Nach Don Quijote

Coetzee erfindet Kindheit Jesu
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Coetzees Dystopie ist immer auch die Spiegelung des Paradieses, selbst wenn in diesem Paradies gearbeitet werden muss.

Zwei Gefahren lauern, will ein Autor einen Jesusroman schreiben: Das Buch verkommt zur Auratisierungsprosa, wird Fanliteratur, oder der Roman wird als Endlager für theologischen Giftmüll missverstanden. Coetzee steuert souverän zwischen den zwei Gefahren hindurch, seine Tonlage vermeidet nervöse Höhen und Tiefen, manchmal glaubt man während der Lektüre die Stimme von Pier Paolo Pasolinis Jesus zu hören.

Die Exposition greift das Thema der Flucht auf, aber jetzt nicht nach Ägypten, sondern übers Meer in ein Land, in dem Spanisch gesprochen wird. Auf der Überfahrt lernt der fünfundvierzig Jahre alte Simón den allein reisenden fünfjährigen David kennen und kümmert sich um ihn. Ihr beider Asyl entpuppt sich als Dystopie, als wolle der Autor durchspielen, was Francis Fukujama mit seiner These vom Ende der Geschichte gemeint haben könnte. Als Wurzel des Übels wird in diesem Land das Begehren ausgemacht, weil im Akt des Begehrens Leidenschaften ins Spiel kommen, die die Grundstimmung einer auf Einsicht und Freundschaft gegründeten Lebensdeutung zerstören. Die Sexualität, so eine der vielen leisen Ironien, soll ohne Aufwallung vollzogen werden, und die Frauen sind durchaus bereit, den Neuankömmlingen in die Kunst der gepflegten Triebabfuhr einzuführen. Auch Augustin hat bekanntlich behauptet, im Paradies hätten Adam und Eva ohne Leidenschaft kopuliert, offenbar vergleichbar den Dehnübungen bei der morgendlichen Gymnastik. Die Gefühlshölle bleibt geschlossen.

Coetzees Dystopie ist immer auch die Spiegelung des Paradieses, selbst wenn in diesem Paradies gearbeitet werden muss. Nicht zufällig wählt Coetzee als Beispiel für die Arbeit den Hafen aus, wo Waren gelöscht werden. Eine geniale Metapher. Über die Frage, ob man technische Hilfsmittel einsetzen sollte, geraten Neuankömmlinge und Einheimische in einen kurzen Streit. Das Freizeitangebot fällt im Jenseits der Utopie natürlich beschränkt aus: Philosophiekurse sind beliebt, wenn es darum geht, das Wesentliche zu erkennen und die Freundschaft zu feiern. Und auch der Sport soll keine agonalen Erinnerungen aufrufen.

In dieser Nachwelt wird der junge David sozialisiert, sein Ziehvater Simón findet eine Frau, in der David seine verschwundene Mutter wiederzuerkennen glaubt, die ihn auch tatsächlich adoptiert und ihre Sonderstellung in einem Schlosshotel, einer Art Schloss Elmau, aufgibt und sich dann sehr entschieden um David kümmerte (endlich eine Maria, die Tennis spielen kann). Simón weckt beim jungen David, der durchgängig nicht als Portalfigur künftiger Kitas geschildert wird, Interesse für seine ganz persönliche Bibel: Cervantes' Don Quijote. Jetzt sieht man klarer: Der erwachsene Jesus aus dem Geschlecht Davids lernte seine Erzählkunst bei Cervantes. Nur mit dem Rechnen klappt es nicht so. Vielleicht sind auch die Zahlen der Anfang allen Übels. Weil David in ein Internat abgeschoben werden soll, reist er mit seinen Adoptiveltern und Freunden nach Estrellita (Sternchen) weiter. Offenbar befindet sich dort der Stern von Bethlehem. Die zweite Utopie der Dystopie. Coetzee lässt offen, ob die Dystopie nicht das wahre Paradies ist, vielleicht ist das aber auch eine Altersfrage.

J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 352 Seiten, Euro 21,99.

Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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