Vertrautes Gefühl. Unverstanden

Über Einsamkeit im Leben und in der Literatur
Edward Hopper (1887–1967): Eleven a.m., 1926. Foto: dpa/ Fine Art Images
Edward Hopper (1887–1967): Eleven a.m., 1926. Foto: dpa/ Fine Art Images
Einsamkeit martert und fasziniert den Menschen. Diese Janusköpfigkeit schlägt sich auch in Dichtung und Literatur nieder. Ein Streifzug des Germanisten und Musikers Klaus-Martin Bresgott in eigener Sache sowie auf den Spuren von Rilke und Büchner bis hin zu Herman van Veen, André Heller, The Police - und Ernst Barlach.

Die früheste Erinnerung überhaupt - noch nicht dreijährig, in Begleitung des Vaters zu den spätnachmittäglichen Diensten entlang der Küste: Zurück gelassen in einem Zimmer hoch oben über der See, mit Blick auf das Meer. Endlose Zeit. Endlose Weite. Endloser Klang: Meeresrauschen. Auch unter den tobend-fliehenden Himmeln, die sich allmählich in Licht und Dunkel reißen und beruhigend auf die Augen legen, bleibt der Klang: Meeresrauschen. Bis in den Halbschlaf. Bis endlich die Tür leise aufgeht ... und dann weiter in den Träumen. Meeresrauschen. Einsamkeit. Als Umgebung. Als Urgefühl. Ortlos. Wortlos. Unendlich.

Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie's zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum und wie's zu den Sterne kam, warn's klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie's wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich's hingesetzt und gerrt und da sitzt' es noch und ist ganz allein.

Georg Büchner: Woyzeck, 19. Szene.

Als Kind auf dem Weg zur Aussprache im Lehrerzimmer über Ziele und Pflichten einer verantwortlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft. Über den Wert des Kollektivs. Im Klavierunterricht im scheiternden Dialog um richtige Töne und musizierte Architektur. Im wunden Werben um die Nähe der ersten Geliebten. In der Sehnsucht nach stillender Gemeinsamkeit. In der schmerzhaft aufkeimenden Erkenntnis vom Glücksfall der Gleichzeitigkeit von Wünschen und Wollen schon zwischen Zweien. Im immer vertrauter werdenden Gefühl, unverstanden zu sein inmitten einer endlos verständnisvollen und sich gütig gebenden Umgebung, die immer nur das Beste will. Für wen? Einsamkeit als Kokon. Schutzraum meiner Träume. Hochstand meiner Phantasien.

Die Einsamkeit ist wie ein Regen. Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat. Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig von einander lassen; und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen: dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen ...

Rainer Maria Rilke (aus: Das Buch der Bilder, 1902)

Jugend - Wachwerden in der Welt. Kritik und Selbstkritik, Ja oder Nein als Kriterien der Zugehörigkeit zu Vaterland und Vater Staat. Einsamkeit am Rande der eigenen Wände. Träge und bedrohlich nisten wie Moos giergelbe Ohren auf den Fensterbrettern und vor der Tür. Draußen schon fremd. Unaufgehoben in der Heimat. Kein Ort. Nirgends. Herrschsüchtig gesattelte und sicher eingezäunte Ideologie verengt die Räume. Treibt in die Einsamkeit. An den verschwiegenen Ort. Außer sich nur unter sich. Einsamkeit aus Furcht. Einsamkeit im Widerstand, der brüchig zu werden droht, wenn die Einsamkeit die Wand hoch kriecht. Wenn sie von der Decke tropft. Auch am Horizont der Träume steht dir jeder Käfig offen. Einsamkeit im Kopf.

Now, no one's knocked upon my door For a thousand years or more All made up and nowhere to go Welcome to this one-man show Just take a seat, they're always free No surprise, no mystery In this theatre that I call my soul I always play the starring role So lonely, so lonely, so lonely, so lonely ...

The Police (So lonely, aus: Outlandos d'Amour; LP, 1978)

Bloß gestellt einsam in den frustrierten Vorwürfen wegen schnarchend zerfetzter Nächte.

Warm gehalten in der Sehnsucht nach Weiligkeit und Dauer. Auch im Alltag. Nach Sinn in der Form. Einsamer Raum der Stille gegenüber den Dialogwünschen meiner Geliebten. Resonanz gegen Einsamkeit. Das Stummwerden inmitten vieler Worte. Die Stimmen der Stille. Die endlosen Reise- und Hotelzimmerstunden, in denen meine Kinder erwachsen werden. Ohne mich. Die tief empfundene Ohnmacht, sie im Licht und Dunkel ihrer Einsamkeitserlebnisse und -bedürfnisse nicht im Blick zu behalten. Sie nicht zu begleiten. Eine existenzielle Aufgabe kraftlos abzugeben. Selbstgespräche statt Gespräche. Sprachlosigkeit im Entsetzen über bröckelnde Nähe. Zahnlose Wut über die züngelnd sich einschleichende Frustration. Einsamkeit in den Erfahrungen, die in der bloßen Weitergabe keinen Wert haben, weil sie selbst erfahren sein müssen. Einsamkeit in den Entscheidungen über Trennung und Fortbestand, über Wohl und Wehe für mich und andere. In der Familie und im Beruf. Einsamkeit durch Überforderung. Einsamkeit als Notwendigkeit. Einsamkeit als Fluch, die Widerspruch fordert. Als kleiner und enger werdende Welt, deren Horizontale zum Punkt schrumpft.

Losgelassen von der Zeit wie der Mut dem Willen von der Leine geht geschnürt aus Asphalt der Horizont kleiner immer kleiner die Welt igelt sich ein ferner immer ferner die Welt am Ende nur ich.

Klaus-Martin Bresgott (2014)

Was spiegelt die Einsamkeit? Wie ist ihren stetig wechselnden Aggregatzuständen vom unbestimmten Aufkeimen bis zur unerträglichen Verhärtung, wie ist ihrer Klugheit verheißenden Milde und ihrer stillschweigenden Verflüchtigung beizukommen? Mit welchen Sinnen nimmt man ihr Innen und Außen, mit welcher Aufmerksamkeit ihre Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bei anderen und bei sich selbst wahr? Welches Gefühl geht mit ihr Hand in Hand? Das Unverstandensein? Oder die Sehnsucht? Die Ausweglosigkeit? Oder die Zurückgezogenheit? Die Isolation? Oder die meditative Abgeschiedenheit? Die Anforderung? Oder die Überforderung? Die Sorge? Oder die Angst?

Es gibt eine Angst, die macht klein, die macht einen krank und allein, und es gibt eine Angst, die macht klug, mutiger, freier von Selbstbetrug.

André Heller (Angstlied, aus: Verwunschen; LP, 1980)

Wie dieses Doppelbildnis der Angst schillert auch die Einsamkeit in ihren Farben aus Frühling und Herbst. Ihr Willkommen und Abschied und deren Genuss als Spätlese oder Schierlingsbecher unterliegt dem Maß des eigenen Zuspruchs. Ihr Niemandsland ist überall. Sie ist ebenso selbst gewählt wie besitzergreifend.

Sie lädt ein und schließt aus. Wer in sie hinein gedrängt wird, fühlt sich von anderem ausgeschlossen. Wer sie wählt, sucht neues Land. Entscheidend für einen genussvollen Umgang mit ihr ist der aus dem eigenen Willen entspringende Weg zu ihr.

Als Garten und Gut ist sie in der Literatur und in der Musik ebenso präsent wie in ihrem dramatischen Gegenteil. Das Hören der Stille, das Schmecken der Zeit, das Riechen der Elemente, das Sehen neuer Himmel wie das hehre Gut gelebter Gelassenheit im Alltag - alle diese Wahrnehmungen und Lebensadern der Sinne sind ein Lob auf die Einsamkeit und womöglich nur mit ihrer Hilfe erreichbar. Im hohen Ton Rainer Maria Rilkes klingt das 1899 so:

Du meine heilige Einsamkeit, du bist so reich und rein und weit wie ein erwachender Garten. Mein heilige Einsamkeit du - halte die goldenen Türen zu, vor denen die Wünsche warten.

Hermann van Veen notiert in lakonischem Ton:

Als ich noch allein war, ein Junggeselle mit einer eignen Bude war - da war das Einsam sein sehr bequem, meistens richtig angenehm. Man konnte auch mal (und es gab dann kein Geschrei) auf dem Tisch auf den Händen stehn ... oder zwei Tage im Bad sitzen, das WC war immer frei, und wenn man mal weinen musste, war Gott sei Dank niemand dabei, der sagte "Ach Gott, was hast du denn?" Einsam - Zweisam - Dreisam und am Ende dann allein. Es hat doch auch was für sich, ganz für sich zu sein. Auch die Bäume auf dem Feld, die Vögel in der Luft, die Butter in der Butterdose, das Meer, die Wolken in der Luft, der Schnee hoch oben auf dem Berg, der Stiefel im Teichund auch der Hecht finden das einsam sein gar nicht mal so schlecht.

(aus: Die Anziehungskraft der Erde; LP, 1981)

Der junge Ernst Barlach, genervt und gepeinigt, gefördert und geführt von der Einsamkeit, gibt ihr eine mystisch-mythische Gestalt als kreative Spiegelung des ambivalenten Verhältnisses und adelt sie 1899 mit der Erzählung "Die Hexe Einsamkeit" (Prosa aus vier Jahrzehnten, 1963):

Heute aber, da Mutter verreist ist, alle Glieder voll Rheuma und zwei Koffer voll Wäsche und Kleider für lange Zeit, ist bei mir als erstberechtigte Haushexe und als Wirtschafterin in meiner Mutterverlassenheit die Einsamkeit eingezogen, die uralte Tante, aber wahrlich eine mächtige Person! Hat Besitz genommen von Diele und Küche und wirtschaftet da mit unhörbaren Schritten, leise, leise, und nachmittags sitzt sie, stattlich angetan, stolz und gespreizt im Wohnzimmer auf dem Sofa und hat ihre Kaffeeschwestern geladen, das Stillschweigen mit den tauben Ohren, der die Zunge am Gaumen festgewachsen, und die Trübsal, die in geschwätzigster Stimmung nur allstündlich wie Zufallswindhauch verloren seufzt, die und noch andre Stuben-Gespenster, ja sogar das Graulen vom Boden bittet sie zuweilen herab und läßt es sich halb zu Tode wundern über ihren Aufwand, daß es vor Dankbarkeit über die große Ehre ganz überschnappt.

Aber nach Dunkelwerden schickt sie ihre Freundinnen und Schwesterseelen fort. Dann bricht bei ihr die angeerbte Sonderlichkeit des uralten Familienwahnsinns hervor, und dann ist die abgeschlossene Stubenreihe, da sie mir für Mutter die Wirtschaft treibt, eine schlimme Gegend für mich heimkehrenden Verehrer der häuslichen Gemütlichkeit.

Habt ihr schon die tobsüchtige Einsamkeit erkannt? Die heulende gespürt, wie sie rastlos von einem Zimmer ins andere steigt und mit wilden Gebärden um die Stubenecke biegt? Immer stille, aber in ihren Mienen liegt das Graulen, immer stolz und grandezzig, aber aus der Raschheit und Gewaltsamkeit ihres Rundgangs spricht das Toben, und aus ihren Augen funkelt das innere Wüten heraus. Glaubt ihr, daß es eine angenehme Wirtschafterin ist, die Einsamkeit mit ihrem leidenschaftlichen Wesen? Aber sie ist mir doch lieber als hundert andre mit fetter, feister Behäbigkeit draußen und drinnen [...]

Dieser sattsam ironische Umgang nimmt manche romantisch gedoppelte Schwere aus jedweder "Winterreise", wie sie Franz Schubert auf die Verse Wilhelm Müllers einmalig schön vertont hat. Diese ist von dem eröffnenden "Gute Nacht" bis zum finalen "Leyermann" Sinnbild einer Wahrnehmung, die mit der typisch deutschen Binnenform des Liedes die Seele in den Mittelpunkt stellt, das Innen. Das Drama ist dabei weniger die tatsächliche Handlung auf der Bühne des Lebens. Es wird viel mehr von der Leidenschaft der Vorstellungen und Gefühle im Inneren bestimmt.

Ernst Barlach begegnet dieser Inwendigkeit mit dem Versuch, Beteiligter und Beobachtender zugleich zu sein. Er steht für einen an der handwerklich praktischen Alltäglichkeit ausgerichteten Abrieb transzendentaler Weihen. Keine sinnschwere Patina. Kein intellektueller Freiflug. Keine Vergewisserung der Höherwertigkeit der Wünsche im vertikalen Abgleich. Das im Hier und Jetzt beheimatete Erleben will im Hier und Jetzt bewältigt sein. Horizontal in kalendarischer Gewöhnlichkeit. Im Wissen um die verrinnende Zeit. Ergotherapeutisch in der Fingerfertigkeit, psychotherapeutisch im Dialog, in der Gestaltgebung als kreatives Gegenüber. Heilender Umgang durch die Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Der Heilige Bruno von Köln kam zu der Erkenntnis "Die Einsamkeit ist der Weg, der zum Leben führt. Hier tauscht man Himmlisches für Irdisches ein und Ewiges für Vergängliches." "Für die Humanisten", so Klaus Bergdolt, "diente die Einsamkeit nicht der Reduktion individueller Entfaltung, wie es der mönchischen Demut entsprochen hätte, sondern der seelischen und körperlichen Regenerierung. Die diesseitsbejahende Grundhaltung führte konsequenterweise zu einer Aufwertung der Ästhetik, der Kultivierung der Lebensformen, der versinnlichten Beschäftigung mit Literatur, Religion und Kultur. Das einsame Leben brachte dem 'solitarius' den vollkommenen Einklang mit sich selbst."

Ernst Barlach erlöst die Einsamkeit in sich von der Einseitigkeit, indem er ihr einen Kaffee anbietet. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

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Klaus-Martin Bresgott

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