Sozialer Schmerz

Einsamkeit ist mehr, als allein zu sein. Es ist ein Hungergefühl der Psyche
Manchmal befällt uns Einsamkeit wie ein Lufthauch, doch mitunter erdrückt sie uns gerade zu. Foto: dpa/ Westend61/ Bernados
Manchmal befällt uns Einsamkeit wie ein Lufthauch, doch mitunter erdrückt sie uns gerade zu. Foto: dpa/ Westend61/ Bernados
Noch im späten Mittelalter fehlte dem Wort Einsamkeit die Note des Leides. Heute hingegen sorgt die Einsamkeit für seelische und körperliche Krankheit. Der Wissenschaftsjournalist Bertram Weiß erläutert, warum das so ist und was Forscher für den Umgang mit der Einsamkeit empfehlen.

"Die Zelle ist der Himmel." So lautet eine der Weisheiten, die uns aus der Tradition der christlichen Klöster überliefert sind. Vor etwa 1.700 Jahren zogen sich die ersten Eremiten aus der Gemeinschaft der Menschen zurück. Alleinsein, so glaubten sie, birgt ein Mysterium. Sie richteten ihr ganzes Leben darauf, mit sich allein auszukommen. Denn sie erkannten, dass in der Stille des Alleinseins eine besondere Kraft ruht, eine Quelle, aus der ein jeder immer wieder schöpfen kann. Ein Weg zur Selbsterkenntnis, vielleicht zur Zweisamkeit mit Gott.

Doch zugleich kann darin ein quälendes Gefühl keimen, eine schmerzhafte Sehnsucht nach Kontakt mit anderen Menschen: Einsamkeit. Es ist eine Empfindung, die vielfach verleugnet wird. Denn wer sich einsam fühlt, schämt sich häufig. In den Augen vieler gilt das Gefühl der Verlassenheit als Ausdruck des Versagens; des Mangels, sich anderen Menschen zu öffnen. Ein Leben ohne intensive Beziehungen entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm. Und doch: Es ist ein Gefühl, das wohl jedermann empfindet, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Manchmal befällt die Einsamkeit uns nur kurz, so flüchtig wie ein Lufthauch. Doch mitunter erdrückt sie uns geradezu, beschwört gar Krankheiten herauf oder erstickt jeden Lebensmut. Einsam sein heißt, sich "eingeschlossen in dem kleinen Rumpf des Kopfes" zu fühlen, formulierte der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe.

Das Gefühl zeigt sich vor allem, wenn sich etwas im Leben grundsätzlich verändert - zum Beispiel, wenn Menschen erstmals für längere Zeit das Elternhaus verlassen, den Wohnort wechseln, einen Lebenspartner verlieren oder ihren Arbeitsplatz aufgeben. Neue, intensive Kontakte zu knüpfen, braucht dann häufig Zeit.

Zwei Prozent

Psychologen unterscheiden zwei Formen von Einsamkeit: Die "emotionale Einsamkeit" zeigt sich, wenn ein enger Vertrauter fehlt, ein Partner, mit dem man sich innig verbunden fühlt. Die "soziale Einsamkeit" dagegen weist daraufhin, dass es grundsätzlich an Beziehungen mangelt, an Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Kollegen. So erleben etwa Verwitwete weitaus häufiger als Verheiratete belastende emotionale Einsamkeit, jedoch seltener soziale Einsamkeit.

Insgesamt fühlen sich zwei Prozent der Deutschen häufig einsam, wie eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2009 ergab. Weitere 16 Prozent empfinden gelegentlich Einsamkeit. Andere Befragungen weisen darauf hin, dass junge Menschen sich eher allein fühlen als Ältere und dies auch als belastender empfinden.

Dabei erfüllt Einsamkeit eine wichtige Funktion: So wie Hunger ein Signal ist, dass der Körper nicht genug Nahrung erhält, so warnt sie uns, wenn wir den Kontakt zu anderen verlieren. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen, ein zoon politicon (von altgiechisch. zoon = Tier, polis = Stadt). Der britische Psychologe Robin Dunbar geht davon aus, dass Menschen im Schnitt einen Kreis von 150 Personen kennen. Erst dann sei unsere kognitive Fähigkeit, uns Einzelner zu erinnern, erschöpft. Denn in der Evolution des Homo sapiens war es für jedes Individuum überlebenswichtig, die Verbindung zur Horde zu erhalten. Isoliert zu sein, war dagegen tödlich. Erst in der Gruppe gelang es unseren Vorfahren, sich auf Dauer zu behaupten - und die eigenen Gene an eine neue Generation weiter zu geben.

Natürliche Sehnsucht

Der amerikanische Psychologe John Cacioppo bezeichnet die Einsamkeit daher auch als "sozialen Schmerz". Und tatsächlich: Wenn wir von anderen abgewiesen werden, entwickeln sich unsere Emotionen in der Großhirnrinde hinter der Stirn in derselben Region wie bei einer körperlichen Verletzung. Das konnte ein Team von Wissenschaftlern aus den USA und Australien mithilfe von Hirnscannern nachweisen.

Die natürliche Sehnsucht nach Artgenossen kann Menschen so gefangen nehmen, dass ihre geistigen Fähigkeiten darunter leiden: Einsame vermögen sich schlechter zu konzentrieren und suchen weniger hartnäckig nach der Lösung eines Problems als Nicht-Einsame, wie Cacioppo in Studien herausfand.

Doch nicht nur die Psyche reagiert, wenn die Einsamkeit chronisch wird. Auch der Körper erträgt die Vereinsamung schlecht. Eine Analyse von 148 Studien mit Daten von 30.000 Probanden ergab: Menschen mit stabilem sozialen Rückhalt leben länger als jene mit weniger tragfähigen Beziehungen. Damit ist Einsamkeit für die Gesundheit ebenso schädlich wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag und schädlicher, als keinen Sport zu treiben.

Anfällig für Krankheiten

Dauerhaft Einsame sind zudem anfällig für Infektionskrankheiten, produzieren große Mengen an Stresshormonen und leiden häufig unter Erschöpfung, Entzündungen, Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen. Sie brauchen dreimal länger als Nicht-Einsame, um einzuschlafen. Und selbst wenn sie gleichviel schlafen, fühlen sie sich anschließend weniger erholt. Außerdem sind sie stärker gefährdet, sich mit Alkohol oder fett- und zuckerreicher Kost ein Wohlgefühl zu verschaffen, an einer Depression zu erkranken - oder sich selbst das Leben zu nehmen.

Die Pein der Einsamkeit ist allerdings von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. So wie jeder über ein eigenes Maß an Intelligenz verfügt, so fühlt sich jeder an einem anderen Punkt zwischen den Polen von völligem Alleinsein und ständiger Gemeinschaft wohl.

Um den Grad der Einsamkeit zu ermessen, verwenden Forscher häufig die so genannte UCLA-Einsamkeitsskala. Sie zeigt, wie groß die Kluft zwischen den tatsächlichen und den erwünschten Beziehungen ist. Dafür Fragen die Wissenschaftler etwa: "Wie oft fühlen Sie sich einem anderen Menschen nah? Wie oft als Teil eines Freundeskreises? Ausgeschlossen? Schüchtern?". Wer auf der Skala eine Punktzahl von 44 erreicht, gilt als "chronisch einsam".

Vermutlich ist dies ein Wesenszug, der zumindest zum Teil auch in unserem genetischen Erbgut verankert ist. Doch maßgeblich wird die individuelle Empfindlichkeit in den ersten Lebensjahren geprägt, wie eine Vielzahl von Studien zur so genannten Bindungstheorie vermuten lässt. Demnach dient die Beziehung zwischen Kleinkind und Mutter oder einer anderen Bezugsperson auch im späteren Leben noch gleichsam als Matrix dafür, wie Menschen das für sie wohltuende Maß von sozialen Banden finden.

Vier Bindungsstile

Ein heute noch wichtiges Modell der Bindungstheorie hat die emeritierte Psychologie-Professorin Kim Bartholomew von der Simon Fraser University in Kanada entwickelt. Sie unterscheidet bei Erwachsenen vier "Bindungsstile", die das Erleben von Einsamkeit beeinflussen:

Sicherer Typ: Diese Menschen machen sich selten Gedanken darüber, dass andere sie nicht akzeptieren könnten. Sie entwickeln schnell erfüllende Beziehungen, aber sorgen sich auch nicht, allein zu sein. Das Risiko, sich einsam zu fühlen, ist bei diesen Menschen gering.

Ängstlicher Typ: Ihnen fällt es schwer, anderen zu vertrauen und sich geborgen zu fühlen. Sie fürchten, verletzt zu werden, wenn sie anderen zu nahe kommen - obwohl sie sich gerade dies gelegentlich sehnlich wünschen. Dieser Typ ist am häufigsten von Einsamkeit bedroht.

Besitzergreifender Typ: Sie erhoffen sich enge Verbindungen und möchten sich mit anderen eins fühlen. Doch diese Menschen gewinnen oft den Eindruck, dass andere Widerstände gegen ihren Wunsch nach Nähe entwickeln. Das Risiko, sich deshalb einsam zu fühlen, bleibt in überschaubarem Rahmen.

Abweisender Typ: Diese Personen wollen auf niemanden angewiesen sein und auch nicht, dass andere von ihnen abhängig sind. Aus Sorge, ihre Selbstständigkeit einzubüßen, fällt es ihm schwer, innige Beziehungen einzugehen. Sie laufen aber am seltensten Gefahr, sich einsam zu fühlen. Der Bindungstheorie zufolge kann sich also auch manch einer isoliert fühlen, obwohl er objektiv betrachtet nicht allein ist. Selbst im Hörsaal, in dem sich Studenten drängen, oder in einer Firma, in der Menschen miteinander arbeiten, ja sogar inmitten einer Familie oder eines Freundeskreises kann Einsamkeit aufkeimen.

Ein möglicher Grund: Menschen mit einem schwachen sozialen Netzwerk rechnen häufig bereits damit, keine intensive Verbindung knüpfen zu können. Daher begegnen sie Bekanntschaften von vornherein eher zurückhaltend und misstrauisch. Die Mitmenschen ziehen sich daraufhin wirklich zurück - und bestätigen damit das negative Selbstbild des Betroffenen. So entwickelt sich ein Teufelskreis, der immer tiefer in die Einsamkeit führt.

Einsame suchen Einsame

Einsame Menschen suchen außerdem eher die Nähe von anderen, die ebenfalls mit diesem Gefühl kämpfen, wie der US-Psychologe John Cacioppo in einer anderen umfangreichen Untersuchung zeigte. Zugleich schleichen sich bei jenen, die sich mit Einsamen umgeben, allmählich auch Unsicherheit und Angst vor Ablehnung ein - gerade so, als würde sich das Gefühl wie eine Infektionskrankheit von Mensch zu Mensch ausbreiten. "Wer sich der Einsamkeit ergibt. Ach! Der ist bald allein". Dieser Ausspruch, der sowohl Johann Wolfgang von Goethe als auch Bettina von Arnim zugeschrieben wird, scheint also durchaus zuzutreffen.

Um diesen Prozessen zu entfliehen, hilft es zuweilen nur, um professionelle Hilfe zu bitten. Forscher der Universität Hamburg fanden heraus, dass bereits gezielte Gruppentherapien von nur sechs Sitzungen das Gefühl der Isolation mindern können. Selbsterfahrungs- oder Kommunikations-Trainingsrunden können überdies die individuellen sozialen Fähigkeiten verbessern.

Doch wer die Last der Einsamkeit abschütteln will, muss vor allem, so trivial es klingt, sein Selbstwertgefühl verbessern und das eigene Verhalten verändern. Dies zeigt eine Studie, für die John Cacioppo 20 bereits vorliegende Untersuchungen zum Umgang mit Einsamkeit ausgewertet hat. Er empfiehlt vier Schritte, die er mit dem englischen Wort "ease" zusammenfasst, was so viel bedeutet wie "lindern" oder "erleichtern".

Schritt 1: E = Erweiterung. Wer sich einsam fühlt, läuft Gefahr, sich allzu passiv zu verhalten. Deshalb ist es besonders wichtig, aus eigenem Antrieb immer wieder nach Begegnungen zu suchen, wenn die Einsamkeit aufkeimt - und sei es nur ein Wortwechsel am Fahrkatenautomat.

Schritt 2: A = Aktion. Erst wer erlebt, dass das eigene Verhalten bisweilen eine freundliche Reaktion weckt, kann Mut fassen - und sich regelmäßig selbst in eine Gemeinschaft einbringen, eine Theatergruppe, ein Basketballteam oder einem Chor.

Schritt 3: S = Selektion. Einsamkeit schärft die Wahrnehmung für Signale der Mitmenschen. Doch um Worte oder Gesten richtig zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, ist es wichtig zu spüren, welche Beziehung aussichtsreich ist - und welche bestenfalls als Ablenkung dient.

Schritt 4: E = Erwartung. Je freundlicher man auf andere zugeht, je eher man bereit ist, seine eigenen Empfindungen zu offenbaren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, ähnliche Reaktionen zu wecken. Um sich sympathisch präsentieren zu können hilft es, möglichst wenig vom Gegenüber zu erwarten - vor allem aber nur Gutes.

Internet wenig hilfreich

Als wenig hilfreich hat es sich dagegen erwiesen, wenn Einsame versuchen, Kontakte via Internet zu knüpfen. Mehrere Studien konnten zeigen, dass von den Beziehungen in sozialen Netzwerken vor allem jene profitieren, die ohnehin schon gut vernetzt sind. Bei den einsamen Probanden traten dagegen ihre grundsätzlichen Probleme im Umgang mit Menschen auch online rasch zutage. Schlimmer noch: Das Gefühl der Einsamkeit vertiefte sich dadurch anschließend sogar.

Schließlich bleibt noch: Die Suche nach einem positiven Nutzen der Einsamkeit. "Wer sich zur Einsamkeit verdammt fühlt, kann immer noch manches dazu tun, dass seine Einsamkeit gesegnet sei", formulierte der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler.

Denn erst die Isolation bietet die Chance, den Blick nach innen zu richten - und sich mit jenem unüberbrückbaren Abgrund auseinander zu setzen, der jeden Menschen trotz erfüllender Beziehungen von anderen trennt. Genau darin sieht der Psychiater Irvin Yalom, emeritierter Professor der amerikanischen Stanford University, einen der wichtigsten Wege zu mehr Selbstsicherheit und Wohlbefinden.

Vielfach erklären Künstler und Denker gar, dass gerade die schmerzvolle Abgeschiedenheit es ihnen ermöglicht, einzigartige Werke zu vollbringen. "Nichts kann ohne Einsamkeit entstehen", stellte der Maler Pablo Picasso fest. Und der Philosoph Arthur Schopenhauer behauptete gar: "Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen, weil sie eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist."

Wer die Einsamkeit kennt, wer sie womöglich durchlitten hat, kann vielleicht auch den Wert des Alleinseins schätzen. "Gehe in Deine Zelle und setze dich dort nieder. Die Zelle wird dich alles lehren", so haben es uns die christlichen Eremiten überliefert. Und noch im späten Mittelalter fehlte dem Wort Einsamkeit die Note des Leides. Wer "einsam" war, der lebte in "Eintracht" - mit sich, der Welt und den Mitmenschen.

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Bertram Weiß

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