"Krieg beginnt nicht (...) sobald sich einzelne Kämpfer zu einer Gruppe mit Anführer zusammenschließen, um gewaltsam zu kämpfen. Krieg ist ein gesellschaftlicher Zustand, und Sprache und Bilder waren von Anfang an Teil des Krieges." So heißt es in einem der zahlreichen Bücher, die zum Thema Krieg in letzter Zeit erschienen sind, nämlich in des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Bernd Hüppauf profunder "Grundlegung einer Kulturgeschichte des Krieges".
"Was ist Krieg?", lautet Hüppaufs Leitfrage. Sie lässt sich nach seiner Überzeugung nicht allein militärhistorisch, ideologiekritisch oder politökonomisch beantworten, notwendig sei vielmehr eine kulturwissenschaftliche Öffnung des Feldes und damit die Zurückweisung einer einfachen Un-Gleichung: Krieg sei der Ausnahmezustand der Kultur. Dem sei nicht so, denn von der ersten Kampfschilderung an Höhlenwänden über antike Kriegsepen, moderne Strategietexte, Malereien und Filme bis zu den Kriegsreportagen unserer Zeit sei "Krieg" in Diskurse eingeschlossen, die ihn erst ermöglichen - sie zu erforschen sei Aufgabe einer Kulturgeschichte des Krieges.
Dass es auch Diskurse gibt, in denen dem Krieg der Krieg erklärt wird, zeigt ein hervorragender Fotoband zum Ersten Weltkrieg: "Untergang einer Welt" verbindet Fotodokumente aus dem ehemaligen Kriegsarchiv der Wiener Stiftskaserne mit Texten von Zeitgenossen wie Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Joseph Roth oder Egon Erwin Kisch. Was aus der Sicht der Herausgeber durch die Bilder zu sagen ist, klärt eine Doppelseite am Anfang des Bandes: links "Große Schlachthalle des Schlachthofes, Budapest 1915", rechts "Zerfetzte Soldaten nach den Kämpfen am Col del Rosso, Juni/Juli 1918".
"Eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges" nennt der Historiker Ernst Piper seinen Beitrag zum Thema. Auch hier zeigt sich das kritische Potenzial des kulturgeschichtlichen Ansatzes. Piper betrachtet seinen Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln und gewinnt so Erkenntnisse, die nicht immer mit den Standardüberlieferungen übereinstimmen - so etwa, wenn er zeigt, dass die Kriegsbegeisterung 1914 nicht so umfassend und vollständig war, wie man das in den Büchern für den Geschichtsunterricht liest. Pipers multiperspektivischer Blick, mit dem er Texte, Kunstwerke, dramatische Arbeiten und Filme ebenso wie Akten sichtet und nicht selten gegen den Strich bürstet, die Weise, wie er Arbeiten aus der eigenen Zunft einer kritischen Analyse unterzieht, bietet einen neuen Zugang zu einem längst historisch gewordenen Thema.
Gerade dieses Thema aber, der Erste Weltkrieg, ist des Hundertjahr-Gedächtnisses halber zur Zeit allgegenwärtig. Auf eine etwas andere Art hat sich schon vor sechs Jahren Jaques Tardi mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt, sein Doppelband ist nun im Züricher Verlag Edition Moderne neu aufgelegt worden: Bei ihm agieren im Comicstil ausgeführte Figuren meist vor einem authentischen (nicht: naturalistischen) Hintergrund - Schützengräben und Waffen, vom Zeppelin bis zu den schweren Kanonen der Artillerie, werden zeichnerisch rekonstruiert. Dass es sich hierbei nicht um Militaria-Fetischismus handelt, wird schnell klar: Erstens wegen der schaurig-sichtbaren Leichen- und Krüppelproduktion der Kriegsmaschine (Vorlage waren Kriegsfotografien), zweitens wegen der klaren Haltung des Erzählers: "Dieser Krieg wurde fieserweise immer industrialisierter, und das mit großem Profit, über unsere Leichen hinweg!
Frieden durch Computer?
Was also ist und zu welchem Zweck studiert man Kulturgeschichte des Krieges? Wer bei Hüppauf etwas über den Wandel von der Vernunftmoral zur Gefühlsmoral gelernt hat, wird hoffentlich davor gefeit sein, dem Kriegstheoretiker Ian Morris auf den Leim zu gehen: "Krieg - Wozu er gut ist", nennt sich sein wortreiches Werk mit evolutionsbiologischer Tendenz.
In aller Kürze Morris' Argumentation: Das "Todes-Spiel des Krieges" war nützlich, weil es physische Vorteile in der menschlich-biologischen Evolution brachte. Dieser Nutzen wird durch die technologische Evolution unserer Tage hinfällig, denn wenn sich der Mensch - laut Morris um das Jahr 2030 - endgültig mit dem Computer zusammenschließt, bringen Krieg und Gewalt keine Vorteile mehr: "Die meiste Zeit unseres Lebens auf Erden hindurch waren wir aggressive, gewalttätige Tiere, weil Aggression und Gewalt sich ausgezahlt haben. In den vergangenen zehntausend Jahren aber, seit wir gelernt haben, produktive Kriege zu führen, haben wir eine kulturelle Evolution durchlebt, die uns peu à peu weniger gewalttätig gemacht hat - weil sich nur das auszahlte."
Auszahlt? Ein kurzer Blick auf das 20. Jahrhundert dürfte die Bilanzen dieser "Evolution" klären. Morris' hunderte von Seiten belegen denn auch etwas ganz anderes, nämlich eine biotechnologische Fortschrittsfantasie, in deren Logik sich Fakten und Daten, Prozesse und Gedanken zurechtbiegen, weil alles auf eine schicke Formel zielt: Nach dem Ende der Geschichte nun das Ende der Evolution (die transhumane Verbindung Mensch-Computer) als das Ende des Krieges.
Bis dahin wird aber noch kräftig am Krieg verdient. Damit beschäftigt sich der kritische Journalismus. In "Killing Business" findet Mark Mazetti von der New York Times ein einprägsames Bild dafür in der Abwanderung von privaten Firmen der Geheimdienst- und Sicherheitsindustrie aus allen Teilen der USA nach Washington: "Die Branche wollte offensichtlich näher bei 'ihren Kunden' sein: dem Pentagon, der CIA, der National Security Agency und anderen Geheimdiensten. Große und kleine Dienstleister der Regierung bilden heute einen Gürtel um Washington, wie ein Heer bei der Belagerung einer Stadt im Mittelalter."
Polonium im Stachel
Seit 9/11 haben sich die USA, wie Mazetti detailliert beschreibt, in einen oft geheimen Krieg an zahllosen Schauplätzen manövriert und private Sicherheits- und Kriegs-AGs finanziert, die selbst in den Kampf eingreifen (wie die Söldner der Firma Blackwater im Irak), die amerikanische Offiziere im Einsatz schützen oder Informationsnetzwerke aufbauen, um etwa in Pakistan oder in Somalia "Feindaufklärung" zu betreiben. Auch schreiten CIA-Aufklärer im direkten Auftrag des Präsidenten jetzt selbst zur Tat, gehen in Pakistan und Jemen mit unbemannten Predator- und Reaper-Drohnen auf Terroristenjagd und schießen tödliche Hellfire-Raketen auf die Feinde Amerikas. Sie machen damit den Truppen des Joint Special Operations Command (JSOC) Konkurrenz, die selbst wiederum im Auftrag des Pentagon mit den gleichen Waffen gegen die Staatsfeinde der USA vorgehen, um "sie zu finden, (ihre Identität) abzuklären und sie zu erledigen (find, fix and finish)".
Mark Mazetti schildert, was passiert. Warum es passiert, analysiert sein Kollege Jeremy Scahill von The Nation in "Schmutzige Kriege". Er beginnt mit der Schilderung der neokonservativen Strategie der Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Dick Cheney, nämlich der Exekutive immer mehr Macht zu verschaffen und letztlich die ganze Welt zum Schauplatz des "Krieges gegen den Terror" zu machen.
Scahill übersieht dabei keineswegs das ideologische Drama, das man als "manichäisches Doppel" bezeichnen könnte: Rumsfeld und die Seinen sahen überall das angedrohte islamische Kalifat, Osama bin Laden überall christliche Kreuzfahrer.
Derweil erkunden die Ingenieure der Kriegsindustrie die Potenziale der Zukunft: nanotechnische Kleinstwaffensysteme (zum Beispiel eine Minidrohne mit Polonium im Giftstachel), die von der selektiven Tötung zur "selektiven Massenvernichtung" (im Gegensatz zur alleszerstörenden Atombombe) führen könnten. Armin Krishnan, Professor für Security Studies in Texas, analysiert in seiner kritischen Studie "Gezielte Tötung" vor allem die gegenwärtige Praxis. Er setzt den Allmachtfantasien von Politikern und Militärs skeptische Nüchternheit entgegen: Schon wegen der unbeteiligten Opfer hält er die militärische Effektivität der Drohnen für fragwürdig.
Akute Gefahren
Wie aber steht es mit dem so lange gefürchteten versehentlichen Atomkrieg? Die Gefahr, dass es zu ihm kommt, sei keineswegs gebannt, meint Krishnan, insbesondere wenn die Amerikaner mit dem Konzept "Prompt-Global-Strike" ernst machen sollten. Es soll ihnen erlauben, auf dem ganzen Planeten innerhalb einer Stunde gezielt zuzuschlagen. Militärtechnisch wird es dann für die anderen nicht immer möglich sein, die Absichten der überfliegenden Drohnen, Raketen oder Hyperschallflugzeuge zu erkennen, was drastische (Fehl-)Reaktionen befürchten lässt. Politisch sieht Krishnan akute Gefahren: "Der strittige Punkt ist die Möglichkeit einer schleichenden Ausweitung von gezielten Tötungen auf eigene Staatsbürger im In- und Ausland unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung." Krishnan zitiert das Handbuch des US-Verteidigungsministeriums von 2009, es bezeichnet schon politischen Protest als "Terrorismus niedriger Stufe".
Nun haben die Kriege der USA immer auch ihre eigene Widerstandsbewegung mobilisiert. Bei Medea Benjamin kann man etwas über die wachsende Anti-Drohnen-Bewegung erfahren. Benjamin gehört zum Aktivistennetzwerk Bay-Area bei San Francisco und zur Gruppe CodePink, ironisch nach dem farbig abgestuften Terrorwarnsystem des U.S. Department of Homeland Security benannt. Im Sammelband "Töten per Fernbedienung" wird ausführlich erörtert, wie politischer Protest in Europa zum Gegenstand von Drohnenüberwachung und zum Motiv weiterer Aufrüstung wird.
In kulturgeschichtlicher Perspektive haben die Diskurse des Krieges die der Kriegsgegner meist überlagert und die öffentliche Wahrnehmung dominiert, auch weil sie stets - durchaus militäraffin - auf den neuesten Stand der Technik reflektierten. Diesem entsprechen auch ganz andersartige Geräte, nämlich die eher schamhaft verschwiegenen Äquivalente zu den perfekten Waffensystemen: die Prothesen. Sie sollen die verwundeten Körper der NATO-Soldaten reparieren, die in Afghanistan und Irak in die wenig perfekten, aber effektiven Minen- und Bombenfallen geraten sind.
Der Fotograf Bryan Adams zeigt englische Verwundete in einer Ausstellung in Düsseldorf und im Fotoband "Wounded" beim Göttinger Steidl Verlag. In England geraten solche Bilder nicht so leicht an die Öffentlichkeit, dort sprechen Regierungsvertreter mit Medienmenschen und Verlegern und treffen Absprachen über das, was dem Publikum in Sachen Krieg zuzumuten sei. In diesem Fotoband sieht man sie jedoch, in Großaufnahmen, verwundete Männer und Frauen, die meist ein oder mehrere Gliedmaßen verloren haben, wie sie nun mit High-Tech-Kunstgliedern ein neues Leben beginnen.
Vielleicht würde Ian Morris in ihnen schon Bilder vom transhumanen Ende der Evolution erblicken, wenn auch nur von nicht-perfekten Vorformen jener perfekten Mensch-Maschine, von der er träumt.
Besprochene Titel
Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. transcript, Bielefeld 2013, 568 Seiten, Euro 29,90.
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges. Propyläen im Ullstein Verlag, Berlin 2013, 592 Seiten, Euro 26,99.
Jaques Tardi und Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 1914-1919. Gesamtausgabe. Verlag bbb EditionModerne AG, Zürich 2014, 144 Seiten, Euro 34,-.
Wolfgang Maderthaner, Michael Hochedlinger (Hg.): Untergang einer Welt. Der Große Krieg 1914- 1918 in Fotografien und Texten. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2013, 320 Seiten, Euro 39,90.
Ian Morris: Krieg. Wozu er gut ist. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, 527 Seiten, Euro 26,99.
Mark Mazetti: Killing Business. Der geheime Krieg der CIA. Berlin Verlag im Piper Verlag, Berlin 2013, 416 Seiten, Euro 22,99.
Jeremy Scahill: Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen. Verlag Antje Kunstmann, München 2013, 720 Seiten, Euro 22,99.
Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Die Zukunft des Krieges. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012, 270 Seiten, Euro 17,90.
Peter Strutynski (Hg.): Töten per Fernbedienung. Kampfdrohnen im weltweiten Schattenkrieg. Promedia Verlag, Wien 2013, 224 Seiten, Euro 14,90.
Wounded. The Legacy of War. Photographs by Bryan Adams. Steidl Verlag, Göttingen 2013, 304 Seiten, £ 48,-.
Medea Benjamin: Drohnenkrieg. Tod aus heiterem Himmel. Laika-Verlag, Hamburg 2013, 208 Seiten, Euro 19,-.
Martin Zähringer