An Menschen zu erinnern, die sich aus christlichem Gewissen gegen den Hitlerstaat stellten und dafür mit dem Leben bezahlen mussten, ist nicht nur moralisch geboten. Auch für die Orientierung heutiger Christinnen und Christen und für die Glaubwürdigkeit der Kirche ist ihr Zeugnis existenziell.
Was können wir von diesen Vorbildern lernen? Zum Beispiel, dass sie nicht zu Helden geboren waren, sondern durch ihre "intellektuelle Neugierde, ein unbestechliches Gefühl für Recht und Unrecht, sowie Mut zu Entscheidungen, die unbequem sind" widerständig wurden, so beschreibt es Ferdinand Schlingensiepen in seinem Buch. Dass diese Vorbilder oft voller Zweifel und Angst waren, bringt sie uns menschlich nahe. Nicht unfehlbar, oft bewusst den Verstoß gegen biblische Gebote auf sich nehmend, machten sie sich frei von falschem Gehorsam, weil sie "die Notwendigkeit der eigenen freien verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag" erkannten, wie es der Autor mit Dietrich Bonhoeffers Worten beschreibt. Die Verschiedenheit ihrer Herkunft, Charaktere und Taten beweist einmal mehr, wie viele unterschiedliche Formen christlichen Widerstandes es in der Nazizeit gegeben hat. Was Adam von Trott zu Solz, Dietrich Bonhoeffer, Harald Poelchau, Georg Bell und Sophie Scholl dennoch verbindet, bezeichnet Schlingensiepen - ebenfalls mit Bonhoeffer - als Zivilcourage, die von Christen gezeigt wurde, die aber auch Menschen anderer Religionen und Überzeugungen unter Beweis gestellt haben.
Die Stärke dieses Buches besteht darin, dass der Autor dem Leben und Wirken dieser Zeugen als Theologe nachgeht: Seine Analyse geht über die anrührende Beschreibung der Biographien hinaus. Zum Beispiel Adam von Trott zu Solz, den der Autor als einen "Grenzgänger als Vorbild im Glauben" vorstellt: Selbst eher ein Suchender im christlichen Glauben starb er - als Verbrecher verurteilt und ausgestoßen von der so genannten Volksgemeinschaft - "draußen vor der Tür" und wurde so zum Zeugen für Christus, wie es das Bibelwort aus Hebräer 13, 12 beschreibt.
Für die Präsentation von Sophie Scholls "Widerstand aus reinem Herzen" - angelehnt an das Wort der Bergpredigt: "Selig, die reinen Herzens sind" - hat der Autor mit Eduard Mörikes Gedicht "Denk es, o Seele" einen lyrischen Zugang gewählt. Sophie Scholl selbst hatte das Gedicht 27 Tage vor ihrem Tod - noch in Freiheit - ihrer Schwester vorgelesen, vielleicht ihren eigenen Tod vorausahnend. Schlingensiepen zeigt ihre Entwicklung auf, wie ihre Erziehung durch einen pietistischen Christusglauben der Mutter und zur Toleranz durch den eher agnostischen Vater schließlich zu einer politischen Tat aus christlichem Glauben führte.
Zunächst aber macht Sophie als Jungmädelführerin "Karriere" in der Hitlerjugend. Das zeigt, wie verführerisch die Naziideologie als Ersatzreligion für idealistische Jugendliche war, was der Autor exemplarisch an Liedtexten und Reden der Nazis beschreibt. Sophie Scholl entwächst diesem naiven Idealismus durch Begegnungen und ihre Fähigkeit zu eigenständigem Denken, eine Reifung, die zu einer "reinen" Haltung des Widerstandes führt.
Besonders gefällt, dass Schlingensiepen auch weniger bekannte Persönlichkeiten des christlichen Widerstandes aufgenommen hat, wie den englischen Bischof Georg Bell, ein "Fürsprecher und Bundesgenosse des deutschen Widerstandes". Durch seine Kontakte zur Bekennenden Kirche betrachtete er Deutschland nicht grundsätzlich als Feind und machte sich mit entsprechenden Reden in England zur Kriegszeit eher unbeliebt. Er half tatkräftig verfolgten Deutschen, zum Beispiel durch deren Aufnahme in England, und bemühte sich auch nach dem Krieg, Feindbilder abzubauen.
Der Autor zeichnet uns diese Vorbilder in faszinierenden menschlichen Nahaufnahmen: ein spannendes Buch, das dennoch nachdenklich stimmt. Seine Lesenden, die für ihre Überzeugung - Gott sei Dank - nicht mehr sterben müssen, konfrontiert es mit der persönlichen Frage: "Und wofür lebt ihr?"
Ferdinand Schlingensiepen: Vom Gehorsam zur Freiheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, 208 Seiten, Euro 12,90.
Marion Gardei
Marion Gardei
Marion Gardei ist Beauftragte für Erinnerungsarbeit der Evangelischen Kirche Berlin-schlesische Oberlausitz. Sie wohnt in Berlin.