Blick in den Spiegel

Mephistos Kostüme oder: Das also war des Pudels Kern
Mariano Fortuny y Carbo: "Phantasie über das Faustdrama", 1866. Foto: akg-images
Mariano Fortuny y Carbo: "Phantasie über das Faustdrama", 1866. Foto: akg-images
Mephisto ist überall, und er ist in allen Kostümen immer eine verkleidete Projektion seiner selbst. Wo aber wohnt er, der Herr dieser Welt, und was ist seine geheime Agenda? Dieter Arendt, Professor em. für Literaturwisschenschaft an der Universität Gießen, über die literarische Unverwüstbarkeit des Teufels.

Er hat hundert Namen oder mehr. Und sein Auftritt ist hundertfältig. In allen Schriften der Weltreligionen wird er beschworen und zitiert. Im Morgenland heißt er Scheitan, im Abendland Satan alias Luzifer, Beelzebub, Samiel, Dapertutto, Mephisto oder anders.

So vielfältig wie sein Name ist auch sein Ursprung. Die Phantasie hatte über Jahrtausende Freigang und sie hat auf der Suche nach ihm viele dunkle Winkel aufgespürt. Ob vom Himmel gefallen oder dem Abyssos enstiegen, beides stimmt. (Jesaja 12-14; Lukas 10,18) Alle kennen ihn aus ihren Heiligen Schriften und wissen, dass er einst Unheil anrichten konnte, aber heute keine Macht mehr über sie hat. Er lauert hinter vielen Kulissen auf sein Stichwort. Im christlichen Mittelalter aber haben die Gläubigen über ihn gelacht, wenn er in ihren Mysterienspielen auftrat. Im Islam bewerfen ihn die Mekka-Pilger an der Kaaba offiziell mit Steinen zum Abschluss ihrer Hegire. Im Christentum weiß sich der Gläubige durch fortgesetzte Bekeuzigung von ihm erlöst, im Islam befreit er sich von ihm wiederholt durch seine Steinigung.

Aber trotz Kreuzigung und Steinigung ist der himmlische Revoluzzer immer wieder da.

In der deutschen Divina Commedia "Faust" tritt er zunächst als Pudel auf, als schwarzer canis terrestris. Den Feuerstrudel, den der Adlatus Wagner hinter ihm sieht, hält sein Professor für "Augentäuschung". Da ist Vorsicht geboten, ist er doch längst dafür bekannt, Tierkostüme zu probieren. Damals schon im paradiesischen Gebüsch stellte er als schleichende Schlange die raffinierte Frage: Sollte Gott gesagt haben? Später erschien er, als Affe, Auerhahn oder Eule, als Herr der Fliegen, Ratten, Wanzen, Läuse und an sakrosanktem Ort zum Schrecken der frommen Gemeinde sogar als Löwe, wie es im Brief an den Heiligen Petrus geschrieben steht. (1. Petrus. 5,8) Die Frage aber ist: Warum tritt er überhaupt auf? Warum wird er überhaupt religionshistorisch, literarhistorisch oder dramaturgisch so häufig beschworen? Welche Rolle spielt er im Ensemble?

An der Rampe

Die Antwort darf zunächst ausgesetzt werden. Wir meinen sie ohnehin zu kennen. Im Prolog des Faust scheint sein Part beispielhaft vorgezeichnet, dort steht er als Mephisto an der Rampe als Legat des Herrn, von seinem "Alten", oder "großen Herrn", höchst persönlich legitimiert:

"Du darfst auch da nur frei erscheinen; / Ich habe deines gleichen nie gehaßt. [...] / Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, / Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;

Drum geb' ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt, und muß, als Teufel, schaffen." (Vers 337-343) - Mephistos Kommentar: "Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern, / Und hüte mich mit ihm zu brechen. / Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, / So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen." (Vers 350ff.)

Dass er "frei erscheinen" soll, dürfte wohl meinen, als Mensch. Dem Gelehrten salutierend stellt er sich endlich vor als "fahrender Scholar". (Vers 1178ff.) Die Kostümierung passt nicht nur zur Kulisse, sondern steht ihm gut, aber der Mensch im irdischen Parkett weiß, sie ist gewiss nur scheinbar "des Pudels Kern", seine wahre Absicht steht noch aus. Zunächst beantwortet er Fausts Frage nach seinem Wesen korrekt:

"Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht / Ist wert daß es zu Grunde geht; / Drum besser wär's, daß nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element." (Vers 1338-1344)

Obwohl er sich als "der Geist der stets verneint" ausgibt, gleichsam als Agent des Nichts, geriert er sich gleich darauf als Herr der Welt: Er bietet Faust die Wette an, ob es dem gelehrten Herrn wohl möglich sei, für immer der Welt zu entsagen und ihren Reizen und Lüsten durch geistige Askese zu widerstehen und in der Rolle der geistigen Weltherrschaft zu triumphieren?

Doch was immer ein Mephisto als luziferischer Agent zu versprechen vermag, sein Angebot ist nie ohne Hinterhalt. Seine literarisch kostümierten Auftritte und Versprechungen sind Legion. Trotz zahlreicher Szenen großer Poeten mögen zwei Beispiele seine diabolische Kunst demonstrieren, eines aus der späten Romantik, eines aus der Gegenwart.

Der "Graue Herr"

Adelbert von Chamisso gehört zu den Kindern von Revolutionsflüchtlingen, die die Offerte Napoleons, auf ihre Besitztümer zurückzukehren, ausschlugen und es vorzogen, im Gastlande zu bleiben. Der Page der Königin Luise von Preußen und spätere Leutnant in der preußischen Armee zog sich schließlich aus allen militärischen und politischen Ämtern zurück und widmete sich als poetisierendes Mitglied des Berliner Nordsternbundes und des Serapionkreises zunächst der Poesie, ehe er sich als Naturwissenschaftler und Weltumsegler einen Namen erwarb. Seine im Freundeskreis Aufsehen erregende Märchen-Novelle "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" schrieb er im Kriegsjahr 1813.

Die Geschichte vom verlorenen Schatten meinen wir zu kennen, aber ist uns auch der "Graue Herr" im Gedächtnis? Peter Schlemihl, eben von einer Meerfahrt zurückgekehrt, stellt sich einem reichen Gönner vor, der in seinem Park am Nordertor eben eine vornehme Gesellschaft unterhält. Das Empfehlungsschreiben seines neuen Gastes kaum beachtend, brilliert er gerade im "Glanze seiner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit" mit dem Satz: "Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million, der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft."

Unter den Gästen befindet sich ein in unauffälligem Grau gekleideter Herr, der aus der "Schoßtasche eines altfränkischen grautaffetenen Rockes" ungewöhnliche Dinge hervorzaubert, mit denen er die Wünsche der Gartengesellschaft befriedigt: ein Heftpflaster, einen türkischen Teppich, ein Zelt und schließlich drei Rappen mit Sattel und Zaumzeug! Als Schlemihl sich erschrocken zurückzieht, folgt ihm der Graue Herr und erbittet höflich beredt seinen Schatten gegen ergiebige geldzaubernde Wunderdinge. Um den lästigen Bittsteller abzuschütteln, tauscht er seinen Schatten gegen das niemals leer werdende Glückssäckel des Fortunatus und, obwohl hinfort für immer ein reicher Mann, wird er seines Lebens nicht mehr froh.

Schlemihl merkt sehr bald, mit wem er sich eingelassen hatte. Er wird den Grauen nach einer Verkettung unseliger Ereignisse glücklicherweise mit der heiligen Formel wieder los: "So beschwör ich dich im Namen Gottes, Entsetzlicher! hebe dich von dannen und lasse dich nie wieder vor meinen Augen blicken!" Das fromme Wunder geschieht. Er ist ihn los, arm und einsam zieht er sich in eine Höhle der Thebaischen Wüste zurück.

Mit Zulassung Gottes vergiftet

Dass Thomas Mann die Schlemihl-Geschichte kannte, wissen wir. Als er seinen nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Roman mit dem schwerwiegenden Titel "Doktor Faustus" versah, stand zu erwarten, dass die Figur des Diabolus dort seine Rolle spielen wird.

Adrian Leverkühn, so heißt Doktor Faustus hier als genialer Musiker. Der weiß bereits um seine durch eine schamhaft verborgene Krankheit verursachte Außenseiterstellung. Die Abwehr des ihn heimsuchenden Besuchers und Versuchers vollzieht sich in einer erregten "Contritio", damit aber bekennt er immerhin seine Einsicht in die kirchliche Chance sakramentaler Befreiung. Angesichts seines befremdlichen Gesprächspartners beharrt er damit unerschrocken auf der Freiheit seiner Existenz und billigt seinem anmaßenden Gegenüber allenfalls eine von höherer Warte dirigierte Sendung zu:

"Was ich mir zugezogen, und weswegen du willst, ich sei dir versprochen, - was ist denn die Quelle davon, sag, als die Liebe, wenn auch die von dir mit Zulassung Gottes vergiftete?"

Im Übrigen ist er der Meinung, sein Gegenüber sei gar nicht existent, er sei nichts als nur eine hallutionäre Fieberprojektion.

Aber das Gespräch mit ihm scheint durch anspielerische Bemerkungen auf sein intimes Geheimnis mehr und mehr real zu werden, wenn es auch für ihn bis zum Ende offen bleibt, ob der Gesprächspartner, der sich als Sammael vorstellt und, seinen Namen, hinterhältig hinweisend auf Adrians verborgene Krankheit, als "Engel des Giftes" übersetzt, Wirklichkeit ist oder doch nur Projektion des kränkelnden Subjekts.

Der Bericht, als Geheimdokument von Adrian selbst gleichsam als Erinnerungsprotokoll niedergeschrieben, ist als authentisches Dokument von seinem Jugendfreund Zeitbloom, einem sich als mittelmäßig verstehenden Intellektuellen, posthum aufgefunden und in der Biographie seines bewunderten Freundes öffentlich gemacht worden.

Der sich Sammael nennende Gast sitzt unangekündigt auf Adrians Sofa.

"Saß allein hier im Saal, nahendt bei den Fenstern, die mit den Läden vermacht, vor mir die Länge des Raums, bei meiner Lampe und las Kierkegaard über Mozarts Don Juan. [...]

Ich starre ins Halblicht, fasse ihn zornig ins Auge. Ist ein Mann, eher spillerig von Figur, längst nicht so groß wie Sch., aber auch kleiner als ich, - eine Sportmütze übers Ohr gezogen, und auf der anderen Seite steht darunter rötlich Haar von der Schläfe hinauf; rötliche Wimpern auch an geröteten Augen, käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze; über Quer gestreiftem Trikothemd eine karierte Jacke mit zu kurzen Ärmeln, aus denen die plumpfingrigen Hände kommen; widrig knapp sitzende Hose und gelbe, vertragene Schuhe, die man nicht länger putzen kann. Ein Strizzi. Ein Ludewig. Und mit der Stimme, die Artikulation eines Schauspielers."

Ein Strizzi-Typ

Dass der unheimliche Gast Kälte ausstrahlt, ist aus dem szenischen Dekor seiner höllischen Herkunft begreifbar. Aber seine personale Erscheinung überrascht zunächst, denn was hätte ein Strizzi-Typ schon diabolisch Verbindliches zu sagen? Aber es zeigt sich im Gespräch, dass trotz der inneren Abwehr der vor seinen Augen stattfindenden Fiebertraum-Projektion der Besucher über alle personalen Einzelheiten seines fiebernden Partners genauestens Bescheid weiß. Mit diesem Wissen legitimiert er seine Anwesenheit und rechtfertigt in bestechender oder gar in überzeugender Weise sein Mandat.

Er sei keine Fieber-Vision, sondern bare Wirklichkeit, sei schon immer anwesend gewesen, habe ihn beraten und unauffällig geleitet, auch damals, als er unbedingt Esmeraldas Liebe trotz ihrer Warnung erbettelte. Damals habe er dafür gesorgt, dass die Krankheit sich bei ihm einniste, ihre Ausbreitung sei unaufhaltsam.

Adrian merkt sehr wohl, dass der Besucher ein Manager der Zeit ist und ihm möglicherweise "Zeit verkaufen" will. So ist es auch. Der Zeitverkäufer verspricht ihm, dem ohnehin rettungslos erkrankten Syphilanten, vierundzwanzig Jahre ruhmvollen Daseins. Er könne und werde aufgrund seiner als Meningitis sich spezifizierenden Infektion große Werke hervorbringen und ein berühmter Tonsetzer werden.

Adrian, der Künstler, dem seine Krankheit wohl bewusst ist, weiß zugleich, dass er keine Chance hat, seinem Verhängnis zu entgehen. Er lässt sich wehrlos die Bedingungen seiner ihm verbleibenden Existenz aufzwingen und anerkennt damit willenlos das Bündnis.

Er ist wie alle diabolisch erhobenen prominenten Fälle ein Exempel, diesmal aber ein Exempel künstlerischer Lebenskunst, eines Lebens in der Aura des schönen Scheins auf einem hauchdünnen aber künstlich verschönten Untergrund über dem Nichts. Der Künstler als ästhetischer Nihilist, als schöngeistiger Anarchist, ein rauschhaft umgetriebener Freigeist, vor dem niemand und nichts sicher ist, wenn er seinem schöpferischen Instinkt freien Lauf lassen kann. Einzig allein eine unheilbare Krankheit kann ihn hemmen und am Ende der Tod.

Literarische Teufelsbeschwörungen - cui bono? Literarische Darstellungen - es ließen sich sehr, sehr viele aufzählen und untersuchen - sind keine religiösen Manifestationen, diese aber sind bei allem hohen Anspruch auch literarische Szenerien. Genauer: Religiöse Offenbarungen sind auch Literatur, aber Literatur ist keine Offenbarung. Eine Verwechslung mag nahe liegen, sie wäre folgenschwer, aber nicht zwingend.

Was war die Strategie?

Auffallend ist, dass alle, die mit dem Teufel literarisch zu tun hatten, ihm auf den Leim gegangen sind. Auch Faust. Und sie alle kamen nur mit großem Aufwand und mit seligen Zufällen wieder von ihm los.

Hat Faust eigentlich die Wette gewonnen? Natürlich nicht. Aber man erfährt, dass der Anbieter am Ende wie immer der Verlierer ist, abermals verlässt er, sei's als Berater, Komplize, Spion, Agent oder Wettpartner, als dummer August und armer Teufel die Bühne.

Was also war denn nun die Strategie des "großen Herrn"? Oder was wollte er eigentlich mit seinem mephistophelischen Diener den Menschen zu verstehen geben?

Seine irdische Welt schwebt in einem Universum, wo "sich der Mensch die kleine Narrenwelt, Gewöhnlich für ein Ganzes hält" aber der Mensch, "der kleine Gott der Welt" (Vers 281. 1348) haust am äußersten Rand einer Milchstraße, die mit vielhundert Milliarden Sonnen und Sternen besät ist, und sie ist nicht die einzige und gewiss nicht die bedeutendste unter den Milliarden Milchstraßen in diesem schier unendlichen Universum. Warum eigentlich so viel Aufwand um das winzige Lebewesen in diesem mit unendlich weiten Welten bestirnten Nichts? Mit dem Urknall sind für den homo physicus und mathematicus alle Probleme gelöst. Nicht so für den homo theologicus, der sich umgetrieben weiß von der Frage: Wer oder was hat die Urknall-Mine so urplötzlich losgetreten? Gott? Und warum überhaupt? Vielleicht ist es der mephistophelische Auftrag als Legat des "großen Herrn" nur, bei den Menschen eben diese Frage anzuregen, mit der er den echolosen Abgrund seiner Herkunft und seines weltlichen Daseins und überhaupt des Universums immer aufs Neue auszuloten versuchen möge, ob oder wie er ihn finden könnte, seinen Schöpfer.

Das klassische Exempel Faust ist seit Jahrzehnten dem Gebildeten wohlvertraut. Aber der aufmerksamere Leser und Zuschauer begreift: Mephisto ist in der Tat überall, ist in allen Kostümen immer eine verkleidete Projektion seiner selbst.

Wo aber wohnt er, der Herr dieser Welt, und was ist seine geheime Agenda? Vielleicht beantwortet sich die Frage von selbst bei einem Blick in den Spiegel. Schlüpft dort nicht des Pudels Kern? Und also daher die aufwendigen literarischen Beschwörungsszenen mit der Frage nach seinem Mandat?

Ja. Insofern ist Kunst nicht allein die ästhetische Verhüllung des Nichts, sondern eben doch eine Offenbarung - die unseres Seins. Jetzt wissen wir Bescheid.

Dieter Arendt

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