Am Anfang

Inklusion in der Kirche
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Inklusion, so wird bei der Lektüre des Bandes deutlich, hat einen hohen Anspruch und ist ein selbstreflexiver Prozess mit einer utopischen Perspektive. Diese Sicht entlastet von Schnellschüssen und Resignation.

Nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 ist auch in Deutschland endlich ein ernsthafter Diskurs zum Thema Inklusion in Gang gekommen. Er hat auch Theologie und Kirche erreicht, ist aber erst am Anfang. Das wird umso deutlicher, wenn man die wichtigen Beiträge des Bandes liest: Kaum etwas von den kreativen Ansätzen, die hier vorgestellt und theologisch reflektiert werden, ist bisher Wirklichkeit geworden. Leider. Im ersten Teil werden Perspektiven aufgezeigt, die bei der Einordnung des Themas helfen, im zweiten Teil stehen die Orte kirchlichen Handelns im Fokus.

Der Dresdner Theologieprofessor Ulf Liedke (siehe Seite 27) besteht mit seinen Überlegungen zu Beginn des Bandes darauf, dass die Theologie den Diskurs nicht erfunden habe, ihn aber sinnvoller Weise aufgreifen und reflektieren müsse. Sehr gelungen ist die genaue begriffliche Klärung, die Ralph Kunz in seinem Beitrag vornimmt: Inklusion (und Exklusion) ist nach seiner gut begründeten Ansicht zum einen ein beschreibender Begriff aus der Soziologie, zum anderen wird er ethisch normativ verwendet. Beide Seiten des Begriffes sind hilfreich für die Praxis. Ein korrekter Gebrauch ist wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden. Sein Blick auf die im Vergleich zur Diskussion in Europa weitaus intensiver und länger geführte Inklusions-Debatte in Nordamerika ist ebenso erhellend wie sein Versuch, Gottesdienst als eine Lebensform von Gemeinde zu beschreiben. Damit bietet er einen gut nachvollziehbaren Ansatzpunkt für kirchliche Reflexionsprozesse an. Es scheint angesichts der weit verbreiteten Abkopplung der Kirchen und Gemeinden von der Theologie besonders wichtig, das Potenzial des Gottesdienstes für Inklusion (wieder) zu entdecken.

Nachvollziehbar und anschaulich wird das Thema etwa anhand des Beitrags über die Pädagogik, der von Ines Boban/Andreas Hinz beigesteuert wird - Tenor: Inklusive Ansätze sind eine Utopie, der sich die Gesellschaft nur sehr langsam nähert, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Gerade die Beschäftigung mit der Pädagogik zeigt deutlich, dass es einen Paradigmenwechsel braucht.

Dass die Institutionen der Kirche der Inklusion im Wege stehen, zeigen die Beiträge von Oliver Merz und Martina Holder-Franz zu Menschen mit Behinderungen im Pfarramt: Gerade an diesem Punkt könnte sich die Zukunft inklusiver Kirche erweisen. Und der inklusive Konfirmandenunterricht muss als nicht zu hinterfragendes Element des kirchlichen Selbstverständnisses gelten - auch wenn die Realität oft anders aussieht. In diesem und weiteren Beiträgen wird auf den "Index für Inklusion" Bezug genommen, ein Frage- und Leit-Instrument der Einrichtungen, das bei der inklusiven Ausgestaltung helfen kann. Einige sehr vorbildhafte Beispiele gibt es bereits: die "Integrative Schule Frankfurt" oder die "Evangelische Grundschule Karlsruhe".

Kirchenräume als Orte der Inklusion, besonders im Wechselspiel von Gottesdienst und Diakonie, nimmt Christoph Sigrist in seinem Essay - mit Bezug auf das Theoriemodell von Pierre Bourdieu - in den Blick. Aus der Gemeinwesenarbeit sind solche Erfahrungen von Teilhabe am Ort bereits bekannt. Auf dieser Linie bewegt sich auch Ralph Kunz, der den Aspekt der Gastfreundschaft und den Gedanken einer "Gemeinde als Herberge" in Erinnerung ruft.

Inklusion, so wird bei der Lektüre des Bandes deutlich, hat einen hohen Anspruch und ist ein selbstreflexiver Prozess mit einer utopischen Perspektive. Diese Sicht entlastet von Schnellschüssen und Resignation, fordert jedoch ein grundlegendes Umdenken und entspricht dem Bild vom bereits angebrochenen, aber noch nicht vollendeten "Reich Gottes" in der Welt, an dem es sich lohnt, mitzubauen. Das auf die Praxis zielende und mit viel Information ausgestattete Handbuch ist in diesem Sinne ein sehr wichtiger Baustein.

Ralph Kunz/Ulf Liedke (Hg.): Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, 456 Seiten, Euro 39,99.

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Peter Noss

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