Die Globalisierung aller Lebensbereiche, die Abgabe nationaler Autonomie und Kompetenzen an die Europäische Union und die durch den neoliberalen Internationalismus auf dem Sektor der Finanzen ausgelösten Krisen haben die Welt an den Abgrund geführt. Die entfesselte internationalisierte, zentralisierte Lebenswelt scheint durch die überkommenen politischen Instrumente nicht mehr beherrschbar und steuerbar zu sein. Wo sie als "market-driven society" zur Herrschaft gelangt, wie zum Beispiel in der "Wirtschafts- und Staatsbürgernation" Bundesrepublik und der Berliner Republik, vollzieht sich ein dramatischer Werteverlust hin zu einer "egoistischen Erfolgs- und Profitgesellschaft".
Und so gewinnt die Idee auch in diesem Buch politischen Ausdruck, eine Wende in dieser Entwicklung durch eine Rückbesinnung auf einen den Nationalstaat tragenden Nationalismus herbeizuführen. So könne man sich auf das "im kleineren Maßstab Machbare" besinnen und Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und "auf gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen beruhendes ökologische Verantwortungsbewusstsein" gegen neoliberalistische egoistische Slogans bewirken. Nun sind wir Deutsche in dieser Hinsicht gebrannte Kinder. Wenn es darum einen Maßstab gäbe, einen "gerechtfertigten" von einem "ungerechtfertigten" Nationalismus zu unterscheiden, dann wäre ein Buch dieses renommierten Autors eine große Hilfe für politische Entscheidungen.
Jedoch der Leser wird enttäuscht. Schon der Titel verwirrt mehr, als er klärt. Kann man Illusionen "verlieren"? Wenn Illusionen Trugbilder sind, deren Falschheit mittels der Kriterien Wahrheit oder Wirklichkeit erwiesen werden kann, sollte man froh sein, desillusioniert zu werden. Ebenso, wenn Illusionen ideologisch zur Täuschung eingesetzt werden. Dann verliert man sie nicht, sondern wird aufgeklärt, und der Nationalismus ist keine Zielvorstellung mehr. Das meint Hermand aber offenbar nicht. Vielmehr will er gerade nicht "auf alle älteren Nationalkonzepte" verzichten, sondern sie mit einem "wahrhaft demokratischen Geist" anfüllen und die individuelle Selbstrealisierung mit dem "Ideal der Freiheit mit Begriffen wie Gleichheit und Verbrüderung" verbinden. Nebenbei: "Brüderlichkeit" ist nicht dasselbe wie "Verbrüderung". Weshalb die Ideale von 1789 keine Illusionen waren, obwohl sie 1794 mit Blut besudelt wurden, und was sie in unserer Lebenswelt bedeuten könnten, wird angedeutet, aber nicht konkretisiert. Vielleicht meint er ja, Illusionen seien so etwas wie "unabgegoltene Utopien", wie Ernst Bloch das einst genannt hat. Aber das wird nicht geklärt, und so rettet er sich ins Ungenaue.
Das geht mit allen wichtigen Begriffen so: Ungeklärt bleibt, wie man den semantisch vieldeutigen Begriff "Nationalismus" verstehen soll und was den deutschen von den anderen "gerechtfertigten" Nationalismen unterscheidet, zumal ja Nationalisierung und Internationalisierung historisch in einer eigentümlichen Dialektik miteinander verbunden sind. Ungeklärt bleibt, was ein Volk zu einem Volk macht. Dies ist um so ärgerlicher, als Hermand schon im Vorwort aus der Geschichte des Nationalismus vom Mittelalter bis zur Gegenwart "mit unwiderleglicher Klarheit" folgert, "dass es unsinnig wäre, einfach (...) von einer 'deutschen Nation', einem 'deutschen Volk' zu sprechen", eine These, die gegen die völkische Ideologie der Nazis wiederholt wird: So etwas wie ein "deutsches Volk" habe es nie gegeben. Wenn ein Volk durch eine soziale "homogene Masse" definiert wird, dann hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Volk gegeben. Jede Gesellschaft der Geschichte hat soziale Schichtungen, die homogene Überzeugungen nicht ausschließen. Wenn ich richtig gelesen habe, verdienen nur zwei "Illusionen" in der langen Geschichte des deutschen Nationalismus das Prädikat "gerechtfertigt": Die im Gefolge des nationalen Hoffnungssturms nach 1813?/?14, weil sie "freiheitsbestimmt" war.
Zweitens der "gescheiterte Versuch der DDR" unter Walter Ulbricht, "das andere, bessere Deutschland zu sein", immerhin unter dem Kommando der sowjetischen Internationale. Doch dieser Traum endete mit Honeckers Entmachtung Ulbrichts und "scheiterte an der mangelhaften Konsumgüterversorgung innerhalb der DDR". War das der alleinige Grund für den Untergang der DDR?
Das Buch enttäuscht auch formal wissenschaftlich. Es gibt sich mit Hunderten von wörtlichen Zitaten den Anschein eines Lehrbuches, aber kein einziges wird nachgewiesen. Ein entstelltes Adorno-Zitat löst Skepsis aus. Literaturgeschichtlich kenntnisreich, bietet das Buch aber nichts Neues. Über einige Wertungen (Goethe, Schiller, Bismarck) kann man sich und über die Darstellung Nietzsches muss man sich ärgern.
Jost Hermand: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus. Böhlau Verlag, Köln 2012, 390 Seiten, Euro 34,90.
Peter Steinacker