Die Politik der Patriarchen

Die Kirchen der Ukraine sind ein Spiegelbild der politischen Kämpfe
"Ukraine, Russland, Weißrussland – gemeinsam heiliges Russland". Foto: dpa/ Iliya Pitalev
"Ukraine, Russland, Weißrussland – gemeinsam heiliges Russland". Foto: dpa/ Iliya Pitalev
So gespalten wie die politischen Lager in der Ukraine sind auch die Kirchen des Landes. In der zerklüfteten Kirchenlandschaft spiegeln sich russische Machtansprüche ebenso wie das Streben nach Unabhängigkeit. Dass dies nicht erst eine Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist, zeigt der Journalist Thomas Gerlach mit einem Blick auf Gegenwart und Geschichte der Kirchen in der Ukraine.

Am 18. Juli 1995 kam es im Stadtzentrum von Kiew zu einer denkwürdigen Schlägerei. Die Raufbolde waren nicht etwa Anhänger verfeindeter Fußballmannschaften, sondern orthodoxe Christen. Vier Tage zuvor war Patriarch Wolodimir, das Oberhaupt der noch jungen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Kiewer Patriarchat, gestorben. Der Leichenzug bewegte sich zur Sophienkathedrale oberhalb des Maidan. Sie war im Mittelalter die bedeutendste Kirche der Kiewer Rus, dem Vorläuferstaat Russlands, der Ukraine und Weißrusslands. Seit 1990 gehört sie zum Unesco-Weltkulturerbe. In dieser Kathedrale sollte nach dem Willen seiner Anhänger der Kiewer Patriarch die letzte Ruhe finden. Doch der Leichenzug kam nur bis zum Tor.

Denn auf dieses zentrale Heiligtum erhebt auch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat Anspruch, die dem russischen Patriarchen unterstellt ist. Um Neutralität zwischen den verfeindeten Schwestern zu wahren, verboten die Kiewer Behörden die Beisetzung in der im Staatsbesitz befindliche Kirche, die seit langem ein Museum ist. Dem Leichenzug wurde der Einlass verwehrt. In heiligem Zorn begannen die Anhänger Wolodimirs vor dem Tor den Gehweg aufzureißen und ein Grab auszuheben. Es kam zu einer Massenschlägerei mit Gläubigen der konkurrierenden Kirche und der Polizei. Über fünfzig Verletzte wurden in Krankenhäusern behandelt. Der Sarg aber wurde vor dem Haupteingang auf dem Bürgersteig in die Erde gesenkt. Die Tätlichkeiten markierten den Tiefpunkt der Beziehungen zwischen den zwei größten orthodoxen Kirchen der Ukraine. Das Grab, inzwischen in Marmor gefasst, erinnert jeden Passanten an das kirchliche Zerwürfnis im Land.

Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat zählt die meisten Anhänger im Osten und Süden des Landes, während die Konkurrenz vom Kiewer Patriarchat in der West- und Zentralukraine stärker vertreten ist. Doch die Grenzen sind fließend, und so gleicht die religiöse Landkarte der Ukraine einem Flickenteppich - mit erheblichem Konfliktpotenzial. Es gibt nicht nur zwei verfeindete Kirchen, sondern vier. Außerdem reichen die Frontlinien tief in die Politik hinein. An der Spitze des blutigen Leichenzugs vom Juli 1995 stand unter anderem Ex-Präsident Leonid Krawtschuk. Krawtschuk, der ein Jahr zuvor abgewählt worden war, hatte sich als Präsident eifrig der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Kiewer Patriarchat angenommen, die sich 1992 von Moskau losgelöst hatte - so wie ein Jahr zuvor der gesamte ukrainische Staat. Doch der Abspaltung folgte nur ein Teil des ukrainischen Klerus', mit ihm insgesamt etwa sieben Millionen Gläubige. Ein großer Teil der orthodoxen Christen hielt sich weiterhin an Moskau.

Geld und Politik

Bei allem religiösen Eifer geht es in dem Konflikt auch um recht irdische Dinge, um Geld, Immobilien, Grundbesitz - und um politischen Einfluss. So hat seit Krawtschuk jeder ukrainische Präsident seine kirchenpolitische Präferenz und jeder neue Amtsinhaber vollzog eine Neuausrichtung. Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma wandte sich vom Kiewer Patriarchen ab und hielt der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat die Treue. Wiktor Juschtschenko, der Sieger der "Orangenen" Revolution 2004/2005 bekannte sich wiederum zum Kiewer Patriarchen. Dessen Nachfolger Wiktor Janukowitsch dagegen ließ sich vom herbeigeeilten Moskauer Patriarchen Kyrill am Tag seiner Amtseinführung im Kiewer Höhlenkloster den Segen erteilen.

Übergangspräsident Oleksandr Turtschinow fiel in dieser Hinsicht aus der Reihe. Der Fünfzigjährige ist Laienprediger der Baptisten. Nach Jahren der Zerrüttung dürften sich die Patriarchen in der Ablehnung des Interimspräsidenten völlig einig gewesen sein. Denn so sehr wie die beiden Rivalen um den Führungsanspruch in der Ukraine ringen, so einig sind sie in der Ablehnung anderer Kirchen und Konfessionen - zu spüren bekommen das insbesondere die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche und die Griechisch-Katholische Kirche, die ebenfalls in der Ukraine ihre Heimat haben.

So zerklüftet wie sich die Ukraine heute darstellt, so homogen war die kirchliche Landschaft Jahrhunderte zuvor. Die orthodoxe Kirche Moskauer Prägung war die alles beherrschende Kraft links und rechts des Dnjepr, wo die Christianisierung der Ostslawen 988 ihren Anfang genommen hatte. Großfürst Wladimir, kurz zuvor selbst in Chersones (heute Sewastopol) auf der Krim getauft, ließ die Kiewer Stadtbevölkerung am Flussufer antreten und bei einer Massentaufe im Dnjepr den neuen Glauben annehmen. Seitdem ist Kiew die Wiege der gesamten russisch-orthodoxen Christenheit. Als Hauptstadt der Kiewer Rus, des großen ostslawischen Reiches, gilt sie zudem als "die Mutter der russischen Städte", wie Wladimir Putin nach der Annexion der Krim halb bewundernd, halb drohend betonte.

Verlängerter Arm des Vatikan?

Die westukrainischen Gebiete schlugen als erste eine eigenständige Entwicklung ein. Dabei half das römisch-katholische Polen, zu dem Galizien und Wolhynien gehörten. Polen war daran interessiert, seine orthodoxen ukrainischen Untertanen stärker an sich zu binden. Und 1594 erreichte die polnische Krone ihr Ziel. Nach Geheimverhandlungen unterzeichneten sechs orthodoxe Bischöfe in Brest einen Unionsvertrag mit dem Papst in Rom. Die griechisch-katholische, mit Rom vereinte, "unierte" Kirche war geboren.

Allerdings wurde sie in den Regionen, die nach den polnischen Teilungen wieder unter die Zarenkrone gerieten, sofort verboten und erbittert bekämpft. Doch in den Landesteilen, die zu Österreich kamen, behaupteten sich die Unierten. Mehr noch, sie versuchten sich im Zuge der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert als Nationalkirche zu positionieren. Nach der sowjetischen Besetzung Ostpolens im September 1939 wurde die Kirche verfolgt und 1946 unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen endgültig aufgelöst. Viele Priester wanderten aus, sehr viele wurden inhaftiert. Die unierte Kirche ging für Jahrzehnte in den Untergrund. Erst unter Michail Gorbatschow wurde sie wieder legalisiert.

Äußerlich ist sie für westliche Besucher kaum von orthodoxen Kirchen zu unterscheiden. Ritus und Liturgie sind byzantinisch. Der niedere Klerus darf, wie in der Orthodoxie üblich, heiraten. Gottesdienste werden aber nicht in Kirchenslawisch, sondern in Ukrainisch gehalten. Allerdings ist die Kirche geistlich und rechtlich dem Papst unterstellt. Für "echte" Orthodoxe gilt diese Kirche daher als verlängerter Arm des Vatikan. Doch vor allem in der Westukraine erlebte sie nach 1990 einen starken Zulauf. Durch ihre Geschichte ist die Griechisch-Katholische Kirche stärker als jede andere große Glaubensgemeinschaft in der Ukraine proeuropäisch eingestellt. 4,3 Millionen Ukrainer bekennen sich zu ihr. Das geistliche Zentrum ist Lemberg, ihr bekanntester Vertreter ist derzeit Ministerpräsident Arseni Jazeniuk. Lemberg ist auch das Zentrum der römisch-katholischen Kirche, der vor allem Polen und polnischstämmige Ukrainer angehören. Doch das Verhältnis zwischen den Römisch-Katholischen und Unierten ist nicht ungetrübt, halten doch viele Römisch-Katholische die Unierten nicht für richtige Katholiken.

Lutheraner helfen auf dem Maidan

Nicht nur die Griechisch-Katholische Kirche wollte sich als Nationalkirche profilieren. Auch die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche bemühte sich darum. Die aufkommende ukrainische Nationalbewegung forderte im 19. Jahrhundert auch in jenem Teil der Ukraine, der vom Zaren beherrscht wurde, eine unabhängige, im Gegensatz zu den Unierten aber echte orthodoxe Kirche mit eigenem Oberhaupt - eine autokephale Kirche. Unter dem Zaren blieb das ein Traum. Nach dem Umsturz im Oktober 1917 machten sich die Autokephalen die von der Bolschewiki betriebene Trennung zwischen Staat und Kirche zunutze und ließen sich registrieren. Im September 1921 wurde erstmals ein Oberhaupt geweiht. Doch die Freiheit währte nicht lange. Nach Stalins Terror und Zweitem Weltkrieg wanderte die Hierarchie in die USA und nach Kanada aus. Erst um 1990 kam es zu einem Wiederaufleben der autokephalen Kirche in der Ukraine.

Bleiben die evangelischen Kirchen. Seit den von Stalin angeordneten Deportationen der ansässigen Deutschen im August 1941 ist die Zahl der Lutheraner mit 1500 Gläubigen heute sehr gering. Zuvor gab es in den neurussischen Gebieten, die Zarin Katharina II. ihrem Imperium einverleibte, zahlreiche deutsche Siedlungen und Kirchengemeinden. In der Regel waren es Lutheraner, in Zaporizzja, dem damaligen Alexandrowka, siedelten Mennoniten. Doch von dem blühenden Gemeinwesen blieb nach der Deportation nicht viel übrig. Allerdings kündet manche Kirche heute wieder von den Lutheranern. Und an manchen blüht neues geistliches Leben. Etwa in Kiew in der Katharinen-Kirche, die in Deutschland bekannt wurde, als die Gemeinde Demonstranten Anfang des Jahres vom Maidan unterstützte und versorgte. Oder in Odessa, wo 2010 die lutherische St. Paul-Kirche, über Jahrzehnte eine Ruine, wieder eingeweiht werden konnte. Seitdem firmiert die Kirche als "Deutsches Zentrum St. Paul". Die Kirche ist nicht nur Zentrum der lutherischen Gemeinde Odessas, sondern auch der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU). Nach den blutigen Unruhen Anfang Mai bot die Kirche den Opfern psychologische Hilfe an.

Die Lutheraner haben sich einen nicht unerheblichen kulturellen Einfluss bewahrt, kirchenpolitisch fallen sie jedoch nicht ins Gewicht. Und es stellt wohl auch keinen Richtungsentscheid dar, wenn die evangelischen Christen auf der Krim nun selbst wählen sollen, ob sie in Zukunft zur ukrainischen oder zur russischen evangelischen Kirche gehören wollen. Mehr als ein Verwaltungsakt ist damit nicht verbunden.

Ganz anders verhält es sich bei den orthodoxen Christen. Ob Kiewer Patriarchat, Griechisch-Katholisch oder Autokephal: Russland hat diese Kirchen - nach seiner Lesart nur Häresien - nie akzeptiert. Wie in einem Missionsgebiet hat es in der Ukraine immer wieder eigene Landmarken gesetzt, seien es Klöster, Kirchen oder Denkmäler. Eine der jüngsten entstand 2005, als ein patriotischer russischer Verein dem Slawenapostel Andreas auf dem Gelände der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol ein Denkmal errichtete. Ein Pendant hatte der Verein zuvor auf den Kurilen eingeweiht, der Inselgruppe im Pazifik, die von Japan beansprucht wird. Beide Denkmäler zusammen gelten als "Symbol der Einheit der russisch-orthodoxen Traditionen". Sie sind die vorläufigen Grenzpfeiler eines russisch-orthodoxen Imperiums von Japan bis zur Krim.

Schwindende Autorität

Dieser Hegemonie haben sich ukrainische Kleriker und Laien immer wieder entzogen. Die spektakulärste Abkehr vollzog 1992 ausgerechnet der Kiewer Metropolit Filaret, Moskaus Statthalter in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat. Der Gottesmann schloss sich den Autokephalen an. Selbstverständlich wurde er von Moskau umgehend mit Bannfluch belegt. Doch als seine Zusammenarbeit mit dem sowjetischen kgb ans Licht kam, wurde Filaret schnell wieder von den Autokephalen verstoßen. Kurzerhand gründete Filaret mit seinen Getreuen eine neue Kirche - eben die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Kiewer Patriarchat. Als Patriarchen setzte er Wolodimir Romanjuk ein. Seit dessen Tod und jenem spektakulären Leichenzug ist der heute 85-jährige Filaret selbst das Oberhaupt.

Seine Position ist gefestigt. Erstmals seit Jahren haben sogar die Moskautreuen Gespräche über eine Annäherung mit ihm begonnen. Denn mit der Annexion der Krim wächst in den Reihen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat das Unbehagen gegenüber Moskau. Ein ranghoher Bischof sprach sich auf dem Höhepunkt der Krise für die "territoriale Integrität der Ukraine" aus. Immer mehr ukrainische Priester sollen als Zeichen des Protests in ihren Gebeten Patriarch Kyrill, ihr Kirchenoberhaupt, nicht mehr erwähnen. Und Metropolit Sofroni Dmitruk aus Tscherkassy, der schon lange für eine Unabhängigkeit von Moskau eintritt, nannte Wladimir Putin ohne Umschweife einen "Banditen".

Moskaus Autorität schwindet in den ukrainischen Kirchen - mit möglicherweise fatalen Folgen. Denn je länger sich der Ukrainekonflikt hinzieht, desto größer ist die Gefahr, dass dem Moskauer Patriarchat die Ukraine komplett entgleitet. Schließlich könnte sich auch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat von Moskau emanzipieren, gar einen Ausgleich mit dem Kiewer Patriarchat suchen. Und so wirkt es wie ein Gleichnis, dass Metropolit Wladimir, Moskaus derzeitiger Statthalter, seit Jahren in seiner Residenz im Kiewer Höhlenkloster krank darniederliegt.

Inzwischen sind vom Moskauer Patriarchen Kyrill konziliante Töne zu hören. Das fällt dem 67-Jährigen umso leichter, da der neue Präsident Petro Poroschenko sich an die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat hält. Bei der Stimmabgabe am Tag der Präsidentschaftswahl hat er sich effektvoll bekreuzigt. Schon zwei Tage später, der Kreml konnte sich noch zu keiner Anerkennung der Wahl durchringen, preschte Kyrill vor. Mit salbungsvollen Worten gratulierte er Petro Poroschenko zum Wahlsieg. Dessen wichtigste Aufgabe werde sein, die verfeindeten Parteien zu versöhnen und "alles für die Wiederherstellung von Frieden und Verständigung zu tun". Kyrill sprach sich in dem Schreiben aber auch gegen eine Einmischung des Staates in das "kirchliche Leben" aus. Selten war die Angst des Moskauer Patriarchen so deutlich formuliert wie hier. Die Angst, dass sich die drei ukrainischen-orthodoxen Kirchen zu einer neuen Nationalkirche vereinen könnten - und Moskau ein für allemal das Nachsehen hätte. Dann wäre Kiew, die "Mutter der russischen Städte" nicht nur politisch, sondern auch geistlich verloren.

Interview zur Ukraine mit der EKD-Auslandsbischöfin

Thomas Gerlach

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