Karfreitag und Pfingsten in einem

Wie die Kirchen Europas den Ersten Weltkrieg religiös überhöhten und verbrämten
Fenster in der Kirche von Les Andelys/Normandie: Ein Soldat betet zur Jungfrau von Orleans. Im Hintergrund die brennende Kathedrale von Reims, die im September 1914 von deutschen Bomben getroffen wurde. Foto: akg-images/ Yvan Travert
Fenster in der Kirche von Les Andelys/Normandie: Ein Soldat betet zur Jungfrau von Orleans. Im Hintergrund die brennende Kathedrale von Reims, die im September 1914 von deutschen Bomben getroffen wurde. Foto: akg-images/ Yvan Travert
Im Hintergrund der Kriegsbegeisterung von Pfarrern und Universitätstheologen standen auch Säkularisierungsängste, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Kirchen breitgemacht hatten, und die Hoffnung, der Krieg werde zu einer Rückkehr an die Altäre führen, meint Gerhard Besier. Der deutsche Kirchenhistoriker, der auch an der amerikanischen Universität Stanford lehrt, schildert, wie der Krieg auf beiden Seiten religiös gedeutet wurde.

Im Sommer des Jahres 1914 sagte Adolf von Harnack zu seinen Studenten: "Wenn jetzt der Krieg mit ehernen Schritten entgegenkommt, wie nehmen wir ihn auf? Wir brauchen nur hinzusehen auf die Straße! Ruhig, kräftig und schließlich auch jubelnd. Wir treten in die Zeit der Opferfreudigkeit."

Die Beobachtung des Berliner Startheologen Harnack entsprach einer breiten Wahrnehmung: In den großen Städten jedenfalls - nicht nur in Deutschland - begrüßten viele Menschen, namentlich Akademiker, den Krieg wie einen Heilsbringer, eine Offenbarung Gottes. Dabei verließen sich alle kriegführenden Völker auf die Zusage ihrer nationalen Kirchen, dass Gott mit ihnen sei, wenn sie nur treu ihre patriotische Pflicht erfüllten. Jede der kriegführenden Nationen sollte in dem Glauben kämpfen, das auserwählte Gottesvolk zu sein. Der Krieg wurde von allen Seiten, wenn auch unterschiedlich intensiv, als eine Art Kreuzzug interpretiert - aus der Sicht Deutschlands für die christlich-deutsche Kultur und gegen den sittlich-moralischen Verfall des Westens, aus der Sicht Frankreichs für die christlich-französische Zivilisation und gegen die deutsche Barbarei, aus der Sicht Großbritanniens und der usa in Verantwortung für die demokratische Freiheit und gegen die rohe Despotie der Mittelmächte.

Freilich hätte die religiöse Botschaft vom göttlichen Beistand allein kaum Tragfähigkeit besessen, zumal offenkundige Unstimmigkeiten - wie die Allianz des Westens mit Russland und nichtchristlichen Kolonialvölkern - die Glaubwürdigkeit der hehren Motive in Frage stellte. Ohne den nationalen Rausch, das Aufschäumen der patriotischen Gesinnung im Angesicht des "Großen Krieges", hätte die durchaus sekundäre religiöse Aufladung des Krieges gar nicht eintreten können.

"Der Krieg hatte der christlichen Botschaft, gleichsam auf dem Rücken der nationalen Gesinnung neue Geltung verschafft," urteilt der Historiker Dietrich Beyrau. Als die sonst meist leeren Kirchen sich plötzlich mit Begeisterten füllten, obwohl es weder Weihnachten noch Ostern war, als die religiöse Kultur von der Peripherie ins Zentrum der öffentliche Aufmerksamkeit rückte und die Geistlichkeit wieder als Fürsprecher des Volkes gefragt war, erkannten die Theologen aller kriegführenden Länder auf einmal die ungeheure Gewalt dieser Erweckung.

Die Rückkehr zu den Altären war nicht das einzige. Auch die schweren innenpolitischen Konflikte wie die laizistisch-religiösen Spannungen in Frankreich schienen in dieser "Union sacré" wie weggeblasen, das Volk stand in großer Einheit fest zusammen.

Synkretismus aus Religion und Patriotismus

Der Jubel über den erlösenden Aufbruch aus der Alltagsstarre wollte in Deutschland kein Ende nehmen. Voller Abenteuerlust und begierig, den ritterlichen Zweikampf zu bestehen, meldeten sich junge Männer in hellen Scharen an die Front. Nur weg von der Schule, der Hochschule und der Werkbank, damit sie auch ja nichts versäumten, ja nicht zu spät kämen.

In Frankreich war das kaum anders. Dieser Synkretismus aus patriotischen und religiösen Gefühlen konnte sich dort rasch zum "Heiligen Krieg" steigern, wo der Feind auf vaterländischem Boden unerbittlich wütete - vor allem in Belgien und Frankreich. Nach den ersten Kriegsverbrechen der deutschen Armee im neutralen Belgien wuchs dort und bei der Entente die Gewissheit, einen gerechten Krieg gegen die Barbarei der "Hunnen", einen "Heiligen Krieg" für die Zivilisation zu führen.

Auch die Deutschen meinten einen Heiligen Krieg zu führen. Als schwer und düster zeichnete man das deutsche Schicksal, die Situation einer Kulturnation, die, eingekreist von boshaften Neidern, einen tragischen Überlebenskampf zugunsten der Volksgemeinschaft führte, einen apokalyptischen Krieg gegen eine Welt von Feinden, durchaus vergleichbar mit dem, was dem alttestamentlichen Volk Israel widerfahren war.

In dieses Bild unverstandener Größe und integrer Moral passte vorzüglich der "deutsche Reformator", dessen Thesenanschlag sich wunderbarerweise im Herbst 1917 zum 400. Male jährte. Das war ein hochwillkommener Anlass für aufwändige Lutherfeierlichkeiten zur Selbstrechtfertigung der eigenen Rolle im Großen Krieg. Für die deutsche Zuversicht sprach auch die Magie der fortgesetzten Siege: Von den Freiheitskriegen bis zum deutsch-französischen Krieg 1870/71 war Gott "mit den Vätern" gewesen. Hatte er damit nicht seine unverbrüchliche Treue verbürgt?

Für alle Seiten war es ein gerechter und darum ein von Gott gesegneter Krieg. Je nach Kriegslage nahmen die religiösen Deutungen freilich eine andere Wendung. Fürchteten sich die Franzosen Anfang September 1914 schon vor der Niederlage als einer verdienten "Strafe für ein gottloses Frankreich", so konnten sie wenig später im "Wunder an der Marne" Gottes Beistand für ihre zivilisatorische Mission erkennen. Harte militärische Herausforderungen interpretierte man als Prüfung Gottes, die von seinem Volk noch höhere Opfer forderte. Verlorene Schlachten galten als eine Art Katharsis, die den Weizen von der Spreu trennte. Viele Predigten thematisierten die Kriegszeit als "Bußzeit", als Weckruf Gottes zur Umkehr an sein vom Glauben abgefallenes Volk.

Auf der anderen Seite kursierten in Deutschland Feldpostkarten mit der Aufschrift "Gott strafe England" - eine Parole, die sich die Soldaten zu eigen machten, indem sie sie zur Interpretation ihres Handelns nutzten. Den Ansporn für eine inbrünstige Opferbereitschaft gaben nicht nur verschiedene Heilige, die sich für die große Sache hingegeben hatten, sondern auch der Herr Jesus selbst. Die Mütter und Frauen der gefallenen Helden sahen sich im Leiden mit der Jungfrau Maria vereint. Insofern stellte die christliche Tradition ein reiches Repertoire an Sieg-, aber auch an Trost- und Durchhaltedeutungen zur Verfügung. Das Repertoire schien flexibel genug, um jeder denkbaren Wendung eine befriedigende Sinndeutung abzugewinnen. Diese reichte von der Furcht vor Gottes Strafe bis zur Hoffnung auf seinen Schutz - vom großen Karfreitag bis zum alles überstrahlenden Pfingstwunder.

Das Golgatha der Front war reich an Bekehrungen, führte aber auch zu einem verheerenden Glaubensverlust. "Wie soll ein Mensch nach Tannenberg oder Verdun noch glauben können?", fragt der französische Zeithistoriker Étienne Fouilloux. Religiöse Ergriffenheit und abgrundtiefe Leere lagen dicht beieinander. Das vollbrachte Opfer, der Tod des geliebten Helden, galt als schöne Vollendung des Martyriums, war zugleich aber auch eine schwere Tragödie für die betroffenen Familien. Insofern gingen nationale Hochgefühle und abgrundtiefer Schmerz in ihrer verwirrenden Ambivalenz unvermittelt ineinander über.

Auch Glaube und Aberglaube verbanden sich zu einer schwer entwirrbaren Allianz. Der Krieg war die Stunde der Devotionalien: Bilder der Lieben oder einer Heiligen, Briefe, Medaillen, Andachtsbücher, Bibeln und andere Amulette im Marschgepäck versprachen Sicherheit vor Kugeln und Tod. Wohlbemerkt: Nicht der Inhalt der Heiligen Schrift verhieß Schutz, sondern der Besitz des mitgetragenen Buches. Träume als Vorahnungen des Kommenden gehörten ebenso zu den spiritistischen bis mirakulösen Glaubensformen wie die irrationale Vorstellung, eine besondere Unverwundbarkeit zu genießen. Schließlich geschahen in den Schützengräben Zeichen und Wunder, die man gelegentlich auf das direkte Eingreifen von Engeln zurückführte.

"Als die Deutschen kurz davor standen, unsere Stellungen zu überrennen", heißt es im Bericht eines britischen Soldaten, "eilten uns unsichtbare Engel, angeführt vom Erzengel Michael, zu Hilfe." Welcher Religion die Soldaten auch angehörten, es verband sie eine Art Grabenfatalismus, der eine Reihe vager Glaubensformen hervorrief, so die Vorstellung, ein Soldat werde nur sterben, wenn er an der Reihe sei oder eine Kugel seinen Namen trage. Gott war für diese Männer ein unerforschlich und willkürlich handelndes Wesen, das das erschreckende Abschlachten entweder nicht stoppen wollte oder konnte.

Mit Recht konstatieren die Historiker Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, dass im modernen Europa seit der Französischen Revolution "Nation und Religion kontinuierlich aufeinander bezogen blieben". Trotz ihres etablierten Status in der deutschen Gesellschaft litten beide Kirchen aber am Ende des 19. Jahrhunderts unter einem rasch wachsenden Bedeutungsverlust. In Kirchenleitungen, theologischen Fakultäten und konservativen Kreisen machten sich wachsende Säkularisierungsängste breit. Man zehrte von den Erzählungen der großen nationalen Erhebungen 1813, 1848 und 1870/71, an denen - so die herrschende Meinung - die Religion einen bedeutenden Anteil gehabt habe. Die Aufbruchsstimmung zu Beginn des Weltkrieges, so schien es, knüpfte an die große nationale Heilsgeschichte an, setzte diese fort und führte, durch Gottes Hand selbst, das Vaterland zu seiner wahren Bestimmung - als Werkzeug im Rahmen des göttlichen Weltenplans.

Bei "einem solch gewaltigen Geschehen" wie dem Kriegsausbruch durften die Kirchen als der einzig berufene Deuter des göttlichen Willens nicht fehlen. Das religiöse Erwachen der Massen, das man wahrzunehmen meinte, rief förmlich nach geistlicher Führung. Die spannungsgeladene und wohl auch euphorische Ausnahmesituation, die bei den Leuten durchaus widersprüchliche Erregungszustände auslöste, verlangte nach einer eindeutigen, autoritativen Interpretation und ließ die Verunsicherten und religiös Entwöhnten auch wieder in den Gotteshäusern nach Antworten suchen. Bestärkt durch das überwältigende Relevanzerlebnis überhöhten viele Pastoren und Theologen das nationale Geschehen noch. Indem sie die noch unspezifische Erregung und Anspannung heiligten, nahmen sie den Leuten ihre Ungewissheit und überführten den durchaus ambivalenten nationalen Aufbruch in eine eindeutige religiöse Erweckung. Das, was dunkle Ahnungen hervorrief, erhielt durch die Worte der Gottesmänner eine letzte Eindeutigkeit, die vorerst alle Fragen und Zweifel verstummen ließ. Nicht nur das Vaterland, Gott selbst forderte ihren Einsatz. Es blieb nicht beim irdischen Heil der Nation, sondern dieses wurde gleichgesetzt mit dem überirdischen Seelenheil.

Erst vor diesem Hintergrund offenbarte sich der tiefere Sinn soldatischen Leidens und Sterbens. So wie Christus sein Leben für die Seinen hingegeben hatte, opferten sich nun in seiner Nachfolge auch die für Gottes Sache fallenden Soldaten.

Auch Gefühle, die gemeinhin nicht zur christlichen Kultur gehörten, wurden im Dienst für den Krieg getauft - zum Beispiel die Hasstiraden, die sich gegen Großbritannien und seinen "Händlergeist" richteten. Deutsche Dichter und Wissenschaftler interpretierten ihren Abscheu zur höchsten Form der Liebe um, damit dieses Gefühl mit der christlichen Kultur kompatibel wurde. So dichtete der spätere NS-Poet Will Vesper: "Weil dieser Hass, Herr Jesu Christ, die Frucht der höchsten Liebe ist. Mein Vaterland in tiefer Not: Hass allen Feinden bis in den Tod."

Ähnlich wie deutsche Intellektuelle erhofften sich auch französische und britische eine Art kollektiver Wiedergeburt aus dem Krieg. Man erwartete neue Ideen und die Bildung einer idealen Volksgemeinschaft jenseits eines schal gewordenen liberalen Individualismus. Je länger der Krieg dauerte und sich die Siegeschancen zugunsten der Entente wendeten, umso selbstgewisser präsentierte sich zum Beispiel die französische Kriegskultur.

Für Deutschland hingegen erfüllten sich die religiös beglaubigten Verheißungen nicht. Infolgedessen kam es zu einem Umschwung der Mentalitäten, dem die Kirchen nur zum geringsten Teil folgen konnten. Zwar gab es einige wenige Theologen und Pastoren, unter ihnen Harnack, die ab dem Frühjahr 1917 ihre nationalprotestantische Perspektive zu revidieren begannen. Aber die große Mehrheit wies solche Selbstkorrekturen empört zurück.

Die heilsgeschichtliche Verknüpfung der christlichen Botschaft mit dem Schicksal der deutschen Nation erwies sich mit den Niederlagen als zunehmend verhängnisvoll. Denn der Kriegsverlauf falsifizierte das "Gott mit uns". Infolgedessen vergrößerte sich die Distanz zwischen den Kirchenleitungen und dem Kirchenvolk. Während jene in ihrer großen Mehrheit weiter Durchhalteparolen predigten und zu noch höherer Opferbereitschaft aufriefen, sehnte sich dieses nach einem Ende des Krieges.

In dem Maße, wie sich diese Kluft vertiefte, verloren die kirchlichen Akteure an Glaubwürdigkeit und moralischer Autorität. "Die Folge dieses Kurses war, dass die Kirchen ihre Rolle als Sachwalter und Pfleger der religiösen Bedürfnisse und der religiösen Empfindungen der Bevölkerung teilweise einbüßten. Christliche Gesinnung und Religiosität wanderten gleichsam aus der kirchlichen Arena aus," urteilt der Historiker Wolfgang J. Mommsen.

Aber auch die Kirchen in den siegreichen Ländern hatten letztlich das Nachsehen. Einer britischen Umfrage zufolge hatten nur knapp 20 Prozent der Soldaten eine "vitale Verbindung" zu irgendeiner Kirche. "Der Große Krieg schwächte den Einfluss und die Autorität der Kirchen", schreibt der britische Historiker Stewart J. Brown, "und er unterminierte alle Bemühungen zum Aufbau einer christlichen Ökumene."

Im Nachhinein erschien die religiöse Begeisterung von 1914, wenn nicht als Fehlwahrnehmung, so doch als Strohfeuer. Gemessen am Gottesdienstbesuch ist zu konstatieren, dass dieser in Deutschland schon 1915 abnahm und seit 1917 unter die Vorkriegszeit fiel. Der von den Kirchenoberen proklamierte Gotteskrieg erwies sich von seinem Ausgang her auch als religiöse Katastrophe und schwere Erschütterung für die Volkskirche.

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Gerhard Besier

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