutreffende Annahme, Tanzen sei ein ursprünglicher, religiöser Ausdruck des Menschen. Dem ist entgegenzuhalten, dass Tanzen nie unvermittelt ist, sondern, bewusst oder unreflektiert, immer den kulturellen Normen und Idealen seiner Zeit folgt.

So gibt es vielfältige und widersprüchliche Möglichkeiten, Tanzen und Spiritualität aufeinander zu beziehen. Dies gilt auch für den zeitgenössischen Tanz, wo Choreographien nur selten ein religiöses Thema behandeln und althergebrachte Bewegungsmuster von feierlicher Beugung und graziöser Streckung allenfalls in ironischer Brechung bemüht werden. An die Stelle einer direkten Behandlung religiöser Themen und Motive oder der Arbeit mit religiöser Musik tritt hier eine subtile Auseinandersetzung mit Aspekten allgemeiner Sinnsuche, conditio humana, Endlichkeitserfahrung und Tod. Gerade zeitgenössischer Tanz beschreibt sich selbst mit Begriffen des Unentscheidbaren, Kippens, Verwischens, Durchstreichens und Entgleitens und thematisiert auf diese Weise Abwesenheits- und Grenzerfahrungen, wie sie traditionell in religiöser Sprache formuliert werden.

Ungraziöse Bewegungen haben dabei seit über hundert Jahren eine Heimat auf der Tanzbühne, seit sie Vaslav Nijinsky in seiner 1913 in Paris uraufgeführten Choreographie zu Igor Stravinskys "Le Sacre du Printemps" zum ersten Mal als Kunsttanz behauptete und damit den wohl größten Skandal der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts auslöste. Bezeichnenderweise ist bereits dieses erste und äußerst wirkungsmächtige Ausstellen deformierender Bewegungen, die gegen jede Norm des Klassischen Balletts und jedes Klischee eines liturgisch-sakralen Tanzes verstoßen, in einen zutiefst religiösen Kontext gestellt. Denn im Zentrum des Stückes steht das vom Kostüm- und Bühnenbildner Nicholas Roerich mitentworfene Konstrukt eines heidnischen Opferrituals, in dessen Zuge sich eine auserwählte junge Frau rhythmisch zu Tode tanzt. Das Besondere und Einflussreiche gerade dieser Choreographie ist es, dass ihre künstlerischen Mittel auch jenseits des vordergründigen Opferbezugs Eingang in die Tanzmoderne gefunden haben. Zeitgenössische Choreographinnen und Choreographen zitieren bis heute jenes Stampfen, Stoßen und Zucken und fügen ihm neue und andere Bewegungsbilder von Deformation und Zwang hinzu. Folgt man Nancy, dann sind auch diese Verzerrungen im zeitgenössischen Tanz eine spirituelle Öffnung für ein Nicht-Hier und Nicht-Jetzt.

Messianische Dimension

Erst Jahrzehnte nach der Uraufführung von "Le Sacre du Printemps" werden auch die Bewegungen des Alltags, die zunächst ohne jene Transzendierung auszukommen scheinen, Teil des Bewegungsrepertoires künstlerischen Tanzes. Im US-amerikanischen Postmodern Dance der Sechziger- und Siebzigerjahre, bei Choreographinnen wie Yvonne Rainer und Trisha Brown, werden simple körperliche Bewegungen, wie das Drehen eines Daumens oder das Zeigen mit einem ausgestreckten Finger, zum Ausgangspunkt von Choreographie. Und bei Lucinda Childs sind es einfache Schritte, wie sie Passanten beim Überqueren einer Straße ausführen, die in langen Wiederholungen und mit allmählichen Veränderungen aneinandergereiht werden und so aus dem zunächst so trivialen Schritt eine virtuose Choreographie entstehen lassen. Über die generelle Transzendierung des Notwendigen hinaus, wächst Tanzen hier vor allem über die Wiederholungen einfacher Bewegungen eine spirituelle Dimension zu. Denn das ausgestellte Praktizieren von Wiederholung und Unterbrechung kann in einer prägnanten Deutung Giorgio Agambens geradezu messianische Dimensionen entfalten. Indem eine wiederholte Bewegung plötzlich unterbrochen wird, blitzt eine potenziell andere Realität auf, zeigt sich, dass das Hier und Jetzt auch ganz anders sein und ganz anders werden könnte. Gerade die minimalistischen Prinzipien des seriellen Wiederholens rücken Tanzen, das doch aufgrund der Körperlichkeit der Tänzerinnen und Tänzer zutiefst physisch und materiell ist, damit in eine Nähe zu Immaterialität und Metaphysik.

Dass die meisten der Künstlerinnen und Künstler des Postmodern Dance gerade in einer Kirche ihren wichtigsten Auftrittsort gefunden haben, gibt der Frage nach dem Verhältnis von Tanz und Spiritualität eine neue und bisher in der Tanzwissenschaft kaum berücksichtigte Relevanz. Denn es ist die Judson Memorial Church im New Yorker Stadtteil Greenwich Village, unmittelbar am Washington Square und in Nähe zur New York University gelegen, die Anfang der Sechzigerjahre zu einem Zentrum des Postmodern Dance wird und einer ganzen Strömung von Tanz und Choreographie ihren Namen Judson Dance Theater gibt. Noch heutige zeitgenössische Choreographinnen und Choreographen, wie Sasha Waltz, Meg Stuart und Jeremy Wade, sind über die Post-Judson Avantgarde der Achtziger- und Neunzigerjahre davon geprägt. Und nur am Rande sei bemerkt, dass die Judson Church, die als Begriff gerade in der jungen zeitgenössischen Tanzszene in aller Munde ist, nicht nur bis heute regelmäßiger Ort von innovativer Bewegungsforschung, sogenannter Movement Research, ist, sondern eine überaus lebendige Gemeinde beherbergt. Wenn sich zeitgenössischer Tanz und Religion treffen, dann hier.

Die Judson Church ist es denn auch, die in einer der international erfolgreichsten Performanceserien der letzten Jahre namentlich erwähnt wird, in Trajal Harrells "Twenty Looks or Paris Is Burning at the Judson Church". Bezugspunkte dieser Performancereihe sind die postmoderne Tanzavantgarde der Sechzigerjahre und die damals zeitgleich in Harlem blühende schwarze schwule Voguing-Kultur der Ball Scene. "Was wäre passiert, wenn jemand 1963 aus der Ball Scene in Harlem nach Downtown gefahren wäre, um dort neben den frühen Postmodernen in der Judson Church aufzutreten?", ist Harrells Grundfrage. Er stellt sie, ohne sie endgültig zu beantworten, indem er die flamboyanten und blitzschnell eingenommenen Posen des Voguing verlangsamt und so an den Minimalismus und Formalismus mancher Judson-Church-Arbeiten annähert. In Berlin waren Harrells jüngste Produktionen dabei in einem Kirchenraum zu sehen, in St. Agnes, einer entwidmeten katholischen Kirche in Kreuzberg, die als Raum den Memento-mori-Effekt der Choreographie verstärkt, wenn die Tänzer wie in Zeitlupe von Pose zu Pose wechseln.

Von Pose zu Pose

Das Verhältnis von Bewegen und Innehalten kommt in diesen Arbeiten zum Tragen, und dabei schwingt das weite Bedeutungsspektrum der beiden Begriffe mit, einschließlich innerer Rührung und Kontemplation. Denn Bewegen und Innehalten sind nicht nur äußerliche körperliche Handlungen, sondern haben eine innere, geistliche Dimension. Bereits die Tanztraktate der Frührenaissance verbinden "movimenti spiritali" und "movimenti corporali", geistliche Bewegungen und die Bewegungen des Körpers, und beziehen sich damit auf die antike Tradition, die dem "spiritus" eine Vermittlungsleistung zwischen Seele und körperlicher Materie zuschreibt. Zurückgegriffen wird dabei auch auf neuplatonische Harmonielehren, die nicht nur die Bewegungen der Seele und des Körpers miteinander verbinden, sondern Tanzen als eine solchermaßen harmonische Körper-Seelen-Bewegung in Bezug setzen zu Sphären- und Gestirnsbewegungen. In dieser antiken und jahrhundertlang einflussreichen Auffassung spiegelt Tanzen die Bewegungen der Sterne wider und vollzieht sich in der Abfolge einzelner Positionen des Innehaltens, die schließlich mit Begriffen wie "Figura" und "Posa" belegt werden. Tanzen, so die bis zur Moderne gültige Auffassung, vollzieht sich im Durchgang von Pose zu Pose, von Stillstellung zu Stillstellung. Erst die Tanzmoderne ab 1900 setzt ein neues Ideal fließender Bewegungen als Ausdruck von Freiheit und Individualität. Bis dahin aber wird Tanzen als eine Aneinanderreihung einzelner innegehaltener Bewegungen verstanden, die aufgrund ihrer Parallele zu Bewegungen von Seelen, Sternen und Sphären immer schon mit einem Transzendenzbezug aufgeladen ist.

Für die zeitgenössische belgische Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker ist diese alte Beziehung zwischen den Bahnen von Himmelskörpern und Kreisformationen auf der Bühne von großer Wichtigkeit. In vielen ihrer Stücke bewegen sich Tänzerinnen und Tänzer in Kreisen und Spiralen und zeichnen so mit ihren Körpern imaginäre Mandalas in den Raum, wie in einer Referenz zu früheren Prozessionen in Kirchenlabyrinthen und der Beliebtheit von Kreistänzen gerade im religiösen Kontext. Die Spiritualität des Kreises beschäftigt aber auch den amerikanischen, in Berlin lebenden Choreographen Jeremy Wade, allerdings in einer ästhetisch vollkommen anderen Ausrichtung als bei De Keersmaeker und im liturgischen Tanz. Bei Wade steht die Gemeinschaftserfahrung aus Tanzenden und Sehenden im Vordergrund, und sein spirituelles Selbstverständnis ist dabei denkbar eklektizistisch: selbst mit jüdischen Wurzeln aufgewachsen, inspirieren ihn Tantra und Schamanismus ebenso wie die kollektiven Ekstasen in Pfingstgemeinden oder die gruppendynamischen Spiele in kirchlichen Jugendcamps. In seinem Solo Fountain (2012) bewegt sich Wade, umringt von Publikum, als eine Mischung aus Narr und Exorzist. Er, der an das Transformationspotenzial von Tanz glaubt, bietet sich seinen Zuschauerinnen und Zuschauern als Medium dar, saugt ihre negativen Energien auf und wandelt sie durch Tanz.

Bezug auf Tillich

So kann zeitgenössischer Tanz in vielfältiger und bizarrer Weise spirituelle Aspekte für sich beanspruchen. Aber welcher Religionsbegriff liegt diesen Verknüpfungen zugrunde? Und wie kann und muss differenztheologisch auf solche Grenzverwischung zwischen Immanenz und Transzendenz reagiert werden? Bereits Paul Tillich haben diese Fragen 1926 in seiner Schrift "Die religiöse Deutung der Gegenwart" beschäftigt, in der er sich auch mit dem Tanz seiner Gegenwart auseinandersetzt. Choreographien aus der Schule Rudolf von Labans, vor allem aber Arbeiten Mary Wigmans, stehen ihm dabei vor Augen. Mit Mary Wigman ist Tillich in den Zwanzigerjahren sogar befreundet, sie gibt ihm während ihrer gemeinsam Zeit in Dresden privaten Tanzunterricht.

Wie Tillich das Verhältnis von Tanz und Religion problematisiert, mag aus heutiger Sicht zu zeitgebunden und zu wuchtig formuliert sein. Für das Nachdenken über die religiösen Aspekte im zeitgenössischen Tanz bleiben seine Gedanken jedoch das Absprungbrett par excellence. Denn bei aller Begeisterung über den Tanz seiner Zeit kritisiert Tillich die falsche Romantik im Künstlerischen, die "von der Form her den unbedingten Gehalt herbeizwingen, d.h. aber die Ewigkeit durch eine Bewegung in der Zeit fassen und fixieren will". Und fast meint man, Tillich habe heutige irritierende Choreographien vor Augen, wenn es schließlich bei ihm heißt: "Ewigkeit ist zuerst Nein über die Zeit, Erschütterung der Gegenwart, und nur, soweit sie das ist, können endliche Formen auf das Ewige hinweisen."

Hinweis:

Die Illustration auf dieser Seite stammt aus dem Buch "Tanz des Lebens", herausgegeben von Reinhard Springer. Der aus Dresden stammende Maler und Graphiker, Jahrgang 1953, veröffentlicht darin vierzig seiner Werke, die durch viele Begegnungen mit Lernenden und Lehrenden der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden entstanden. Die Radierungen und Zeichnungen sind nicht nur beeindruckende Interpretationen tänzerischer Posen und Bewegungen, sondern erfassen in ihrer künstlerischen Vielstimmigkeit das ganze Spektrum menschlichen Tanzes zwischen Lebenslust und Auflösung stabiler Körperlichkeit. Gleichzeitig erinnern sie immer wieder auch an religiöse Bildkunst.

Reinhard Springer (Hg): Tanz des Lebens. Sandstein Verlag, Dresden 2014, 48 Seiten, 40 farbige Abb, Euro 18,-

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