Wie hältst du's mit der Inklusion?
Bei jeder Fachdiskussion, bei der es um die Reform der Eingliederungshilfe oder - wie aktuell anlässlich der Ankündigung im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD - um die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes geht, im Zusammenhang mit der UN-Konvention über die Rechte von Behinderungen, oder wann immer von der Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft die Rede ist, taucht unweigerlich die Frage auf: Was ist Inklusion überhaupt? Was bedeutet Inklusion und wie kann man sie erreichen? Und kann man für oder gegen Inklusion sein?
Zunächst einmal gibt es Skeptiker, für die Inklusion eine Mogelpackung, ein Etikettenschwindel und, nach selbstbestimmter Teilhabe, Empowerment und Sozialraum-Orientierung, der nächste sozialpolitische Modebegriff ist. Sie meinen, dass es vermessen sei, von Inklusion zu sprechen, wenn nicht einmal Integration verwirklicht sei; dass es verantwortungslose Träumerei sei, von Inklusion zu sprechen, in einer Gesellschaft, die eher noch mehr Menschen an den Rand und darüber hinaus dränge, als dass sie in der Lage wäre, noch mehr Menschen zu integrieren, geschweige denn zu inkludieren.
Und auf der anderen Seite gibt es die Visionäre, die betonen, dass es zur Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft eines langen Atems bedürfe; dass es mindestens eine Generation brauche, bis die Vorstellung in weiten Teilen der Bevölkerung angekommen sei; und dass es nicht um die Frage gehe, ob Inklusion jemals erreicht, vollständig umgesetzt oder abgeschlossen sein könne, sondern dass Inklusion vielmehr ein Prozess sei, der niemals ganz zu Ende sein wird.
Was aber ist nun Inklusion? Nach einer einfachen Definition ist darunter zunächst das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung zu verstehen. Gemeint ist damit, dass jeder Mensch - gleich ob mit oder ohne Behinderung - die Möglichkeit hat, selbstbestimmt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Inklusion umfasst also die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen sowie - als Voraussetzung - die Herstellung umfassender Barrierefreiheit, die schrittweise Öffnung und Umwandlung der bisherigen Angebotsstruktur von Unterstützungsleistungen und die Anerkennung von Vielfalt. Und das alles auf der Basis von Menschenrechten.
Denn seit 2006 gibt es eine Orientierung, einen Handlungsleitfaden, der das Ziel einer inklusiven Gesellschaft umfassend beschreibt und gleichzeitig die Leitplanken definiert, die den Weg dorthin markieren: die bereits eingangs erwähnte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Sie konkretisiert und spezifiziert die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen und definiert zunächst, dass "Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen und wirksamen Teilhabe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen an der Gesellschaft hindern".
Ein grundlegendes Menschenrecht
Zweck des Abkommens, das die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert und damit als rechtlich bindendes Dokument anerkannt hat, ist es, "den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern". Teilhabe ist demnach kein Akt der Fürsorge oder Gnade, sondern ein grundlegendes Menschenrecht. Sie erfasst Lebensbereiche wie Barrierefreiheit, persönliche Mobilität, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Rehabilitation, Teilhabe am politischen Leben, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. Grundlegend ist der Gedanke der Inklusion: Menschen mit Behinderung gehören von Anfang an mitten in die Gesellschaft.
In der öffentlichen Debatte hat Inklusion zunächst im Bildungsbereich eine gewisse Popularität erlangt, und in der Tat ist dort zuerst das Konzept einer inklusiven Pädagogik entwickelt worden. Doch der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf ist vielerorts noch die Ausnahme, vor allem an weiterführenden Schulen. Der Ausbau eines inklusiven Bildungssystems kommt hierzulande nur langsam voran. Stattdessen wird jenseits aller Fachlichkeit oftmals eine ideologische, teils polemische Auseinandersetzung geführt - von der Frage nach Ressourcen und rechtlichen Rahmenbedingungen ganz zu schweigen
Wahlrecht schaffen
Allzu oft herrscht auch das Missverständnis vor, bei der Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich ginge es darum, Sonderschulen abzuschaffen und damit Sonderpädagogen pauschal zu diskreditieren. Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht hier eine klare Sprache: Förderschulen sind dort notwendig, wo das Regelsystem die schulischen Bedarfe von Menschen mit besonderen Beeinträchtigungen nicht deckt. Umgekehrt darf der Besuch einer Regelschule aber niemandem verwehrt werden, und genau hierin liegt nicht nur die Herausforderung, sondern auch eine Chance. Förderschulen müssen als Kompetenzzentren für inklusive Beschulung begriffen, Förderschullehrer als Experten für Kinder mit besonderen Beeinträchtigungen immer dort eingesetzt werden, wo ein Kind an Regelschulen unterrichtet wird und Unterstützung benötigt. Und wer sagt, dass sich nicht auch Förderschulen für Kinder ohne Behinderung öffnen können? Es geht nicht darum, das Gegebene, Erreichte oder Errungene radikal in Frage zu stellen, gänzlich abzuschaffen und das gesamte Hilfesystem neu zu erfinden. Aber fest steht auch, dass Menschen mit Behinderung nicht generell an Förderschulen, Wohnheime oder Werkstätten für behinderte Menschen verwiesen werden dürfen. Sie müssen ein umfassendes Wunsch- und Wahlrecht eingeräumt und garantiert bekommen, damit sie selbst bestimmen können, wo und mit wem sie leben möchten. Und es müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit dieses Wunsch- und Wahlrecht auch umgesetzt und eingelöst werden kann.
Gerade im Wohnbereich verletzt jedoch der so genannte Mehrkostenvorbehalt im XII. Sozialgesetzbuch (SGB XII), demzufolge eine ambulante Sozialhilfeleistung nur gewährt wird, wenn sie nicht mit "unverhältnismäßigen Mehrkosten" gegenüber einer "zumutbaren" stationären Leistung verbunden ist, das Recht auf eine frei wählbare Wohnform. Dass noch dazu allein die Kostenträger bestimmen, was "unverhältnismäßig" und "zumutbar" ist, ist mit der UN-BRK nicht vereinbar.
"Insbesondere Menschen mit hohem Hilfebedarf werden regelmäßig auf eine Unterbringung in einer Einrichtung verwiesen. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention soll jeder Mensch mit Behinderung dort leben können, wo er will. Das kann eine Wohnheimgruppe sein - das kann die eigene Wohnung sein. Wir müssen den Willen der Betroffenen ernst nehmen und passgenaue, bedarfsgerechte Unterstützung im Wohnbereich ermöglichen", erklärt Michael Conty, Vorsitzender des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe (BeB).
Im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben wiederum muss es selbstverständlich Ziel der Bemühungen sein, dass mehr Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden und dort - mit der notwendigen Unterstützung - einer Tätigkeit nachgehen können, die zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Einkommenssituation und weitmöglich gehenden Unabhängigkeit von staatlichen Transferleistungen bei der Existenzabsicherung führt.
Das System muss sich wandeln
Auf der anderen Seite wird ein System von speziellen Einrichtungen - nämlich Werkstätten für behinderte Menschen, in denen diese Menschen ihr Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben wahrnehmen - noch so lange gebraucht, wie der erste Arbeitsmarkt nicht aufnahmefähig und -bereit ist für Menschen, die den alltäglichen Leistungsanforderungen vielleicht nicht immer oder nicht in der Weise genügen, wie wir es gewohnt sind. Doch entscheidend ist, dass das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben niemandem vorenthalten werden darf, auch nicht Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf - und genau das ist in der Bundesrepublik Deutschland längst nicht überall der Fall.
Nicht nur Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen sich öffnen, sondern auch das System als Ganzes muss sich wandeln - dies gilt auch in anderen Lebensbereichen wie beispielsweise dem Gesundheitswesen, einem vernachlässigten Thema in öffentlichen Debatten. Die gesamte Gesellschaft muss Inklusion als Auftrag begreifen und sich so umgestalten, dass sie für Menschen mit Behinderung offen und zugänglich ist. Dazu gehört der umfassende Abbau baulicher und kommunikativer Barrieren ebenso wie ein tiefgreifender Bewusstseinswandel, der dazu führt, dass Menschen mit Behinderung nicht länger als Belastung oder Kostenfaktor erlebt werden.
Zur Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft wird ohne Frage Geld benötigt. Das heißt aber nicht automatisch, dass dieses dann zwingend an anderen Stellen fehlt. Weit eher geht es darum, Inklusion als Investition in die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft zu begreifen, die das Leben von Menschen mit Behinderung und unser aller Leben lebenswert macht, weil die Anerkennung von Vielfalt eine Bereicherung für uns alle darstellt. Und diese Investitionen kommen eben nicht nur Menschen mit Behinderung zugute, sondern auch anderen Gruppen (alten Menschen, Kindern, Familien), was man am Beispiel der Barrierefreiheit sehr gut nachweisen kann.
Umgekehrt darf bei der Erarbeitung eines Bundesleistungsgesetzes für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz), das im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode angekündigt ist, nicht allein die finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen bei den Kosten der Eingliederungshilfe im Zentrum stehen. Stattdessen sollten das Ziel einer inklusiven Gesellschaft und die Rechte der Menschen mit Behinderung im Vordergrund stehen. Entsprechend müssen den Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag Taten folgen sowie konkrete Maßnahmen eingeleitet werden, um die Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen voranzubringen.
Inklusion kostet Geld
Nach Auffassung des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe kommt es beispielsweise darauf an, das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderung konsequent zu stärken und die Bereitstellung bedarfsdeckender Unterstützungsleistungen im Sozialraum zu sichern. Wichtige Eckpunkte eines zu schaffenden Bundesteilhabegesetzes sind weiterhin die Sicherstellung einer pluralen Beratungsstruktur, bundeseinheitliche Kriterien für die Bedarfsermittlung sowie die einkommens- und vermögensunabhängige Leistungsgewährung.
Bei all dem muss sichergestellt bleiben, dass die Unterstützung, die Menschen mit Behinderung benötigen, in ausreichendem Maß bereitgestellt und finanziert wird. Viel zu oft wird der Begriff Inklusion dazu missbraucht, Kosten zu sparen, indem Menschen mit Behinderung in die vermeintliche Selbstständigkeit entlassen, ihnen in Wahrheit aber nur ihre Unterstützungsleistungen gestrichen werden. Die notwendige finanzielle Entlastung der Kommunen darf deshalb keinesfalls mit einer Verschlechterung der Leistungen einhergehen.
Und schließlich besteht die Gefahr, dass der Begriff Inklusion zu einseitig und ideologisierend verwendet wird. Die Auflösung einer stationären Einrichtung zu Gunsten von ambulanten Wohn- und Betreuungssystemen an sich ist noch keine Inklusion - im Gegenteil muss zuallererst der Sozialraum, in dem ambulant versorgt und betreut werden soll, die Voraussetzungen und Erfordernisse für eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge erfüllen.
Kirche als Vorreiter
Welche Rolle spielen dabei diakonische Einrichtungen und Dienste, welche Rolle spielt die evangelische Kirche bei der Schaffung einer inklusiven Gesellschaft? Beinhaltet das christliche Menschenbild bereits die Anerkennung von Vielfalt, ist die Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft bereits in der Bibel angelegt? Auf jeden Fall können christlich geprägte Institutionen eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn es darum geht, dass alle Menschen - gleich ob mit oder ohne Behinderung - wertgeschätzt und nach ihren Bedürfnissen und Bedarfen gefördert und unterstützt werden.
Einrichtungen und Dienste der evangelischen Behindertenhilfe haben die UN-Behindertenrechtskonvention längst als verbindlichen Handlungsrahmen anerkannt - seit der BeB-Mitgliederversammlung 2012 ist sie in der Satzung des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe verankert. Diakonische Träger haben sich auf den Weg gemacht, ihre Angebote stärker am Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung auszurichten und ihre Unterstützungsleistungen personenorientiert und bedarfsgerecht zu erbringen.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe auch ein Projekt zur Erarbeitung von Aktionsplänen für Mitgliedseinrichtungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gestartet. Dabei entwickeln neun Piloteinrichtungen ihren eigenen Aktionsplan, der sich als Maßnahmenpaket für die Umsetzung der UN-BRK vor Ort versteht. Zugleich soll im Rahmen des Projekts ein Aktionsplan erstellt werden, der als Handlungsmuster für BeB-Mitglieder dient.
"Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine Verpflichtung für alle gesellschaftlichen Akteure. Dazu gehören selbstverständlich auch die Einrichtungen der Behindertenhilfe", kommentiert der Vorsitzende des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe, Michael Conty. "Wir wollen die umfassende Verwirklichung von Menschenrechten für Menschen mit Behinderung nicht nur einfordern, sondern auch in den eigenen Reihen fördern und zu deren Realisierung beitragen."
Thomas Schneider