Poesie im Ärmel
Meine Freunde runzeln die Stirn. Kolumbianische Kunst? Kunst und Kultur nur an europäischem Maßstab zu messen, hat Tradition. Auch in Kolumbien, wo man Jahrhunderte lang die Paläste der Kolonialzeit mit europäischer Kunst oder deren Imitationen bis unter die Decke füllte. Doch längst ist das verschwenderische Leben der Kolonialherren Vergangenheit, die meisten Kunstwerke versteigert, in alle Winde verstreut.
Was bleibt, ist die Architektur. Prächtig zeigen sich die alten Dörfer, Kleinstädte wie Villa de Leyva, Socorro, Popayan oder Santa Fé de Antioquia. Jede Kirche ein musealer Schatz, mit den feinsten Holzarbeiten, Gold- und Silberskulpturen aus dem 16./17. Jahrhundert. Und im Eingangsbereich exotische dunkle Christusfiguren mit indianischen Zügen. Don Quijote würde sich auf seiner Rosinante in den alten Pflastergassen zurecht finden, könnte gleich in einem der Innenhöfe, hinter dicken Mauern, verschwinden. In einem jener Höfe, deren Steinfußböden, Brunnen und Veranden Geschichten erahnen lassen, die denen der großen Romanciers gleichen. Leben, um davon zu erzählen, nennt der Kolumbianer Garcia Márquez seine Autobiographie. Durch Kolumbien zu reisen, heißt, von diesem Land der Gegensätze zu erzählen, in dem immer wieder die Grenzen verschwimmen.
Kunst hat in Kolumbien etwas Alltägliches, zum Beispiel auf der Plaza, wo ein charismatischer Poet in einem kleinen Pavillon Lyrik rezitiert, ein Sprechgesang in feinstem Kastilisch. Dazu gesellt sich ein emeritierter Literaturprofessor, Jorge Uribe, der sich in das kleine Örtchen Titiribi in Antioquia zurückgezogen hat. Titiribi. - Rufen nicht alle Vokale nach Poesie? Uribe hat die Literatur im Ärmel, die Zitate schüttelt er beliebig heraus, Calderón de la Barca und Cervantes, Jorge Isaacs und Alvaro Mutis. Spanier und Kolumbianer werden eins.
Das Haus des Professors gleicht einem Kuriositätenkabinett, Bücher bis unter die Decke, im Patio die bunt gewebten Hängematten, die immer noch von der indigenen Bevölkerung in Handarbeit hergestellt werden. Eine kurze Aufklärung: Folklore, Handwerk, selbstverständlich ist das Kunst. Nach zwei, drei Aguardiente, dem typischen Schnaps aus Anis und Zuckerrohr, wird darüber nicht mehr diskutiert.
In Bogotá, der 13-Millionen-Hauptstadt auf einem Hochplateau auf 2600 Metern, wird umso mehr diskutiert. Literatur- und Kunstforen, Galerien und mehr als 58 Museen, intellektuelles Leben hat hier Tradition. Und das berühmte Museo del Oro ist das wahre Eldorado mit den alten Schätzen der Chipchas, der Indianer, die hier lebten und ihren Schmuck lieber in einem See versenkten, als sie den Spaniern zu überlassen.
Mehr präkolumbianische Kunst findet sich im archäologischen Park Sant Agustín, im Südwesten, in den Anden gelegen - weltweit einzigartig mit fünfhundert in Stein gehauenen Riesenstatuen und Monumentalgräbern, Grundlage indianischer Mythologie. Kult- und Totenort, hier sind die Übergänge fließend. Doch unstrittig handelt es sich um Zeugen Jahrtausende alter Kultur.
Interessant wird es auch in Barichara, dem Dorf der Steinmetze von heute. Das liegt an Humberto Cáceres, einem Bildhauer. Seine Werkstatt liegt direkt neben der Straße, im Objektgarten finden sich wunderliche Gestalten, wasserspeiende Indianer - seine Kunst exportiert er bis ins spanische San Sebastian, erzählt er stolz. Im Haus hängt ein Bild von Botero. Ist es echt? Cáceres lacht, eine Kopie, wer kann Fernando Botero bezahlen? Wie alle Kolumbianer verehrt er den großen Bildhauer und Maler, dessen Skulpturen in der ganzen Welt zu sehen sind. Cáceres will noch Boteros Europa kopieren. Ach, was ist schon Europa? Letztlich nichts als eine von einem Stier geraubte Jungfrau. Skulpturen, Mythen, es kommt nur auf den Blickwinkel an, das mit der Kunst und Kultur diesseits und jenseits des Atlantiks.
Angelika Hornig