Beziehungen sind Sterbeglück
Das Rote-Kreuz-Krankenhaus in Kassel ist ein eindrucksvolles altes Gebäude, im vierten Stock befindet sich die Palliativ-Station. Hier bin ich mit Luise Schottroff verabredet. Ich bin erstaunt über die angenehme Atmosphäre, viele Türen stehen offen. Als ich in ihr Zimmer komme, sitzt sie auf ihrem Bett und begrüßt mich fröhlich. Im April, kurz nach ihrem 80. Geburtstag, hatte sie die Diagnose "Krebs" bekommen. Er ist bereits metastasiert und nicht mehr heilbar. Sie wird palliativ zuhause versorgt, ist nun aber seit zwei Wochen hier auf der Station, weil es Komplikationen mit ihrem rechten Arm gab, der in einer Operation stabilisiert wurde.
Wir kennen uns seit über 20 Jahren, teilen die Freude an der Arbeit am Neuen Testament und sind gute Freundinnen. In den letzten Monaten hat unsere Beziehung eine neue Dimension bekommen, weil wir beide wissen, dass wir Abschied nehmen müssen. Wir sprechen oft über das Sterben, vor allem aber auch über das Leben. Ich frage sie, was sie gefühlt hat, als sie die Diagnose hörte. "Meine erste Reaktion war: Oh, wie schade! Ich hatte es ja geahnt und mich vorher schon sehr krank gefühlt. Ich war traurig, weil ich doch einen kleinen Rest Hoffnung hatte, dem Tod noch einmal entwischen zu können. Ich habe begreifen müssen, dass mir das nicht gelingen wird. Und darüber bin ich immer noch traurig."
Zunächst stand im Raum, dass sie sich einer mehrstündigen Operation unterziehen solle, das lehnte sie ab, wie auch eine mögliche Chemotherapie. "Der Arzt hat mir gesagt, dass es nur zwei Möglichkeiten gäbe: Entweder die von ihm vorgeschlagene harte Chemotherapie mit allen ihren Konsequenzen oder ein schnelles, qualvolles Ende."
Luise Schottroff lehnte trotzdem ab. Ihr war sofort klar, dass eine solche Chemotherapie die Qualität ihres verbleibenden Lebens massiv gemindert hätte. Zu diesem Zeitpunkt war sie sehr geschwächt und musste alle Kräfte mobilisieren, um sich einer anstrengenden Behandlung zu widersetzen, die zudem keine lebensverlängernde Funktion gehabt hätte. Der Druck, sich entscheiden zu müssen, lastete massiv auf ihr. Woher kam die Kraft "Nein" zu sagen? "Meine Freundin Ute hat mich sehr unterstützt. Sie hat deutlich gesagt, dass ich den Herbst möglicherweise nicht mehr erleben werde. Ich solle mir keine Illusionen machen, die Krankheit noch aufhalten zu können."
Diese Klarheit war ihr wichtig. Sie hat ihr geholfen darüber nachzudenken, was ihr in der verbleibenden Zeit wichtig ist. Wir sprechen darüber, warum sie von den Ärztinnen und Ärzten in der gynäkologischen Station in dieser Frage keine Unterstützung gefunden hat. Dass jemand nicht alle medizinisch und technisch möglichen Behandlungen nutzen will, ist dort offensichtlich nicht vorgesehen. "Warum ist das so?" frage ich sie. "Es sind doch alles verantwortungsvolle Menschen." Luise Schottroff überlegt einen Moment. "Weil Lebensverlängerung das Ziel ist. Die ärztliche Kunst ist dazu da, das Leben zu erhalten und zu verlängern. Was für eine Art von Leben das ist, das dann noch bleibt, wird oft nicht gefragt. Man kann sich nicht vorstellen, dass Lebensverlängerung nicht ein so hoher Wert ist, dass man jeden Preis dafür bezahlen will." Sie hat für sich eine Gegenstrategie entwickelt: "Ich weiß, dass ich sterben muss, aber ich bin nicht bereit dieses Wissen über meine Freude am Leben und meine wunderbare Zeit auf dieser Erde regieren zu lassen."
Leben
Luise Schottroff strahlt diese Freude am Leben aus. Oft vergesse ich, dass sie krank ist. "Was macht für Dich Leben aus in dieser Situation?" Sie antwortet nicht sofort. "Um das ausdrücken zu können, muss ich von meiner ersten Begegnung mit einer Palliativ-Ärztin berichten, einer fröhlichen und offenen Frau, die mit mir meine Diagnose und die Behandlungsmöglichkeiten besprochen hat. Sie sagte mir: 'Unser Ziel ist Lebensqualität, nicht Lebensverlängerung oder Lebensverkürzung. Es geht uns darum, Lebensqualität zu fördern und zu erhalten, solange es irgendwie möglich ist'. Sie hat mir versprochen, dass ich ohne Schmerzen zuhause sterben kann. Das war für mich ein Hoffnungsmoment. Ich habe daran gedacht, dass ich die Blumen in meinem Garten sehen und erleben kann, wie die Sonne scheint und wie es regnet, all die wunderbaren Gaben der Schöpfung. Das ist jetzt die Sprache der Theologie, aber ich weiß keine bessere, um das Gefühl auszudrücken. Ich kann daran teilhaben, in dem ich weiter mein Leben mit meinen Freundinnen und Freunden teile."
Hoffnung
Luise Schottroff verwendet das Wort Hoffnung. Es beeindruckt mich, dass es sich nicht darauf richtet länger zu leben, sondern auf ihr Leben jetzt: Teil der Schöpfung zu sein und die Gaben Gottes jeden Tag erleben zu können. Gilt das auch im Sterben? "Ja, ich hoffe, dass ich auch den Tod als Teil der guten Schöpfung Gottes erleben kann. Ich weiß wohl, dass der Tod, der mit bevorsteht, furchtbar sein kann. Deshalb sage ich, dass es eine Hoffnung ist. Ich vertraue darauf, dass mir die Palliativ-Pflege dabei helfen wird." Und wie ist es mit den Schmerzen, hast Du keine Angst?, frage ich nach. "Doch, ich habe Angst, weil ich erlebt habe, dass bei Schmerzen der Punkt kommen kann, an dem du nur noch aus Schmerz bestehst. Dann bist du nur noch ein armseliges Bündel Schmerzen, dessen ganze Wahrnehmung sich auf den Schmerz konzentriert, ob du willst oder nicht." An dem Morgen, bevor Luise Schottroff ins Krankenhaus eingeliefert wurde, habe ich diese Schmerzen miterlebt, ohne ihr helfen zu können. Selten habe ich mich so hilflos gefühlt. Zum Glück wurde nun eine neue Schmerztherapie gefunden. Ich frage sie, was sie tun würde, wenn ihre Palliativärztin ihr sagte, dass sie an ihre Grenzen komme und auch nichts mehr tun könne. "Darüber haben wir auch gesprochen. Wenn die metastasierten Knochen brechen, dann werde es schwierig, sagte mir die Ärztin. Jedenfalls sei es dann sehr schwer, die Schmerzen noch zu verhindern. Diese Schmerzen und Erbrechen, das nicht enden will - ich möchte lieber sterben, als das zu erleben. Ich wünsche mir, dass es nicht zu einer solchen Situation kommt. Ich hoffe auf die Unterstützung durch das Palliativ-Care-Team bis zum Schluss. Sterbehilfe in ihrer kommerziellen Form hingegen finde ich entsetzlich. Mir am Ende des Lebens geschäftsmäßig eine Giftpille verabreichen zu lassen, kann ich mir nicht vorstellen."
Liebe
In der aktuellen Debatte um Sterbehilfe werde aus ihrer Perspektive zu wenig über Palliativmedizin und Hospizarbeit gesprochen und darüber, wie sie gefördert werden können. Die Diskussion sei zu sehr auf dogmatische Aussagen fixiert und an technischer und kommerzieller Machbarkeit interessiert. "Was ich vermisse, ist der mitfühlende Blick auf die Menschen, die an schweren Krankheiten leiden. Es wird selten erwähnt, wie viele es sind, die davon betroffen sind. Man hofft immer nur, dass es einen selbst nicht trifft." Die konkrete Situation der erkrankten Menschen werde kaum gesehen: "Was mir vor allem fehlt ist, dass nicht darüber gesprochen wird, wie wichtig es ist, den Menschen, die mit Krankheit, Sterben, Schmerzen und Tod konfrontiert sind, mit Liebe zu begegnen. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich in einem Krankenhaus bin, das mir vorkommt wie eine Fabrik, in der versucht wird Menschen korrekt zu behandeln, oder ob ich echte Fürsorge erlebe. Dazu gehört, dass Menschen sich aneinander freuen, dass sie fähig sind mit zu leiden, liebevoll miteinander umzugehen. All dieses kommt in seiner lebensfördernden und lebensverzaubernden Bedeutung in den öffentlichen Debatten nicht vor. Als gäbe es das nicht." Ich selbst erlebe in den letzten Wochen, dass es eine intensive Erfahrung von Liebe ist, Trauer und Verzweiflung zu teilen. "Ja, und wie schön es ist und wie sehr es mit dem Sterben versöhnt und auch mit dem Tod", ergänzt Luise.
Glück
Als wir vor einiger Zeit zusammen saßen, um ihre Todesanzeige zu formulieren, kamen mir die Tränen, weil der Tod plötzlich so real war. "Hier wird nicht geweint", sagte Luise Schottroff dazu, es klang fast etwas streng. "Zu meinem Sterbeglück gehört es, dass alles gut geordnet ist." Das Wort Sterbeglück hatte ich noch nie gehört. "Mein Sterbeglück ist, dass ich die Beziehungen zu mir nahen Menschen noch einmal ganz neu und ganz wunderbar erlebe. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass in unserer durchgetakteten Welt so viel Zuwendung möglich ist. Die Leute werden ja daran gehindert sich umeinander zu kümmern. Sie sind abgehetzt und übermüdet - und auf einmal bin ich umgeben von Freundinnen und Freunden, die sich die Türklinke in die Hand geben und genau begleiten, was mit mir passiert." Die Mittwochabende, an denen wir uns treffen und zusammen essen, sind auch hier auf der Station schon bekannt. "Das finde ich großartig. Dann überwiegt bei mir die Freude an diesem Zusammensein und an den Überraschungen, die passieren. Du kommst mit von Öl triefendem Schafkäse hier an und wir improvisieren ein Picknick auf dem Balkon. Jede, die kommt, trägt etwas anderes dazu bei." In der Zeit der Krankheit ist ein Netzwerk von Menschen neu zusammengewachsen, die sich auch gegenseitig unterstützen. "Ja, das ist mein Sterbeglück. Und ich erlebe es jeden Morgen neu, aufzuwachen und zu denken: Was werde ich wohl heute erleben, Claudia kommt, Ute, Marlene, Daniel oder Christa ... Was für ein schöner Tag."
Heilung
Vor ihrer Erkrankung haben wir anhand von Matthäus 4 über Heilung gesprochen. Hier steht im Griechischen für Jesu heilende Zuwendung das Wort therapeuein, das ein ganzheitliches Verständnis ausdrückt und nicht auf physische Gesundheit zu beschränken ist. Ich frage sie, was sie nun dazu denkt: Gibt es Heilung auch im Angesicht des Todes? "Ich habe das jetzt alles erlebt. Die Schulmedizin spricht in meinem Fall nicht von Heilung, wenn ich behandelt werde. Die Palliativ-Medizin spricht von 'Lebensqualität' und sagt explizit: 'Wir können Sie nicht heilen'. Ich erlebe aber jeden Tag Heilung. Auch wenn das jetzt absurd klingt: Ich fühle mich gesund. Ich liege zwar mehr oder weniger die ganze Zeit im Bett, muss meinen Arm hochlagern ... aber ich fühle mich gesund."
Was macht für Dich den Unterschied von Heilung und Lebensqualität aus, frage ich nach, ist noch eine Dimension mehr dabei? "Wir können in unserem Leben nie mehr erfahren als Lebensqualität. Eine Sicherheit vor dem Tod gibt es nicht. Das ist zwar oft abstraktes Wissen, die Techniken, das zu verdrängen, sind unglaublich ausgeklügelt. Aber die Lebensqualität, die Gesundheit und Heilung, die ich jetzt erlebe - mein Sterbeglück - sind im Prinzip nicht unterschieden von meinem Lebensglück, das ich mein ganzes Leben lang erfahren habe. Ich habe mehrere mir sehr nahestehende Menschen in den Tod begleitet. Aber dass ich dieses Glück nun auch erfahre und von so viel Liebe umgeben bin, das habe ich nicht erwartet."
Auferstehung
Denkst Du dabei auch über Auferstehung nach? "Ich habe vor ein paar Tagen nachts im Bett gelegen und mir gedacht, ich müsste mir Träume davon machen, was der Tod für mich bedeutet. Ich möchte so gern meine Lieben wiedersehen, natürlich. Aber das war auf einmal nicht das, was mich beschäftigt hat, sondern die Erkenntnis, wie reich mein Leben war und ist. Natürlich habe ich auch Schreckliches erlebt, aber ich habe angefangen, mir meinen Reichtum aufzuzählen." Wenn Luise Schottroff von dem Reichtum ihres Lebens spricht, weiß ich genau, was sie meint. Dieses Glück teilt sie mit allen, die ihr begegnen.
Spielt Dein Glaube eine wichtige Rolle dabei, dem Tod so entgegen sehen zu können? "Mit dem Wort 'Glauben' habe ich die Schwierigkeit, dass ich 'Glaubens-Aussagen' völlig verfehlt finde, also die Aussage irgendeiner Dogmatik, mag sie noch so modern sein. Glauben heißt für mich das Vertrauen zu haben, dass Menschen mir helfen werden, die Schmerzen und das Sterben zu ertragen, dass ich nicht allein bin im Leben und im Sterben. Nun kann man fragen: Und wo ist Gott? Denn ich will ja, dass Menschen mich begleiten. Ich würde ganz vorsichtig sagen, dass so etwas möglich ist zwischen Menschen in einer Welt, die so hart organisiert ist - da ist Gott zu fühlen."
Gibt es in dieser Zeit Texte oder Liedzeilen, die Dich begleiten? Sofort fallen ihr zwei Lieder ein: "Der Mond ist aufgegangen" und "Geh aus mein Herz und suche Freud". "Die Melodien sind in mir. Ich muss sie nicht singen oder summen. Sie haben sich mir in den Körper eingeschrieben, sie sind einfach da. Mein Bruder hat einmal zu mir gesagt, dass für ihn die Musik die Sprache der Ewigkeit sei. Das erlebe ich, auch wenn keine Musik im Raum ist. Sie ist tief in mir."
Das Gespräch mit Luise Schottroff führte Claudia Janssen am 5. August. In der ersten Oktoberwoche 2014 war Luise Schottroff wieder zuhause und konnte dort betreut werden. Von ihrer Ärztin erhielt sie die gute Nachricht, dass sich ihr Gesundheitszustand soweit stabilisiert hat, dass sie entgegen allen Prognosen auf ein gemeinsames Weihnachtsfest mit ihren Lieben hoffen kann.
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Claudia Janssen
Claudia Janssen
Dr. Claudia Janssen ist seit 2016 Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Zuvor hat die 55-Jährige unter anderem als Studienleiterin im Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie und als theologische Referentin der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland gearbeitet. Seit 2011 lehrte sie als apl. Professorin an der Universität Marburg.