Angst vor der Nichtbeachtung

Auch das Privatsein bedarf der Kompetenz: Zwischen Datenschutz und digitaler Entblößung
"Wir haben unsern Kindern Facebook gegeben und gesagt: Habt Spaß damit." Foto: dpa
"Wir haben unsern Kindern Facebook gegeben und gesagt: Habt Spaß damit." Foto: dpa
Es ist etwas faul im Gesellschaftsvertrag: Durch die Digitalisierung der Medien und Dinge wird ein Kernbereich der Individualität zur Handelsware degradiert. Gesellschaftliche Normen verändern sich dadurch. Was das mit der Privatheit macht, erklärt der Stuttgarter Mediensoziologe Oliver Zöllner.

Läuft man durch eine deutsche Fußgängerzone, muss man aufpassen: Fast unweigerlich stößt man irgendwann mit einem Mitmenschen zusammen, der beim Gehen nicht nach vorn, sondern vor allem auf sein Smartphone starrt, und darüber auf Kollisionskurs gerät. "Always on": telefonieren, Nachrichten lesen, Profile bei Facebook, Instagram oder WhatsApp aktualisieren, Tweets empfangen - alles Gewohnheitssache. Viele Menschen können ohne die drahtlosen Hilfsmittel scheinbar kaum noch ihr Leben organisieren. Die Nutzung und Bereitstellung von digitalen Informationen hat sich inzwischen zu einer Art Grundversorgung entwickelt, ähnlich wie Wasser, Gas und Strom. Auch im Internet vieles kostenlos zu bekommen, gilt als selbstverständlich.

Kostenlos? Zu präzisieren wäre: für ihr stillschweigendes Einverständnis, mit ihren Daten zu bezahlen und sich letzten Endes ausspähen zu lassen. Die Ortungsfunktion des Mobiltelefons lässt sich nicht ausschalten, Suchmaschinen und soziale Netzwerke speichern jeden Mausklick für immer und kombinieren diese Daten mit Informationen aus anderen Video-, Foto-, Bestell- oder Suchdiensten im Internet zu persönlichen Profilen. Bei "smarten" Fernsehern der neuesten Generation ist der Zuschauer der Datenlieferant für Werber und Programmmacher, Krankenversicherungen bündeln intimste Informationen und machen Kunden beziehungsweise Patienten gläsern, das vernetzte Automobil dokumentiert mit seinen zahlreichen Sensoren jede Fahrt, verfolgt jeden Fahrer. Die dahinterstehenden Geschäftsmodelle und technischen Komponenten sind oft nicht transparent. Im Kern geht es um den Verkauf von personenbezogenen Daten für personalisierte und passgenaue Werbeflächen oder um einen umfassenden Datenabgleich.

Auch staatliche Dienste sammeln und verwerten persönliche Daten längst maßlos. Gegenwärtig tauchen in den Nachrichten fast täglich Skandale um Online-Ausspähungen oder sonstige Verletzungen des Datenschutzes auf. Geheimdienste wie die amerikanische nsa oder das britische gchq sammeln anlasslos und massenweise quasi alle Telekommunikationsdaten, derer sie habhaft werden können, im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus. Und der Ausbau der Datennetze geht weiter. "Big Data: Das neue Versprechen der Allwissenheit" heißt ein aktuelles Buch aus dem Suhrkamp-Verlag. "Wer hat meine Daten?", fragt Barbara Junge im ersten Beitrag und führt vor Augen, dass es letztlich der einzelne Webnutzer ist, der netzwerkende Mensch, der die vielfältigen Apparate permanent mit seinen Daten füttert. Wirklich privat ist nichts, was über Datenleitungen transportiert wird.

Ethische Fragen

Dies provoziert auch ethische Fragen: Wie sollen sich Menschen in einer zunehmend mediatisierten Gesellschaft angemessen verhalten? Welche Rolle spielt die Privatsphäre, wie weit darf Überwachung reichen? Wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, in der Medien längst bis in die Intimsphäre des Einzelnen hineinwirken?

Nach digitaler Zeitrechnung scheint es bereits Äonen her, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg im Januar 2010 gewissermaßen das Ende der Privatheit verkündet hat. Der damals 25-Jährige sagte, dass Privatheit nicht länger eine "gesellschaftliche Norm" sei. Die Menschen würden sich nunmehr darin wohlfühlen, nicht nur quantitativ mehr Informationen zu teilen, sondern auch "offener und mit mehr Menschen". Spiegeln Zuckerbergs Äußerungen gesunden Realismus wider oder sind sie Ausdruck öffentlichkeitswirksamer Chuzpe? Symbolisch und praktisch stand das soziale Netzwerk für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. "Post Privacy" ist für viele Menschen in der Tat längst eine Gewohnheit, die der Einzelne kaum noch kritisch hinterfragt. "Meine paar Daten sind doch unwichtig", entgegnen viele Onliner und halten sie für nicht mehr schützenswert.

Das hat Folgen. Die Technologieforscherin Sherry Turkle hält in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" 2012 fest: "Wir haben unseren Kindern Facebook gegeben und gesagt: 'Habt Spaß damit'. Und jetzt ist es, wie wenn wir ihnen eine Art Mini-Stasi gegeben hätten. Wo alles, was sie denken und tun, auf alle Ewigkeit im Besitz von Facebook ist und für welche Zwecke auch immer von Facebook genutzt werden kann." Man trägt das eigene Leben in die Netz-Öffentlichkeit, weil es einem die praktischen kleinen Mobilgeräte auch so einfach machen. Im Februar 2014 hat Facebook das Start-up WhatsApp für die sagenhafte Summe von neunzehn Milliarden US-Dollar gekauft. Im Preis inbegriffen waren die Daten von mehr als fünfhundert Millionen Menschen, die diesen mobilen Messaging-Dienst nutzen und dabei oft unbekümmert viele sensible Informationen von sich und anderen preisgeben. Gesellschaftliche Normen verändern sich durch solche Alltagspraktiken mit der Zeit sehr wohl. Ist die Privatheit also längst obsolet?

Die Menschen hätten "den Traum von der Privatheit längst aufgegeben", merkte etwa der britische Soziologe Zygmunt Bauman 2013 in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" an. "Wir genießen es, überwacht zu werden. Unsere größte Angst ist es, nicht beachtet zu werden." Dies erklärt die Popularität sozialer Netzwerke zumindest teilweise. Sie mag aber auch eine verbreitete Furcht vor der Einsamkeit spiegeln. Einsamkeit ist eine extreme Ausprägung von Privatheit. Geben viele Menschen ihre Privatheit demnach so bereitwillig auf, weil sie sie im Kern mit Einsamkeit assoziieren?

Neue Massenausforschungswaffen

Ein Umdenken könnte zumindest begonnen haben. Spätestens nach den Enthüllungen des ehemaligen NSA-Zuarbeiters Edward Snowden über fragwürdige Online-Ausspähpraktiken der Geheimdienste hat auch außerhalb akademischer Zirkel eine breitere Diskussion um die gefährdete Privatheit und einen tieferen Datenschutz begonnen. "Die technologische Revolution, die mit so vielen Freiheits- und Ermächtigungsversprechen begann, ist zu einem kollektiven Faustschen Albtraum geworden", schreibt die Organisationsforscherin Shoshana Zuboff Anfang 2014 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sie nennt die Onlinedienste die "neuen Massenausforschungswaffen" und hält fest: "Die auf Gleichberechtigung ausgerichtete Dynamik dieser Netzwerke wich einer neuen Form von Imperialismus, bei der die Unternehmen einseitig unsere Daten kontrollieren und immer weitere Dimensionen unseres Online-Verhaltens und unserer persönlichen Identität kolonisieren." Das heißt, Nutzer agieren nach den Regeln der Betreiber der sozialen Netzwerke und machen sich deren Verwertungsinteressen zu eigen, bis in den Kernbereich der individuellen Existenz: Man "performt" sein "Profil".

Es ist also etwas faul im Gesellschaftsvertrag. Der Kernbereich unserer Individualität wird einerseits zur Handelsware, andererseits zu etwas prinzipiell Verdächtigem degradiert. Leicht ins Visier der Fahnder gerät schon, wessen Verhaltens-profil signifikant vom "Durchschnittsprofil" abweicht. Längst befindet die statistische Korrelation darüber, womit wir im Netz verknüpft und wie wir somit wahrgenommen werden. Edward Snowden hat den Vorhang geöffnet, der für viele Menschen die wahren Verwertungszusammenhänge ihrer Verhaltensspuren lange verhüllt hat. Nun macht sich das Gefühl breit, dass etwas aus der Balance geraten, etwas verloren gegangen scheint: das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung, die individuelle Verfügungshoheit über persönliche Daten. Jede Information, die man einmal ins Netz gestellt hat, bedeutet den Verlust an Privatheit und damit den Verlust eines kleinen Stückchens Freiheit und Autonomie. Die politische und publizistische Empörung hierüber hat im Zuge der Diskussion um NSA, Facebook, Google & Co. gerade Auftrieb erhalten.

Einen Weg zurück in die prädigitale Ära wird es nicht geben. Wie kann also der Einzelne seine Privatheit und Selbstbestimmtheit wieder herstellen, wie kann die Gesellschaft in der Digitalität wieder den Wert der Privatheit schätzen lernen? Empörung allein reicht nicht aus. Das Allerprivateste ist bereits politisch geworden, wie die Debatten der vergangenen Monate gezeigt haben. Und diese kritischen Debatten und Proteste müssen weitergeführt werden. Es muss das Politische indes auch seinen Weg in die privaten Handlungsmaximen, in den Alltag des Einzelnen finden: Mediennutzer müssen ihr Verhalten ändern, müssen Wege finden, die technischen Infrastrukturen und Apparate angemessen mit ihren Daten zu füttern, um die Hoheit über die Datenströme zu behalten und nicht zum bloßen Objekt der Überwachung und Kontrolle zu werden.

Datensparsam und reflektiert

"Angemessen" heißt dabei: datensparsam und reflektiert. Man muss lernen, wo und von wem Daten gesammelt und wie sie verarbeitet werden: beim Bezahlen an der Ladenkasse mit "Payback"-Karte, beim Versandkaufhaus, wo ebenfalls die Käufe und das individuelle Klickverhalten dauerhaft gespeichert werden, bei der Onlinebuchung einer Reise, in Internetforen und bei Suchmaschinen, die nichts vergessen, ja selbst beim Lesen eines eBooks, wo Buchtitel, Lesegeschwindigkeit und Umblätterverhalten ausgewertet werden. Hier ist Privatheitskompetenz ("Privacy Literacy") gefragt, wie sie Petra Grimm und Karla Neef vom Institut für Digitale Ethik der Stuttgarter Hochschule der Medien 2012 im Buch "Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit?" beschrieben haben: als gesellschaftliches Förderkonzept für eine digitale Kompetenzbildung. Letztere sollte bereits in der Schule beginnen, etwa mit einem Lehrfach Medienkompetenz oder Medienethik.

Kompetenz folgt aus Reflexion, diese baut auf Wissen auf. Eine solchermaßen curricular verankerte Medienethik etwa in Gesellschaftskunde könnte den Prozess der Digitalisierung und Mediatisierung des Alltags anschaulich begleiten. Bereits Schülerinnen und Schüler würden lernen, was es heißt, ein "gutes Leben" zu führen (Muss ich ständig erreichbar oder "dabei" sein?), auch online respektvoll und achtsam miteinander umzugehen und im Kern auf den Schutz auch des eigenen Selbst, der eigenen Privatheit zu achten. Hierzu gehört auch, um die ökonomischen Zusammenhänge zu wissen ("Economic Literacy"). Denn die Internetkonzerne kolonisieren ja längst unser alltägliches Handeln, wie Zuboff meint, indem sie Menschen permanent einreden, bestimmte Geräte, Netzwerke oder Anwendungen (Apps) haben und nutzen zu müssen - ein sehr einträgliches Geschäftsmodell: Der Nutzer zahlt Daten und bekommt als Produkt einen Scheinindividualismus, bei dem er selbst der Beherrschte ist und mit ein paar Bequemlichkeiten belohnt wird.

Die Ausbildung von Medienkompetenz ist keineswegs eine privatistische, sondern im Kern eine prononciert soziale Angelegenheit: Sie fördert das Bewusstsein um eine demokratische Gesellschaft, deren Mitglieder sich als Bürger, als Citoyens, anlasslose Kontrolle und Überwachung von staatlicher Seite nicht bieten lassen. Solchermaßen aufgeklärte und ermächtigte Mediennutzer würden in ihrem Alltag genau hinschauen, ob und wo sie Informationen preisgeben. Denn das Bewusstsein um die eigene Privatheit würde als zentraler Wert erkannt: als Wert, selbstbestimmt das eigene Leben zu gestalten - nicht bloß als eine monetarisierbare "Austauschwährung" und Rohstoff fürs Data-Mining von Unternehmen, also für die systematische Auswertung von Datenbeständen zur Erkennung spezifischer Muster.

Das klingt 2014 seltsam bekannt. Die obigen Diskussionen sind im Kern schon vor rund fünfzig Jahren geführt worden, als das neueste und für "gefährlich" erachtete Medium das Fernsehen war. Auch in den Sechzigerjahren wurden Aufklärung und Selbstbestimmtheit als Ziele einer medialen Erziehung und Fortbildung eingefordert. In den Achtzigerjahren waren Datenschutz und die Angst vor dem Orwellschen "Großen Bruder" epochenprägend. Es ist frappierend, wie wenig sich das Bewusstsein rund um die eigene Medien- und Techniknutzung seither entwickelt hat, trotz so vieler Studien. Dennoch zeigt die Diskussion auch: Das Ende der Privatheit ist noch lange nicht auszurufen. Man muss Privatheit aber auch wollen und wertschätzen. Dies ist ein Erkenntnisprozess und eine Frage der Verantwortung.

mehr zum Thema

Oliver Zöllner

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"