Dem Geist von 1914 erlegen

Ein Berliner Theologe arbeitete für die Verständigung der Kirchen Deutschlands und Englands
Im Konstanzer Inselhotel wurde eine internationale christliche Friedenskonferenz vom Beginn des Ersten Weltkrieges überrascht. Foto: dpa/ Christian Beutler
Im Konstanzer Inselhotel wurde eine internationale christliche Friedenskonferenz vom Beginn des Ersten Weltkrieges überrascht. Foto: dpa/ Christian Beutler
Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) setzte sich für die Versöhnung der Nationen, Konfessionen und Klassen ein. 1914 beschwor er zwar den "Heiligen Krieg" - und pflegte doch weiterhin internationale Kontakte. Christa Stache, die frühere Leiterin des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, stellt den Theologen vor, den Bundespräsident Gustav Heinemann, als den "ungewöhnlichsten Menschen" bezeichnete, dem er begegnet sei.

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war einerseits durch die zunehmende Aggressivität zwischen den Großmächten und ein ausuferndes Wettrüsten geprägt, andererseits versuchten zur gleichen Zeit aber verschiedene Initiativen dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzuwirken. Es sei hier nur an die verschiedenen Aktivitäten der internationalen Arbeiterbewegung erinnert, die von den Quäkern getragenen Konferenzen zur Einführung internationaler Schiedsgerichte, die seit 1895 regelmäßig in Lake Mahonk stattfanden, und die Haager Friedenskonferenzen, die auf Initiative von Zar Nikolaus II. und Königin Wilhelmina der Niederlande 1899 und 1907 veranstaltet wurden. Alle diese Initiativen waren Ausdruck der weitverbreiteten Friedenssehnsucht unter den Menschen. Aber sie verhinderten nicht den Ersten Weltkrieg.

Während der 2. Haager Friedenskonferenz 1907 kamen zwei Delegierte, der englische Quäker Joseph Allen Baker und der evangelisch-reformierte Bankier Eduard de Neufville aus Frankfurt am Main, ins Gespräch und stimmten darin überein, dass es die tiefste Pflicht der Christen sei, den Frieden auf Erden und das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Sie wollten ihren Beitrag dazu leisten, indem sie die Begegnung und die Verständigung von Christen aus beiden Ländern anregten.

In ihre Heimatländer zurückgekehrt, nutzten sie ihre politischen und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten, um für ihre Idee zu werben. Sie stießen auf positive Resonanz, so dass zu Beginn des Jahres 1908 der Erzbischof von Canterbury, als Oberhaupt der anglikanischen Kirche von England, in Verbindung mit dem Erzbischof der römisch-katholischen Kirche Englands und den Repräsentanten der englischen Freikirchen ein Schreiben an den Berliner Oberhofprediger Ernst von Dryander richtete, in dem Vertreter der deutschen Kirchen und deutsche Mitchristen zu einem Besuch nach England eingeladen wurden.

Der Vorschlag wurde in Deutschland begeistert aufgenommen, weshalb in der Zeit vom 26. Mai bis 3. Juni 1908 eine große Gruppe deutscher Kirchenleute in England weilte. Sie wurden dort aufs Freundlichste empfangen und in vielen Begegnungen, einschließlich einer Audienz bei König Edward VII., allgemeiner Sympathie und Wertschätzung versichert. Der intensive Wunsch nach Freundschaft zwischen den Kirchen wurde in jeder der zahlreichen Reden betont.

Nach ihrer Rückkehr gingen die deutschen Kirchenvertreter sofort daran, einen Gegenbesuch der Engländer vorzubereiten. Er fand vom 7. bis 20. Juni 1909 statt und war ebenso perfekt organisiert und ein ebenso großer Erfolg. In ihrer Begeisterung beschlossen beide Seiten, Komitees einzurichten, die die Beziehungen zwischen den Kirchen beider Länder fördern, persönliche Kontakte pflegen und allen Vorurteilen und Missverständnissen entgegentreten sollten.

Als Oberhofprediger von Dryander 1909 einen geschäftsführenden Sekretär für das Komitee zur Vorbereitung des Gegenbesuchs der englischen Kirchenvertreter in Deutschland suchte, hatte er die glückliche Idee, mit diesem Amt seinen Patensohn, Friedrich Siegmund-Schultze, zu betrauen, Adjunkt am Domkandidatenstift zu Berlin, der gerade sein Zweites Theologisches Examen abgelegt hatte. Er war bereits durch sein Interesse für England aufgefallen und hatte Aufsätze über die englischen Kirchen veröffentlicht, schien also für die Aufgabe prädestiniert zu sein.

Für Siegmund-Schultze war das eine Weichenstellung für sein weiteres Leben. Es war seine tiefste Überzeugung, dass Christen nach dem Vorbild Jesu, durch den die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen besiegelt worden ist, für die Versöhnung der Menschen untereinander wirken müssen, nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten. Deswegen setzte er sich mit aller Energie für die Verständigung unter den getrennten Kirchen, den Frieden unter den Völkern und die Versöhnung der Klassen ein. Siegmund-Schultzes lebenslanges Engagement in der ökumenischen Bewegung, der christlichen Friedensbewegung und in seinen sozialen Projekten war darauf ausgerichtet, dem Ziel einer versöhnten Welt ein Stück näher zu kommen.

Zunächst aber sollten im Rahmen des 1909 gegründeten Kirchlichen Komitees für die Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland die Verbindungen über den Ärmelkanal geknüpft werden. Und das war keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der der Wettlauf um die Aufrüstung der Flotten einen Höhepunkt erreichte, begleitet von heftigen Ausfällen und Hasstiraden in der veröffentlichten Meinung beider Länder.

Es zeigte sich sehr schnell, dass in England die Basis für diese Freundschaftsarbeit sehr viel breiter war als in Deutschland. Sie wurde dort zum guten Teil von den Quäkern getragen, die weniger aus politischen Rücksichten handelten, als die Geistlichen der staatsnahen deutschen Landeskirchen, und dadurch aktiver und effektiver auftreten konnten. Zwar traten dem Komitee in Deutschland bald alle leitenden Geistlichen der Landeskirchen bei, vermutlich dadurch motiviert, dass Kaiser Wilhelm II. die Arbeit mit Wohlwollen betrachtete. In der inhaltlichen Arbeit war das deutsche Komitee - im Gegensatz zu den Engländern - aber sehr darauf bedacht, dass sich seine Aktivität ausschließlich auf die freundschaftlichen Beziehungen der Kirchen konzentrierte. Jeder Anschein, auch für weitergehende Friedensinitiativen oder allgemein politische Äußerungen zuständig zu sein, wurde vermieden und in Abrede gestellt. Im kirchlichen Bereich blühten aber für einige Jahre die Beziehungen auf. Durch Besuche und Austauschprogramme wurden auf den unterschiedlichen Ebenen Möglichkeiten geschaffen, das andere Land zu bereisen, kennenzulernen und mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Die Rückkehrer brachten Erfahrungen und Erinnerungen mit, die in keiner Weise dem in der Presse vermittelten Feindbild entsprachen.

1912 gab Siegmund-Schultze den Posten des geschäftsführenden Sekretärs des deutsch-britischen Komitees auf. Er gründete 1913 "Die Eiche. Vierteljahresschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen". Ab 1915 trug sie noch den Untertitel "Organ für soziale und internationale Ethik". Ermöglicht wurde die Pressearbeit durch die finanzielle Unterstützung der amerikanischen Carnegiestiftung, die weltweit Friedensbestrebungen förderte. Sie war auf Siegmund-Schultzes Arbeit aufmerksam geworden. Zu dieser Zeit hatte der Berliner Theologe seinem Leben eine grundsätzlich neue Richtung gegeben. Er beendete 1911 eine möglicherweise glänzende Karriere in der preußischen Landeskirche, gab sein Pfarramt an der Friedenskirche in Potsdam auf und zog mit seiner Familie mitten in einen Problembezirk im Osten Berlins. Dort gründete er - nach dem Vorbild der englischen Settlementbewegung - die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost.

Als Privatmann frei von allen kirchlichen und gesellschaftlichen Rücksichten, konnte er nun die Kontakte, die er mittlerweile auch nach Amerika und in die Schweiz geknüpft hatte, pflegen und ausbauen. Und auch eine andere Idee konnte er nun in die Tat umsetzen, die Organisation einer internationalen Konferenz, die unterschiedliche, vor allem kirchliche Friedensinitiativen Europas und der USA miteinander ins Gespräch bringt. Die Konferenz sollte vom 1. bis 3. August 1914 in Konstanz stattfinden. Während der Plan international auf großes Interesse gestoßen war, hatten in Deutschland die hohen Geistlichen im deutsch-britischen Freundschaftskomitee erhebliche Vorbehalte. Zwar sollten einzelne Mitglieder als Privatleute nach Konstanz fahren dürfen, aber eine offizielle Teilnahme des Komitees wurde entschieden abgelehnt. Ja, der Vorsitzende Albert Spiecker wurde sogar aufgefordert, auch auf eine private Teilnahme zu verzichten, um jeden Eindruck zu vermeiden, dass das Komitee bei der Konferenz vertreten sei.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges konterkarierte den Plan, verhinderte aber nicht, dass die Delegierten, bevor sie Konstanz verlassen mussten, Verabredungen trafen, aus denen später der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen und der Internationale Versöhnungsbund hervorgingen.

Im Herbst 1914 konnte sich auch Friedrich Siegmund-Schultze der allgemeinen Stimmung in Deutschland nicht entziehen. Als Pazifist hatte er sich nie verstanden, sondern sich schon früher von den pazifistischen Teilen der Friedensbewegung distanziert. Pazifismus war für ihn eine starre, einengende und illusionäre Ideologie, in der zu viel Theorie und eine zu wenig realistische Einschätzung der Welt und der Macht des Bösen stecke. Trotzdem überrascht es, dass auch Siegmund-Schultze in diesen Wochen vom "Heiligen Krieg" sprach, die Heldentaten der deutschen Armee rühmte und den "Geist von 1914" begrüßte. Letzteres tat er allerdings nicht aus Begeisterung für den Krieg, sondern weil er hoffte, der Krieg werde die sozialen Unterschiede nivellieren und eine Versöhnung zwischen den Klassen herbeiführen - eine Illusion, wie er bald erkannte.

Während der Kriegsjahre unterstützte Siegmund-Schultze niemals öffentlich Friedensinitiativen, von welcher Seite sie auch ausgingen. Er bekannte sich klar zum Patriotismus. Als Deutscher wollte er während des Krieges nicht abseits stehen, sich nicht distanzieren vom Schicksal und auch nicht von der Schuld seines Volkes. Dass der Krieg für einen Christen Schuld bedeutete, darüber gab es für den Theologen keinen Zweifel. Und daraus folgte für ihn auch die Verpflichtung, nach dem Krieg mit umso größerer Anstrengung für eine friedliche Welt zu arbeiten.

Friedensarbeit auf internationaler Ebene war während des Krieges nicht möglich. Aber umso mehr fühlte sich Siegmund-Schultze verpflichtet, alles zu tun, um zur Linderung des Leidens beizutragen, das durch den Krieg entstanden war. So wurde er zu einem der entscheidenden Initiatoren der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland. Aus seiner Überzeugung heraus, dass im Krieg auch der feindliche Ausländer, wenn er in Not geraten ist, sein Nächster sei, dem er als Christ beistehen müsse, engagierte er sich für diese "Caritas inter Arma", zumal er wusste, dass seine englischen Freunde, vor allem die Quäker, ebenso dachten.

Im Oktober 1914 veröffentlichte Siegmund-Schultze einen Aufruf, in dem er zur Unterstützung derjenigen aufforderte, die durch den Krieg unschuldig in Not geraten waren. Und diese Hilfe sollte sowohl Deutschen im Ausland wie Ausländern in Deutschland zugutekommen, durch Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen im In- und Ausland. Diese Initiative unterstützten anfangs nur Einzelne, stieß sie im kriegsbegeisterten Deutschland doch auf viel Unverständnis. Und sie brachte Siegmund-Schultze harte Anfeindungen ein. Er berichtete später, er sei deswegen sogar vor ein Kriegsgericht gestellt worden Aber schon im Laufe des Jahres 1915 fand die Arbeit der Hilfsstelle zunehmend Zuspruch, und als der Aufruf 1916 noch einmal veröffentlicht wurde, konnte eine lange Liste von Organisationen und Privatpersonen angeführt werden, die die Arbeit unterstützten. Selbst in militärischen Kreisen war inzwischen erkannt worden, dass davon auch die deutschen Kriegsgefangenen im Ausland profitierten.

Die Arbeit der Hilfsstelle konzentrierte sich auf England, weil dorthin die besten Verbindungen bestanden. Sie kam Zivilpersonen zugute, die im Ausland vom Krieg überrascht worden waren und keine Möglichkeit zur Heimkehr hatten und über keine finanziellen Mittel verfügten. Desgleichen wurden Zivilinternierte und ihre Familien unterstützt. Einen Schwerpunkt bildete schließlich die Fürsorge und Seelsorge für Kriegsgefangene. Die Hilfsstellen arbeiteten immer in Kooperation mit ausländischen Organisationen, so dass jeder im eigenen Land die Hilfe für die Ausländer ausrichtete.

Nach Kriegsende gehörte Siegmund-Schultze zu den wenigen Deutschen, die im internationalen Rahmen sehr bald als Partner akzeptiert wurden. Dazu trug erheblich bei, dass er während des Krieges den Kontakt zu seinen Freunden aus der Ökumene niemals hatte abreißen lassen. Neben den Verbindungen nach England und Amerika hatte er mittlerweile gute Beziehungen zum Erzbischof von Uppsala Nathan Söderblom angeknüpft. Der versuchte während des Krieges aus seiner neutralen schwedischen Position heraus, für den Frieden zu wirken und spielte in den Zwanzigerjahren eine bedeutende Rolle in der Ökumenischen Bewegung.

mehr zum Thema

Christa Stache

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"