Handy-Nacken

Ein Punktum
Jeden Morgen segelt hinter einem knappen Quadratmeter Fläche ein kluger Kopf auf dem vermeintlichen Ozean der Untiefe und nutzt die Zeit zur stillen Betrachtung.

Morgens zählt die S-Bahnfahrerin zu den auffälligen Personen. Mit ausgebreiteten Armen sitzt sie raumgreifend im Waggon. Mit ihrem bedruckten Laken verkündet sie raschelnd ihre Botschaft: Hier lese ich meine Zeitung und will nicht anders, halte mein Haupt erhoben gegen die mediale online-Flut. Jeden Morgen segelt hinter einem knappen Quadratmeter Fläche ein kluger Kopf auf dem vermeintlichen Ozean der Untiefe und nutzt die Zeit zur stillen Betrachtung.

Rings um sie herum hängt die Generation Smartphone direkt an den Drähten ihrer Netzwerke und würdigt sie keines Blickes. Sie kauert in sich versunken und ist verstöpselt, die Nacken sind gebeugt, die Köpfe fußwärts, die Augen kleben auf den Mattscheiben. Die einzig sichtbare Regung ist das wogende Wisch und Weg der Daumen im lockeren Rhythmus. Wie weggeknickt ist das Haupt. Und schrieb nicht neulich schon die Zeitung, in der die Frau in der S-Bahn las, von der Zivilisationskrankheit "Handy-Nacken"?

Vor kurzem geschah es dann: Es tauchte etwas völlig unvorhergesehenes auf, wie aus einer anderen Welt. Eingeklemmt zwischen zwei jungen Männern im Standardmodus saß eine junge Frau ohne Handy. Ihre Finger waren in flinker Bewegung, und die S-Bahnfahrerin lugte hinter ihrem Blatt hervor: tatsächlich, ihr Gegenüber führte vier Stricknadeln in den Händen. Gut 15 Zentimeter lange kleine Degen aus blitzendem Stahl, die behände geführten Werkzeuge der Ahnen.

Das geübte Auge erkannte sogleich das Bündchen, zwei rechts, zwei links im Rippenmuster gestrickt. Danach zog die junge Frau für den Schaft fleißig ihre Runden über die vier Nadeln, nichts schien sie dabei aus der Ruhe bringen zu können. Es war ein Bild wie aus der Zeit gefallen. Und eines konnte die S-Bahnfahrerin noch erkennen: Diese junge Frau strickte "evangelisch". Wissend, dass man früher die Technik des Strickens in katholischen Schulen anders lehrte als in evangelischen Einrichtungen. Bei der evangelischen Variante wird der Strickfaden um den linken Zeigefinger gewickelt, und bei der katholischen wird nach jeder Masche die Wolle um die Stricknadel nach vorne geholt. Doch gleich, welche Strickart auch immer: Das Handwerk erfordert volle Konzentration und wird minutiös im Auge behalten.

Nach dem Erlebnis in der S-Bahn geriet die Zeitungsleserin ins Grübeln. Hatte nicht die Strickerin dieselbe Kopfhaltung wie alle anderen Handy-Nacken im Zug? Der S-Bahnfahrerin fällt ein: Sie musste schon vor Jahren das Sticken aufgeben. Das konzentrierte Starren und Fixieren des Stoffes, auf dem die Reihen der Unter- und der Oberstiche des Kreuzstiches wuchsen, taten ihrem Rücken nicht gut. So hatte sie die Produktion von Lesebändchen und Monogrammen erst einmal eingestellt.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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