Den Zigeunern geht es schlecht in Europa. Der Mauerfall in Osteuropa wie auch der Eintritt der meisten ostmitteleuropäischen Länder in die Europäische Union haben die Lage der Roma in diesen Ländern nicht verbessert. Zentrale Kapitel behandeln die Lage in den kapitalistisch und manchmal sozial entfesselten Ländern Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Slowakei, Bosnien. Im Vorwort beschreibt der Autor eine Begegnung mit einer Roma-Sippe im Osten Bulgariens. Abends rühren die Frauen in den dampfenden Kesseln. Autor Bauerdick fragt den Sippenchef, was es zu essen gebe. Der sagt: Schlangen. "Wir fangen sie zwischen den Sträuchern, ziehen ihnen die Haut ab und rösten sie über dem Holzfeuer." Der rasende Reporter notiert: "Holzschneider grillen Schlangen." Jemand fragt: Was hat euer Reporter aufgeschrieben? "Dass Ihr Schlangen esst!"
Die Männer biegen sich vor Lachen: "Kein Roma käme im Traum darauf, eine Schlange zu essen. Schlangen sind ein Tabu." Der Sippenchef sagt zu ihm: "Ihr Schreiberlinge glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt." Der Autor erinnert sich kaum eines Roma, der für die Misere, in der sich sein Volk bewegt, ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht hätte.
Bauerdick denkt nicht daran, die Sprach-Korrektheit mitzumachen, den manche - zumal im Zentralrat der Roma und Sinti - für die Lösung des Problems halten. In einem eigenen Kapitel beschreibt er den Unsinn, der mit solchen Konstruktionen und Worthülsen betrieben wird, die das Wort Zigeuner vermeiden sollen. Auch andere Zeitzeugen pflichten ihm bei. So kann er die Schriftstellerin Herta Müller zitieren. Sie sei mit dem Wort Roma nach Rumänien gefahren, habe es benutzt und sei überall auf Unverständnis gestoßen. Das Wort sei scheinheilig, habe man ihr gesagt: "Wir sind Zigeuner, und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt."
Das eigentliche Drama sei nach Bauerdick, dass viele Zigeuner gegen den "Schmerz ihrer Entwurzelung immun geworden sind, als sei ihnen die stete Entwürdigung zu ihrer zweiten Natur geworden." Dem Autor ist keine Assoziation zu gewagt. Rosa Sztojka am Stadtrand von Kalocsa in Ungarn schenkte ihm, der gekommen war, weil er nicht geglaubt hatte, dass sie verrückt geworden sei, ihren Rosenkranz. Der soll den Autor des Buches beschützen. Das erinnert ihn an die Mahnung des Evangeliums: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ..."
Ganz eindeutig ist die EU nicht gut auf dieses grenzenlose Wandervolk vorbereitet. Die Hoffnung, dass sich durch die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in die Europäische Union die Lage der Zigeuner verbessern würde, erfüllte sich nicht.
Das Buch kämpft auch gegen den Alleinvertretungsanspruch des Zentralrats der Roma und Sinti. Der erklärt, die Sinti und Roma hätten sich selbst niemals Zigeuner genannt. Es gab aber kurz nach dem Krieg 1958 ein "Komitee deutscher Zigeuner" in München, und 1968 gründete der Roma Rudolf Karway eine "Internationale Zigeunerrechtskommission".
Das Buch ist unerschöpflich. Es behandelt weit mehr als das Zigeuner- oder Roma-Problem in den Köpfen von uns politisch korrekt tickenden Deutschen. "Die Zigeuner" - so fasst es der Autor an einer Stelle zusammen - "beschämen uns." Ihre Großzügigkeit sei uns suspekt. Vielleicht könnten wir den Zigeunern nicht verzeihen, dass sie uns das "Dritte Reich" vergeben haben. "Oder dass sie es schlichtweg nicht interessiert, wie deutsche Gerichte ihre Schuldgeschichte bewältigen." Bauerdick: "Das akzeptieren wir nicht."
Ein wichtiges Buch für uns Deutsche.
Rolf Bauerdick: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013, 352 Seiten, Euro 22,99.
Rupert Neudeck