Weiche Steine

West-östliche Musik
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Tigran Mansurian, in Beirut geboren und in Armenien aufgewachsen, hat die steinige Geologie seiner Heimat in die Musik übertragen.

Es heißt, Armenien sei wie eine Bettlerin, der man statt Brot einen Stein gegeben habe. Die Bettlerin, so die Geschichte weiter, nahm den Stein - und aß die weichen Teile. Der Komponist Tigran Mansurian, 1939 in Beirut geboren und in Armenien aufgewachsen, hat die steinige Geologie seiner Heimat in die Musik übertragen. An der Schnittstelle zwischen östlichen und westlichen Musiktraditionen erwachsen, erscheint sie beim ersten Hören karg und spröde. Die Monodie, Einzelgesang vor sparsamer, oft asketischer instrumentaler Kulisse, gehört zu Mansurians bevorzugten Mitteln.

Wer nun wäre geeigneter, die weichen Teile der Steine, die im Innersten der Askese verborgene Leidenschaft zu extrahieren, als die Geigerin Patricia Kopatchinskaja? 1977 in Moldawien geboren, hat sie einen außergewöhnlichen Zugang zu Klang und Komposition. Intuitiv, von innen her nähert sie sich dem Geist eines Werkes, bis es aus ihr heraus spricht: die Musikerin als Medium, als energetischer Kanal. Nicht: Sie spielt. Sondern: Es spielt durch sie. Wer Allgemeingültiges sucht, das unumstößliche Wesen hinter der Notenschrift, wird sich an Patricia Kopatchinskaja reiben, weil ihm die Darbietung zu egozentrisch-exaltiert scheint, weil die vermutete Intention des Komponisten oder der Komponisten hinter der Interpretation zurückweicht. So stark ist die Persönlichkeit, dass sie den Klang vollauf durchtränkt - das muss man nicht mögen. Aber man wird es lieben, sobald man Musik nicht als etwas Unumstößliches, sondern in jedem Moment Neues, Lebendiges sieht. Vielen Komponisten ergeht es so, weshalb sie Werke eigens für Patricia Kopatchinskaja schreiben - wie Tigran Mansurian die wunderbare Romanze für Violine und Streichorchester. Eine andere Ausnahmemusikerin, für die Mansurian 2012 das titelgebende Stück "Quasi parlando" geschrieben hat, ist Anja Lechner. Ihr facettenreicher Ton, der in pastellenen Passagen seine schönsten Blüten zeigt, berührt durch eine Bescheidenheit, die gleichwohl von großer Kraft und intensivem Ausdruck zeugt. Wie Patricia Kopatchinskaja hat Anja Lechner eine große Neugierde für das Schaffen zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten.

Besondere, faszinierende Momente entstehen schon gleich zu Beginn dieser CD, wenn Cello und Geige beim 1978 geschriebenen Double Concerto ineinander verschmelzen, so dass sie wie mit einer Stimme singen. Es ist ein bedingungsloses Miteinander, in das sich auch die Amsterdam Sinfonietta mit seiner künstlerischen Leiterin Candida Thompson einfügt. Ob die armenischen Steine weich werden, wenn sie es hören?

Tigran Mansurian - Quasi parlando. ECM New Series 23234810667.

Ralf Neite

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