Persönliche Bestzeit

Warum es wichtig und unerlässlich ist, Menschen nicht voneinander zu trennen
Rainer Schmidt. Foto: André Zelck
Rainer Schmidt. Foto: André Zelck
Der Theologe und Kabarettist Rainer Schmidt wurde ohne Unterarme und mit einem verkürzten rechten Oberschenkel geboren. Für seine Eltern war seine Behinderung ein Schock; er selbst war sich dieser kaum bewusst. Er, der heute als Kabarettist und als Dozent am Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn arbeitet, beschreibt, was für ihn Inklusion bedeutet.

Es ist noch kein Jahr her, da habe ich Inklusion als "die Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen" definiert. Gemeinsam Sport treiben von unterschiedlich Begabten erschien mir ein Problem. Das Zusammenlernen von hoch- und tiefbegabten Schülerinnen und Schülern hielt ich für eine große pädagogische Aufgabe. Menschen mit Behinderungen am kirchlichen Leben zu beteiligen, war meine Herausforderung. Heute denke ich, Inklusion ist eigentlich der Normalfall. Wir müssten einfach aufhören, Menschen, die zusammengehören, voneinander zu trennen. Da würde aus der Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen schnell eine Selbstverständlichkeit werden. Ich habe es nämlich selbst erlebt.

Ich wurde 1965 in eine ganz normale Familie hineingeboren. Ohne Hände und Unterarme und mit einem verkürzten rechten Oberschenkel. Die Aufregung und der Schock waren groß. "Was soll aus dem Jungen werden? Kann der jemals selbständig essen, sich selbständig anziehen? Wird er einen Beruf lernen?"

Zum Glück war nicht nur die Verunsicherung groß, sondern auch der Kampfeswille meiner Eltern. Machten andere Menschen den Vorschlag, mich in einer Einrichtung für behinderte Kinder erziehen zu lassen, weil ich dort optimal gefördert werden würde, sagten meine Eltern: "Nein, der gehört zu uns. Kinder sind ein Geschenk Gottes! Die gibt man nicht her" (auch wenn dieses Geschenk ein bisschen kaputt gegangen ist). Inklusion heißt: Ich gehöre dazu. Denn Menschen mit Behinderungen leben zuerst einmal in der Mitte der Gesellschaft. Babys mit Behinderungen werden nicht in einer Sonderschule geboren. Der Fünfzehnjährige, der nach einem Mofa-Unfall im Rollstuhl sitzt, gehört doch längst zu einem Sportverein, einer Schule, einer Gemeinde. Schlaganfallpatienten sind zuallererst Menschen mit Familien und Freunden. Und da, wo Menschen sich zugehörig fühlen, sich verbunden wissen, ist das wichtigste schon geschafft. Die UN-Behindertenrechtskonvention nennt es "Sense of Belonging", Zugehörigkeitsgefühl. Eltern nennen es "Liebe". Gemeinden nennen es "Verbundenheit in dem einen Leib Christi".

Säuglinge, Pflegestufe 3

Und weil ich ein ganz normaler Säugling war, habe ich ausprobiert, was ich alles machen konnte. Man könnte ja glauben, Säuglinge seien alle schwerbehindert: Sie können nicht reden, nicht gehen, nicht alleine essen und im Kopfrechnen sind sie grottenschlecht. Eindeutige Diagnose: schwerstmehrfachbehindert, Pflegestufe 3. Zum Glück hatte ich genau wie alle Neugeborenen aber eine ganz andere Perspektive. Ich habe mich nur mit der Erforschung und Eroberung der Welt beschäftigt. Und das ließ meine Fähigkeiten von Tag zu Tag wachsen. Niemand fühlt sich zu Beginn seines Lebens behindert. Der Fokus von Neugeborenen liegt ganz auf den Herausforderungen und der Sammlung von Selbst-Stärke-Erfahrungen.

Und so wuchs ich sechs Jahre lang gemeinsam mit allen Kindern des Dorfes glücklich auf. Ich gehörte zu den Kindern und entdeckte spielend die Welt, na gut, das Dorf. Dass ich nicht alles machen und mitmachen konnte, störte weder mich noch andere. Die Älteren konnten mehr als die Jüngeren, Kinder mit Händen mehr als Kinder ohne Hände, wohlhabende mehr als arme Kinder. Zusammengehörigkeit war bei aller Verschiedenheit völlig normal. Und gegenseitige Unterstützung auch. Wer nicht allein über den Bach springen konnte, dem wurde geholfen. Und beim Völkerball war es verboten, auf meine Beine zu werfen, da ich den Ball dort nicht fangen konnte.

Dann wurde ich in eine Sonderschule eingeschult. Als Sechsjähriger habe ich nicht verstanden, warum ich nicht mit meinen Freunden in die Dorfschule gehen durfte. Und ehrlich gesagt, ich verstehe es heute immer noch nicht. Mir ist völlig klar, dass eine kurzfristige Separation manchmal sein muss. Wer krank ist, geht für eine kurze Zeit ins Krankenhaus, damit er gesund wird. Behinderungen sind aber im Unterschied zu Krankheiten nicht veränderbar, nicht heilbar. Warum sollte also ein völlig normaler Mensch ohne Hände dauerhaft in eine Einrichtung gehen, die ihn von der "normalen" Gesellschaft ausschließt? Warum sollte ein Kind mit Down-Syndrom nur mit anderen Down-Syndrom-Kindern spielen und lernen? Warum ein Kind ohne Hände nur mit anderen behinderten Kindern lernen?

Fatale Folgen

Statt mit meinen Freunden fünfzehn Minuten zu Fuß zur Schule zu gehen, wurde ich neunzig Minuten mit einem Fahrdienst zur Sonderschule gefahren. Und weil das eine Ganztagsschule war, kam ich erst gegen 17.15 Uhr zurück. Im Winter zu spät zum Spielen im Dorf. So kam es, dass bereits nach dem ersten Winter die Trennung fatale Folgen in unseren Kinderköpfen hinterließ. Im Frühjahr schlug meine Mutter vor, ich solle doch wieder zum Spielen rausgehen. Meine Antwort: "Was soll ich denn da? Die reden doch sowieso nur über ihre Schule. Da kann ich nicht mehr mitreden. Ich gehöre nicht mehr dazu." Und von meinen Freunden vermisste mich nach einem halben Jahr auch niemand mehr. In Windeseile hatten wir gelernt, dass Menschen entweder behindert sind und dann in eine Sonderschule gehen oder nichtbehindert sind und in eine normale Schule gehen. Die Aufteilung der Menschen in Menschen mit und ohne Behinderungen war uns vorher fremd gewesen. Separation lässt Barrieren in allen Köpfen entstehen. Man wird einander fremd. Dauerhafte Separation ist die Reaktion unserer Gesellschaft auf verunsichernde Vielfalt. Inklusion ist dagegen der Mut, einander zu begegnen.

Ich habe übrigens inzwischen eine Antwort auf die Frage gefunden, warum Kinder ohne Down-Syndrom nur mit anderen Kindern ohne Down-Syndrom lernen sollen. Meine Antwort: Damit nicht auffällt, dass wir in unseren Schulen ständig Äpfel mit Birnen vergleichen. Damit wir angeblich gerechte (Wettkampf-)Klassen bilden können. Damit wir die Kinder zu Gewinnern und Verlierern machen können, ohne dass sich jemand darüber beschwert. Damit wir den Kindern einreden können, dass es an ihnen liegt, ob sie gute oder schlechte Schüler sind. Wir bilden Wettkampf-Klassen, damit wir die Illusion aufrechterhalten können, jede und jeder hätte die gleichen Chancen.

Mein Abitur habe ich viele Jahre später auf dem Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wiehl gemacht. Für Englisch, Geschichte und Biologie war ich durchschnittlich begabt. Für Sport war ich hochbegabt. Oder tiefbegabt, ganz wie Sie wollen. Um das zu erklären: Am Ende der zwölften Klasse mussten die Jungs tausend Meter laufen. Die Mädchen nur achthundert. Sie merken schon, aus einer (Alters-)Klasse wurden plötzlich zwei Startklassen, nämlich Geschlechtsklassen gemacht. Damit es gerecht zugeht. Zur Vorbereitung auf die Prüfung bin ich jeden zweiten Tag tausend Meter gelaufen. Dann kam die Prüfung, und was soll ich sagen: Ich kam als Letzter ins Ziel. Mein Lehrer erklärte: "Unter 2:55 Minuten hättest du eine Eins bekommen. Das hier ist die Zeit für eine Vier. Du bist 7:35 Minuten gelaufen, du bekommst ... eine Neun." Ich protestierte: "Aber sie können mich doch nicht an so einer Tabelle messen. Ich trage eine Beinprothese. Das ist doch unfair. Außerdem sind 7:35 Minuten eine neue persönliche Bestzeit für mich." Kaum hatte mein Lehrer das Problem eingesehen, kam eine schwergewichtige Schülerin: "Sabine wiegt nur 55 Kilogramm, ich dagegen 85. Ist doch klar, dass sie schneller laufen kann als ich." Als nächster kam Jens, 1,55 Meter groß: "Jürgen ist 1,90 Meter, ist doch klar, dass er schneller laufen kann als ich."

Froh, dass es Kirche gibt

Klassen, Startklassen und Wettkämpfe vernebeln den Blick für die Einzigartigkeit und Vielfalt der Menschen. Würden Menschen mit offensichtlichen Behinderungen in die normale Schule gehen, so würde plötzlich auffallen, dass es viele Menschen mit versteckten Benachteiligungen gibt. Das Mädchen, das zu Hause nur türkisch spricht, kann mit dem Germanistik-Professoren-Sohn im Fach Deutsch nicht konkurrieren. Muss es aber, weil wir blind für diese Unterschiedlichkeit sind. Wo kämen wir hin, wenn jeder eine Ausnahme bekäme? Wo kämen wir hin, wenn sich plötzlich niemand mehr am Durchschnitt messen lassen müsste? Wo kämen wir hin, wenn wir die Unterschiedlichkeit der Menschen als Reichtum und nicht als Problem ansehen würden? Wir könnten womöglich Menschen nicht mehr zu Siegern und Verlierern machen. Wir müssten womöglich aufhören, von Menschen mit und ohne Behinderungen zu sprechen. Wir könnten womöglich ins Reich Gottes gelangen. Dahin, wo der Mensch wichtiger ist als die Summe seiner Leistungen. Dahin, wo dazugehören wichtiger ist als gewinnen. Wo Menschen einander unterstützen, damit niemand einsam ist. In mein kleines Dorf. In einen Kindergarten, der alle willkommen heißt. In eine Schule, die Noten soweit wie möglich vermeidet.

Was bin ich froh, dass es Kirche gibt. Für mich ein Lebensraum, in dem Menschen nicht miteinander verglichen werden (müssen). Wo die Gleichwertigkeit aller Menschen bei gleichzeitig großer Einzigartigkeit wenigstens noch gepredigt wird. Wo Jugendarbeit nicht aus Wettkampfspielen besteht. Wo interessiertes Zuhören genauso wichtig ist wie eloquentes Reden. Gut, manchmal entdecke ich auch in den Kirchen Barrieren. Schließlich sind Gemeinden nicht identisch mit dem Reich Gottes: Wenn im Gottesdienst für die Kranken und Behinderten gebetet wird, als würden wir nicht alle hin und wieder krank werden und als wären wir nicht alle arg begrenzt. Wenn im Konfirmandenunterricht alle reihum vorlesen müssen, wo doch klar ist, dass sich einige schämen, weil sie schlechter lesen als andere. Das gleichberechtigte Miteinander der Verschiedenen gelingt da, wo wir aufmerksam für die Stärken und Nöte unserer Mitmenschen sind. Dann werden wir auch aufmerksam für uns selbst. Denn manchmal entdecke ich auch in meinem Kopf Barrieren: Neulich lernte ich einen Mann kennen, der an Multipler Sklerose erkrankt war. Er erzählte stolz, wie er regelmäßig mit Freunden klettern gehe. Auf meine Nachfrage, ob er denn überhaupt stark genug sei, um sich an der Wand hochzuziehen, erklärte er mir: Nein, die Kraft meiner Arme reicht nicht aus. Aber wenn der Freund am Haltegurt mitzieht, dann schaffen wir es gemeinsam. Und wenn er klettert, dann halte ich ihn.

Und gerne zitiere ich die Theologin Dorothee Sölle: "Gott hat keine anderen Hände als unsere." Ja, unsere! Also meine nicht, aber die der anderen. Das heißt, es sind unsere Hände. Denn Talente, Begabungen und Charismen haben wir, damit wir sie in den Dienst unseres Zusammenlebens stellen. Eltern stellen sich in den Dienst ihrer Kinder. Wer predigt, der macht das für andere. Ebenso sind wir alle Angewiesene. Inklusion ist eigentlich völlig selbstverständlich.

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