Abseilen

Eine Jugend bei den "Zeugen"
Bild
Unnachahmlich spannend ist ein Roman, wenn uns Lesern Zugang zu einer bisher völlig unbekannten Welt eröffnet wird - wie in diesem Roman von Grace McCleen.

Ein Coming-of-Age-Roman ist jener Roman, den jeder Mensch mit sich herumträgt - die eigene Karriere als Schriftstellerin damit zu beginnen, ist gefährlich, weil die Erfahrungsschätze aus den eigenen Archiven sehr schnell leer geräumt sind. Die Rezepte für diese Romane sind oft ermüdend ähnlich angerührt: zumindest ein Elternteil ist immer unausstehlich, die Freundin zickt, in der Schule wird man gemobbt, die sexuelle Initiation verläuft suboptimal; spannend sind die Abweichungen: Ein Elternteil ist Alkoholiker oder wenigstens arbeitslos, die Freundin erpresst den Lehrer mit einem Video, der Protagonist entdeckt seine Homosexualität oder noch besser: Bisexualität.

Unnachahmlich spannend ist ein Roman, wenn uns Lesern Zugang zu einer bisher völlig unbekannten Welt eröffnet wird wie in dem Roman von Grace McCleen, die ihre Protagonistin in einem armen Landstrich Großbritanniens aufwachsen lässt, erzogen von einem in sich verschlossenen Vater, der seinen Halt in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas findet. Vor dieser Kulisse macht der Ausdruck "Mobbing" durch Mitschüler, die sich über die Rede vom drohenden Harmagedon lustig machen, sofort Sinn; der Tod der Mutter bekommt eine zusätzliche Dramatik, weil sie angesichts des Todes den Überzeugungen der Zeugen Jehovas treu blieb und eine Bluttransfusion verweigerte; und das Leiden des Vaters wird spürbar, weil auch er, Überzeugungen seiner Glaubensgemeinschaft exekutierend, als Streikbrecher gehasst wird.

Judith McPherson bastelt sich deshalb in ihrem Zimmer eine Gegenwelt: aus Spiegeln einen See, aus Keksschachteln Häuser und aus Pfeifenputzern Menschen. Ein Land, wo Milch und Honig fließen, und das so gar nicht zum Alltag der Zehnjährigen passt, die beinahe täglich Bittergemüse essen muss, um, wie die Israeliten, die Knechtschaft zu spüren und die Sehnsucht an das gelobte Land zu schärfen. Wegen der Drohung eines Mitschülers, sie nach dem Wochenende mit dem Kopf in die Toilette zu stecken, versucht sie ein Wunder herbeizuzwingen, indem sie ihre Gegenwelt zur Winterlandschaft umbaut. Das Wunder gelingt: Wegen des Wintereinbruchs bleibt die Schule geschlossen. Ihre eigene Glaubenskrise, die mit einer Glaubenskrise des Vaters verschränkt wird, fängt damit erst an. Beide seilen sich zum Ende aus dem Wachtturm ab.

Die Heldin Judith wirkt auf jeder Seite authentisch, denn McCleen findet die treffende Sprache für das Leid einer Zehnjährigen. Es ist einer der besten Coming-of-Age-Romane der vergangenen Jahre. Hoffentlich ist es nicht der einzige Roman, den Grace McCleen in sich trägt.

Grace McCleen: Wo Milch und Honig fließen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013, 384 Seiten, Euro 19,99.

Klaas Huizing

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"