Papierboot-Kapitäne

Tragfähig - "Divisionary" von "Ages and Ages"
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Die Sonne gleißt, Schweiß fließt, aber die Ausstrahlung und Verve sind ungebrochen. So hätten die Beach Boys auf Feldern im Süden geklungen.

Zehn Gramm, so viel wie neun Gummibärchen oder zwei Kreditkarten, dürfen sie wiegen, die Boote beim Papierschiffwettbewerb der Uni Rostock. Die Schiffbauer wollten damit einst Nachwuchs rekrutieren, und junge Konstrukteure sind auch oft dabei, doch ob sie das Fach später studieren, steht auf einem andern Blatt. Hier fasziniert, was die filigranen Einweggefährte tragen, bevor sie unter dem Gewicht eingefüllter Bleikugeln sinken.

Oft zwei Kilo und mehr, das Zwanzigfache des Eigengewichts! Das liegt an Hauptspantvölligkeit, Wasserlinieneintrittswinkel und andern Faktoren, die der Laie schlicht Stabilität und Verdrängung nennen mag (www.paperboat.de). Neben all der physikalischen Finesse ist es aber auch ein starkes Bild - wer denkt dabei nicht an Kindertage, an Abfahrten ins Irgendwo und versonnene Träume, die das Versinken hinter der nächsten Biegung von Bach oder Fluß souverän überspringen. Das tun die leichtfüßigen Songs von "Ages and Ages" auch. "Alright You Restless", das Debut der achtköpfigen US-Band aus Portland, war ein erklärter Aufbruch aus einer bornierten selbstzerstörerischen Gesellschaft, dargeboten mit der beseelten Euphorie des Jugendchors im Erweckungszelt, bloß dass sie dabei klangen, als wären sie im Hippiebus unterwegs und bereit überall zu singen, wo man sie ließ. Eingespielt in wenigen Tagen, live zumeist, auch die für "Ages and Ages" typischen Chorgesänge: sie alle vor bloß einem Mikrophon! Erfrischend wie auch der Nachfolger "Divisionary". Ein Neologismus aus "visionary/division", weil Visionen nun mal auch für Trennung sorgen, sagt Sänger und Gitarrist Tim Perry. Für "Divisionary" haben sie Monate gebraucht und viel experimentiert, weil mit dem Aufbruch Widerstand kam und neue Wege zu finden waren, sagt Perry. Doch das spürt man nicht, sondern eher einen Wechsel des Auftrittsorts.

Der verstaubte Bulli ist nach holpriger Fahrt abgestellt, und sie singen ihre weltlichen Gospelchoräle von einem anderen Leben nun auf dem Baumwollfeld. Die Sonne gleißt, Schweiß fließt, aber die Ausstrahlung und Verve ihrer Musik sind ungebrochen. So hätten die Beach Boys auf Feldern im Süden geklungen. Vitale ungetaufte Bekehrung, naiv gläubig, trotzdem abgeklärt, voller Hingabe und Gemeinschaftsgefühl. Fröhliche Hymnen, denen man Schmerz, Abschiede und die Mischung aus Oberflächlichkeit und ausgedörrtem Boden nicht anmerkt. Hier singt die Kreatur, die selber denken will, sich ihrer Gefühle gewiss ist, Freunde hat. Eine Illusion? Jedenfalls Boote, die eine Menge Bleikugeln tragen, viel mehr als gedacht, wenn man weiß, woraus sie gefaltet sind. Der pantheistische Taumel eines Walt Whitman und die sehnsuchtsvolle Engführung im Predigerzelt geben sich die Hand. Sehr amerikanisch. "Ages and Ages" machen Zehn-Gramm-Pop, der beeindruckend stark ist.

Ages and Ages: Divisionary - Partisan Records/Knitting Factory Records/Rough Trade 2014.

Udo Feist

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