Ausbildung durch Bildung

Die durch "Bologna" angestoßene Reform des Theologiestudiums ist besser als erwartet
Predigtslam in der Alten Universität Marburg, einer traditionellen Ausbildungsstätte evangelischer Theologen. Foto: epd/ Rolf K. Wegst
Predigtslam in der Alten Universität Marburg, einer traditionellen Ausbildungsstätte evangelischer Theologen. Foto: epd/ Rolf K. Wegst
Das Studium der evangelischen Theologie hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Wie das geschehen ist und welche Chancen die stärkere Regulierung für das traditionsreiche Fach bieten, zeigen Tobias Braune-Krickau und Peter Schüz, Wissenschaftliche Mitarbeiter an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Marburg.

Der Weg führt über kopfsteingepflasterte Gassen, vorbei an windschiefen, aber pittoresken Fachwerkhäusern, und plötzlich steht man vor der "Alten Universität". Hier ist der Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg untergebracht. Helle Sandsteinmauern, filigrane Spitzbögen, bunte Rosettenfenster, Türmchen, Winkel und grimmige Wasserspeier, wohin man sieht.

In Wirklichkeit ist das Gebäude 130 Jahre alt. Das mittelalterliche Dominikanerkloster, Gründungsort der ersten protestantischen Universität der Welt, musste ihm damals weichen. Keine Gotik also, sondern die Idee von Gotik, wie sie dem preußischen Historismus für die mittelhessische Provinz vorschwebte. Und darin wurde zugleich das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts kunstvoll in Stein gemeißelt: Die Historie als dasjenige Medium, in dem der Geist sich allseitig zu bilden habe - Gelehrsamkeit als Lebensform selbstbewusster Bürgerlichkeit auf dem Weg in die Moderne.

Und drinnen? Professoren schreiben Anträge für Drittmittel, haben hochschuldidaktische Fortbildungen besucht und werfen ihr Wissen per Beamer und Smartboard an die Wand. Studierende planen ihr nächstes Auslandssemester und studieren ausgeklügelte Modulpläne, um "Creditpoints" zu sammeln. Die Alte Universität erinnert also weniger an Humboldt und Konsorten als vielmehr an "Hogwards", die Universität für Zauberlehrlinge aus den beliebten Harry-Potter-Romanen.

Das Theologiestudium ist im Wandel begriffen. Und bisweilen hat man schon als Wissenschaftlicher Mitarbeiter um die Dreißig das Gefühl, selbst noch völlig anders studiert zu haben, als die Neunzehnjährigen, die man unterrichtet. Italienische Städtenamen bestimmen heute europaweit die Bildungsdiskussion, Pisa für die Schulen und Bologna für die Universitäten. Und Bologna hat auch die Theologie, die traditionell eher reformträge ist, erfasst, wenn auch milder als andere Fächer.

Als die 29 Bildungsminister der Europäischen Union 1999 die Bolognaerklärung unterzeichneten, ging es ihnen zunächst um einen einheitlichen europäischen Bildungsraum: Studienabschlüsse sollten vergleichbar werden. Nicht unbedingt gleiche Inhalte, aber gleicher Arbeitsaufwand (neudeutsch: "workload") sollte in so genannte Creditpoints umgerechnet werden. 25 bis 30 Stunden Arbeit - in Vorlesung, Seminar oder Eigenarbeit - entsprechen einem solchen Leistungspunkt. 180 Leistungspunkte ergeben einen dreijährigen Bachelor-, 120 weitere einen zweijährigen Masterabschluss.

Damit einher geht der Wunsch nach einer stärkeren Berufs- und Praxisorientierung. Schon ein Bachelor gilt theoretisch als grundständiger Abschluss, der für das Berufsleben qualifiziert. Theoretisch, denn was für Wirtschaftswissenschaften sinnvoll ist, ist in der Theologie kaum anwendbar. Welchen Beruf sollte man nach sechs Semestern mit einem Bachelor in Theologie ergreifen?

Eigene Vorlieben

So haben die evangelisch-theologischen Fakultäten im Verbund mit den Landeskirchen das kirchliche Examen als Zugang zum Pfarramt beibehalten. Aber sie haben es stärker strukturiert. Noch vor einigen Jahren bekam der Studienanfänger ein dickes Vorlesungsverzeichnis in die Hand gedrückt, verbunden mit dem unausgesprochenen Appell: "Studieren Sie, worauf Sie Lust haben!" Einzige Vorgabe waren einige wenige Scheine, die man am Ende des Studiums, zur Examensmeldung vorweisen musste.

Der Vorteil bestand darin, dass den eigenen Vorlieben und Interessen praktisch keine Grenzen gesetzt waren. "Freie Bildung" würde man heute mit nostalgischem Unterton sagen. Der Nachteil war, dass nicht wenige sich erst in der Examensvorbereitung zum ersten Mal einen Überblick über das Ganze des Theologiestudiums verschaffen konnten, weil sie zuvor nach Belieben Spezialthema an Spezialthema gereiht hatten. Der Wunsch nach mehr Überblickswissen und Grundkompetenzen, die für das spätere Berufsleben entscheidend sind, wurde von vielen Seiten geäußert.

Heute gliedern sich auch die meisten theologischen Studiengänge in Basis-, Aufbau- und Vertiefungsmodule. In einem Modul werden in der Regel zwei Lehrveranstaltungen thematisch zusammengefasst und am Ende anhand kleinerer oder größerer Prüfungen bewertet. Ein Aufbaumodul kann nur derjenige belegen, der zuvor ein Basismodul abgeschlossen hat. So ergibt sich ein verhältnismäßig klarer Ablaufplan für das eigene Studium. Detaillierte Zielvorgaben und Modulpläne sollen bis zum Abschluss des Studiums garantieren, dass in allen Disziplinen Grundkenntnisse und Kompetenzen erworben worden sind.

Manche Kritiker sehen in solchen Umstellungen das Ende der Bildung heraufziehen. Ihrer Meinung nach tritt an die Stelle umfassender kritischer Selbstbildung die Vermittlung beruflich verwertbarer Wissenshäppchen. Aus der alten Universität werde, so die Befürchtung, ein verschulter Ausbildungsbetrieb.

In der Praxis stellt sich das allerdings weniger dramatisch dar. Zumindest ist im Studienalltag von dem befürchteten Niedergang wenig zu spüren. Nach wie vor bringt das Studium jene Momente mit sich, in denen aus trockenem Wissen lebendige Diskussion, aus der verpflichtenden Hausarbeit persönliches Engagement und aus einer Matrikelnummer ein Gesprächspartner auf Augenhöhe wird. Die größte Herausforderung der Lehre besteht so gesehen noch immer darin, etwas anbahnen zu sollen, was sich gar nicht einseitig erzeugen lässt: Bildung.

Dabei ist das Anliegen, das hinter den Befürchtungen steht, nur allzu berechtigt. Denn tatsächlich kann das Ziel des Theologiestudiums nicht Ausbildung als bloße Wissensvermittlung sein. Nicht nur, weil die eigentliche Berufsausbildung dem Vikariat oder Referendariat vorbehalten ist. Vor allem geht es später im Pfarr- oder Lehrerberuf weniger um Rezeptwissen, als vielmehr um persönliche Sprach- und Urteilsfähigkeit.

Sich auf immer neue Menschen und Situationen einzustellen und Religion dabei glaubhaft ins Spiel zu bringen, setzt gebildete Persönlichkeiten voraus. Umso mehr wird man sagen müssen: Die beste Ausbildung von Theologinnen und Theologen ist Bildung. Und wo die theologischen Fakultäten sich den allgemeinen Reformtendenzen widersetzt haben, war dies meist das entscheidende Motiv.

So scheint eine andere Anfrage fast drängender. Die stärkere Strukturierung des Theologiestudiums war auch eine Reaktion darauf, dass sich Studenten in der Fülle des Detailwissens alleingelassen und nur ungenügend für ihre berufliche Zukunft gewappnet fühlten. Die Frage ist allerdings, ob dies für die jetzige Studentengeneration auch gilt. Vieles deutet darauf hin, dass das Pendel schon längst wieder in die andere Richtung ausschlägt.

Das Modulraster sprengen

Die heutigen Studenten haben bisweilen schon in der Grundschule die Imperative zu Selbstorganisation, Fleiß, ja Selbstoptimierung zu spüren bekommen. Für sie mag ein modularisiertes Studium mitunter als bloße Fortsetzung der Schule erscheinen. Und vor allem klinken sich die allermeisten, ohne darin ein Problem zu sehen, in den Modulfahrplan ein. Vielleicht besteht die Herausforderung heute weniger in Plan- und Ziellosigkeit, sondern eher in einer gewissen Mutlosigkeit, das Modulraster auch einmal durch eigene theologische Phantasie und Leidenschaft aufzusprengen.

Aber auch das scheint nicht viel mehr als eine Tendenz zu sein, die die künftige Studiengestaltung im Blick behalten muss. Schließlich ist die Spannung zwischen Reglementierung und Persönlichkeitsbildung kein neues Problem.

Für ein Fazit der jüngeren Reformbemühungen der Theologie ist es noch zu früh. Und für einen Abgesang erst recht, zumal die theologischen Fakultäten in der Umsetzung Augenmaß bewiesen haben. Überdies gibt es noch einige Potenziale, die bislang nicht wirklich ausgeschöpft wurden oder in ihrem tatsächlichen Erfolg noch nicht absehbar sind.

So fehlt noch eine internationale Perspektive des Theologiestudiums. Schon der Theologe Paul Tillich (1886-1965), der 1933 in die USA emigriert war, attestierte dem deutschen Protestantismus in den Sechzigerjahren einen gewissen Provinzialismus. Und der scheint auch heute nicht völlig überwunden zu sein. Dabei würden die deutschen Fakultäten bei einer internationalen Öffnung nicht an Strahlkraft verlieren, sondern gewinnen.

Außerdem könnte die Kompetenzorientierung der Bolognareform dem Bildungsanliegen der Theologie durchaus entgegenkommen. Denn eine erklärte Grundmaxime von Bologna ist, statt starr auf einen Kanon theologischen Wissens zu setzen, die Fähigkeit zum eigenen Urteil auszubilden.

Und nicht zuletzt wäre da der positive Nebeneffekt einer stärkeren Strukturierung des Studiums. Sie nötigt nämlich die Lehrenden dazu, in der ungeheuren Spezialisierung, die die Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, wieder stärker das Gemeinsame und Allgemeine zu suchen, die großen Linien und Themen. Vielleicht würde das auch die Relevanz der Theologie in den öffentlichen Debatten über Religion wieder stärken. Denn der akademischen Theologie mangelt es nicht an Fachwissen, sondern eher daran, ihr Wissen in einer allgemein verständlichen und überzeugenden Weise einzubringen.

Auf diese Weise müsste die schöne neue Bildungswelt kein Gegensatz zum alten Gemäuer des 19. Jahrhunderts sein. Der Aura, die theologischen Bildungsstätten wie der Alten Universität in Marburg anhaftet, schadet ihr modernes und modularisiertes Interieur durchaus nicht. Denn weder die gotischen Spitzbögen noch die modernen Beamer und Smartboards sind hinreichende Bedingungen für das, was das Theologiestudium eigentlich ausmacht.

Eine kluge Reform scheint letztlich eine zu sein, die von vornherein Raum für die Reform der Reform lässt und die theologische Bildung nicht auf eine spezifische Studienform festlegt. Sie bahnt sich ihren Weg ohnehin durch ganz verschiedene Zeiten, Gebäude und Studienordnungen hindurch. Schon Wilhelm von Humboldt, der Ahnherr aller modernen Universitätsreformen, wusste, "dass bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten Alles darauf beruht, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen." Wenn man dies auch für das Theologiestudium gelten lässt, braucht man sich um ihre Zukunft kaum zu sorgen.

Tobias Braune-Krickau / Peter Schüz

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