Höhle, Wüste, Nacht

Für die Bibel und das Christentum ist die Einsamkeit ambivalent
Foto: Tommelom / pixelio.de
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Welche Rolle spielt Einsamkeit im Alten und Neuen Testament, für Mönche und Mystiker? Und wie verhalten sich im Christentum Einsamkeit und Gemeinschaft zueinander? Diesen Fragen geht der römisch-katholische Theologe Stephan Lüttich nach.

Einsamkeit hat heute keinen guten Klang. Bei der spontanen Betrachtung wird sie zuerst und vor allem mit negativen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Einsamkeit bedeutet da Verlassensein, Isolation und darin Leiden und tragisches Schicksal. Dabei birgt die Etymologie des Wortes durchaus positive Konnotationen. "Einsam" ist eine frühneuhochdeutsche Ableitung zum mittelhochdeutschen Zählwort "ein" und bedeutet ursprünglich "allein" im Sinne von "alleinig". Das heißt also: einmalig und besonders, solitär und unverwechselbar. Und diese Dimensionen der Einsamkeit sind in unserer hochindividualisierten Gesellschaft eigentlich positiv besetzt.

In diesem Sinne haben auch Philosophen von Seneca über Michel de Montaigne und Blaise Pascal bis zu Martin Heidegger und Odo Marquard die Einsamkeit als Mittel zu Selbsterkenntnis und innerem Wachstum gepriesen. Ihre Texte, wie der Hinweis Pascals, alles Unglück der Welt komme daher, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen könnten, weisen freilich auch darauf hin, dass Einsamkeit zuweilen schwer auszuhalten ist. Sie wird keineswegs immer als bereichernd erfahren, sondern nicht selten als dunkel und bedrückend.

Die Ambivalenz des Begriffes wird auch in der theologischen Beschäftigung mit Einsamkeit deutlich. Primär lässt sich ihre theologische Qualität positiv bestimmen. Von der Schöpfung her betrachtet ist der Mensch unmittelbar von Gott gewollt, von ihm bejaht und mit einem unverwechselbaren Namen gerufen. So steht er als Individuum einsam vor seinem Schöpfer. Johannes Duns Scotus, einer der großen Theologen des Mittelalters und ein wichtiger Impulsgeber für Martin Luther, fasste diese Einsicht treffend so zusammen: "Zur Person gehört letzte Einsamkeit." Der Mensch könne nur dann wirklich er selbst werden, wenn er es wagt, sich in letzter Einsamkeit mit sich selbst und darin mit Gott zu konfrontieren. Die Bibel kennt wie viele andere religiöse Traditionen eine Vielzahl von Metaphern, mit denen diese Ebene der Unmittelbarkeit und Individualität und darin die Einsamkeit der Gottesbeziehung des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Da ist zum einen der Berg. Mose zieht sich alleine auf den Berg Sinai zurück, um die Bundeszusage Gottes und den Auftrag zu empfangen, dem Volk seine Gebote zu verkünden. Und auch Jesus sucht immer wieder - gerade an den Schlüsselstellen seiner Sendung - die Einsamkeit des Berges, um das intime Gespräch mit dem himmlischen Vater zu führen.

Aufgeladene Orte

Die Höhle ist religionsgeschichtlich ebenfalls ein stark aufgeladener Ort der Einsamkeit und Begegnung mit Gott. Elija erfuhr die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes am Eingang der Höhle, in die er sich nach der Auseinandersetzung mit dem Baalspropheten geflüchtet hatte.

Eine weitere zentrale Einsamkeitsmetapher der Heiligen Schrift ist die Wüste. Propheten wie Jeremia oder Hosea beschreiben Israel, das wie eine Braut Gott in die Wüste gefolgt ist, um hier ungestört intime Liebe und Gemeinschaft mit ihm zu erfahren. Johannes der Täufer wählt die Einsamkeit der Wüste als Ort des Lebens und der Verkündigung. Jesus bereitet sich in der Wüste durch Fasten, Gebet und in der Auseinandersetzung mit dem Versucher auf seinen Dienst vor. Und beide - Johannes und Jesus - laden ihre Jüngerinnen und Jünger immer wieder in die Einsamkeit ein.

In den ersten Jahrhunderten des Christentums entsteht in der Wüste eine geistliche Bewegung, die im Gebet und Lesen der Bibel die Gottunmittelbarkeit im Alleinsein suchen will. Für die Vertreter dieser Bewegung bildet sich im Laufe der Zeit eine Bezeichnung heraus, die sich aus dem griechischen Wort für Wüste, "éremos", ableitet: Eremiten. Und auch das deutsche Wort "Mönch" hat direkt mit der Vorstellung der Einsamkeit zu tun. Es kommt vom griechischen Wort "monachós", das ursprünglich ähnlich wie "einsam" nichts anderes bedeutet als "einzeln, allein".

Ruf Gottes

Bis heute wollen Frauen und Männer sich aus den vielfältigen Bindungen und Verbindlichkeiten des Alltags lösen, um in der Einsamkeit die Begegnung mit Gott zu suchen und darin Stärkung und Klarheit für ihr Leben zu gewinnen. Neben den vielfältigen Angeboten, in Einkehrtagen, Rüstzeiten, Exerzitien oder auch längeren Sabbaticals eine zeitlich begrenzte Einsamkeitserfahrung zu suchen, gibt es in den Kirchen Kommunitäten und Ordensgemeinschaften, die ihren Mitgliedern den Rahmen bieten, ein Leben zu führen, in dem Einsamkeit in positivem Sinne eine prägende Bedeutung hat. Die höchste Wertschätzung, die der Einsamkeit hier entgegengebracht wird, spiegelt sich in der in verschiedenen Orden verbreiteten Sentenz: "Beata solitudo - sola beatitudo" - "Selige Einsamkeit - einzige Seligkeit".

Interessant ist, dass in der römisch-katholischen Kirche Gemeinschaften wie die Kartäuser und Trappisten - anders als aktiv tätige Orden - kaum Nachwuchssorgen haben. Ihre Zahlen bleiben - freilich auf niedrigem Niveau - relativ konstant. Wichtig ist dabei aber, dass die Einsamkeit keinen Wert an sich darstellt. Dieses Missverständnis herrschte lange Zeit in bestimmten Strömungen der katholischen Theologie vor. Das Ordensleben wurde in seiner radikalen Trennung von der Welt als Stand der Vollkommenheit interpretiert. Die Einsamkeit in der Abgeschiedenheit der Klosterzelle galt dabei als wichtiges Element auf einem privilegierten Weg zu Gott, der Menschen, die ihren Alltag in der Welt gestalten wollten, verschlossen blieb.

Der Ruf Gottes an den einzelnen Menschen ist also immer auch ein Ruf in die Gemeinschaft - mit Gott und mit den anderen Menschen. Diese Einsicht gehört zum Kern der biblischen Botschaft. Aus der Begegnung mit sich und Gott im Alleinsein erwächst ein vertieftes Bewusstsein für die Sendung in die Welt - auch wenn diese nicht notwendig in einer aktiven Tätigkeit bestehen muss.

Ausweglose Hoffnungslosigkeit

Einsamkeit und Gemeinschaft bedingen und befruchten einander. Die Gemeinschaft der Glaubenden bietet dem Einzelnen das Korrektiv, sich nicht in seinen individuellen Vorstellungen zu verlieren. So ist nicht verwunderlich, dass sich bereits in der Spätantike Menschen, die ihren Glauben im Alleinsein leben wollten, zu losen oder festeren Gemeinschaften zusammenschlossen. Die Einsamkeit bietet ihrerseits die Garantie, dass die Gemeinschaft die persönliche Gottesbeziehung nicht überlagert und ideologisch überformt. Und dies gilt auch für die Liebesbeziehung zwischen Menschen, die die Einsamkeit des anderen achten muss. So schrieb der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini (1885-1968): "Der erste Schritt zum Du ist jene Bewegung, welche 'die Hände wegnimmt' und den Raum freigibt ... Die personale Liebe beginnt entscheidender Weise nicht mit einer Begegnung zum anderen hin, sondern von ihm zurück."

Bei aller Wertschätzung darf aber auch die die belastende Seite der Einsamkeit nicht übergangen werden. Gerade in unserer Zeit stellt sie für viele eine große Herausforderung dar. Denn die beglückende und anregende Dimension des Alleinseins kann nur der erfahren, der sich in einem Netz von Beziehungen aufgehoben weiß. Das zunehmende Wegbrechen tragender sozialer Strukturen in Familie, Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft macht die Erfahrung des Alleinseins für immer mehr Menschen zu einer seelischen Belastung. Einsamkeit wird zu Vereinsamung und scheinbar auswegloser Hoffnungslosigkeit. Der christliche Glaube weiß auch um diese Seite der Einsamkeit. Schon die Propheten erfahren die leidvolle Trennung von der Gemeinschaft des Gottesvolkes, in das sie ihr von Gott empfangener Auftrag führt. Die "Bekenntnisse" des Jeremia sind ein erschütterndes Zeugnis der Isolation und Verzweiflung.

Jesu Einsamkeit

Auch Jesus kennt die Erfahrung bedrückender Einsamkeit: im Unverständnis seiner Familie, in der Ablehnung seiner Botschaft und der Gottverlassenheit am Kreuz, die er im Sterben herausschreit. In der christlichen Tradition hat sich eine Metapher herausgebildet, die Angst und Resignation, Melancholie und Traurigkeit des vereinsamten Menschen auszudrückt: die Nacht. Der spanische Karmelit Johannes vom Kreuz hat sie geprägt. Wegen scharfer Auseinandersetzungen in seinem Orden musste er 1577/78 fast ein Jahr lang in der Kerkerhaft im Konvent von Toledo Dunkelheit und Einsamkeit erleiden.

Johannes stellt seine Erlebnisse und deren mystisch-theologische Deutung in mehreren Gedichten dar, die er später selbst kommentiert. Das Bild der Nacht transportiert Gefühle wie Angst und Traurigkeit und dient dazu, die Erfahrung zu beschreiben, der Johannes in der Einsamkeit des Kerkers ausgesetzt war. Gleichzeitig wird die bittere Einsamkeit für Johannes zur Erfahrung der größten Nähe Gottes. Mit ihr dürfen eben nicht nur Erlebnisse in Verbindung gebracht werden, die angenehm sind, in denen Bestätigung und Ermutigung, Stärkung und Erfolg erfahren wird. Gott will auch bei denen gegenwärtig sein, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Er ist auch dann und vielleicht gerade da, wenn Misserfolg und Enttäuschungen das Leben prägen.

Das beschreibt Johannes vom Kreuz in seiner Dichtung. Das Bild der Nacht vermag dabei schon rein äußerlich auch positive Assoziationen zu wecken. Schließlich ist sie auch eine Zeit des stärkenden Schlafes und des Vergessens. In ihrer Stille bietet sie auch Raum für die Begegnung zwischen Menschen, sei es im intensiven Gespräch oder in der körperlichen Vereinigung. Noch deutlicher tritt ihre integrierende Funktion aber hervor, wenn sie mit Blick auf Gottes Geschichte mit den Menschen betrachtet wird. Die Nacht ist der Raum, in dem sich Erlösung ereignet. An Weihnachten die Menschwerdung des ewigen Wortes in der Einsamkeit des Stalles, an Ostern die Verwandlung der Gottverlassenheit des Kreuzes in die Gewissheit der Treue des Vaters, der seinen Sohn aus dem Abgrund des Todes errettet. Jede Einsamkeit ist umfangen von der je größeren Liebe und Gemeinschaft Gottes, der auch selbst nicht in metaphysischer Einsamkeit existiert, sondern in der Gemeinschaft der dreieinen Liebe.

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Stephan Lüttich

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