Wie sie an uns zehrt

Einsamkeit trifft jeden, ob alt oder jung, ob Mann oder Frau
Foto: Paul Delvaux: La nuit de Noël (1956)/ akg-images/ CDA/ Guillemot
Foto: Paul Delvaux: La nuit de Noël (1956)/ akg-images/ CDA/ Guillemot
Vier Menschen berichten, wie sie Einsamkeit erfahren und mit ihr umgegangen sind.

Der Glaube hilft

Manuel B., 53 Jahre, stammt aus Spanien und wohnt im westfälischen Gütersloh. Bislang lebte er in festen Partnerschaften, seit zwei Jahren ist er allein.

Ich habe erst in meiner zweiten Lebenshälfte erfahren: Glaubt man an Gott, ist man nicht einsam. Als ich jung war, spottete ich über Leute, die von Einsamkeit und Depression sprachen. Doch seitdem ich mich vor einigen Jahren in einer extremen privaten Krise befand, denke ich ganz anders. Es begann damit, dass mein Freund, mit dem ich acht Jahre zusammenlebte, ein Jahr aus beruflichen Gründen nach Schweden ging. Wir chatteten, telefonierten, die übrige Zeit füllte ich mit unsinnigen Dingen wie Fernsehen, Internetspielen oder Unkraut jäten, monotone Ablenkung, Zeit totschlagen.

Dann im Sommer 2013 der große Schock, ich erkrankte an Krebs. Ausgerechnet in dieser Phase verließ mich mein Freund endgültig. Der doppelte Verlust von Liebe und Gesundheit traf mich schwer. Plötzlich befand ich mich in einem Vakuum, sah keine Perspektive. Was wird aus meinem Leben? Die materiellen Dinge, die mir stets so wichtig waren, bedeuteten nichts mehr. Du bist einsam, dachte ich. Zwar gaben mir einige Freunde und Familie Halt, doch wollte ich keinen zu sehr belasten. Tagsüber lenkte mich meine Arbeit ab, aber heimzukommen in die leere Wohnung, eine einsame Mahlzeit, die freie Seite im Bett neben mir, kein Gespräch, war schrecklich. Ich begann mich mit Hinz und Kunz zu verabreden, in diesen oberflächlichen Begegnungen wurde ich meiner Einsamkeit erst recht bewusst.

Silvester 2013/14 kam der große Wendepunkt. Anstatt in oberflächlicher Gesellschaft entschloss ich mich, einige Tage als Gast in einem Benediktinerkloster zu verbringen und ging mit den 53 Mönchen dort in Klausur. Ich bezog ein schlichtes Zimmer, ging frühmorgens zur ersten Messe mit Gesang, sonst herrschte ringsum Schweigen. Da ich als Spanier ein sehr kommunikativer Mensch bin, konnte ich das kaum aushalten. Am anderen Tag, Silvester, überfiel mich nachmittags der Gedanke, wie, so meine unsinnige Vorstellung, sich alle Welt nun fröhlich für Silvesterfeiern vorbereite. Das machte mich tottraurig, ich weinte, rief nach einem der Brüder und machte ihm Vorwürfe, dass man mich als Gast so allein ließ, wünschte, dass sich jemand um mich kümmere. Ruhig machte er mir klar, dass nur ich allein für meine Einsamkeit zuständig sei und dabei den Weg zu Gott finden könne. Keiner der Mönche leide unter Einsamkeit, denn sie haben verstanden, dass Einsamkeit ein Teil der Persönlichkeit ist.

Die Erkenntnis kam während der Mitternachtsmesse, als ich bei Kerzenlicht in der Stille in Gemeinschaft mit anderen Gästen im Kreis saß. Hier die Ruhe, draußen der Höllenlärm des Silvesterfeuerwerks, was für ein ergreifender Moment. Die negativen Schwingungen der letzten Tage, das Einsamkeitsgefühl waren relativiert, und ich fühlte mich angenommen. Dieses wohlige Gefühl hielt an, und regelrecht beschwingt fuhr ich ein paar Tage später heim. Bis heute habe ich Einsamkeit nie wieder gespürt, obschon ich immer noch ohne Partner lebe. Ich kann das erste Mal im Leben mit mir allein sein. Fast jeden Sonntag gehe ich nun zur Messe. Bisweilen neige ich zur Melancholie, das ist jedoch ein Teil von mir, der mich erdet. Aufgezeichnet von Angelika Hornig

Man wird schnell aussortiert

Helene K., 88, Norddeutschland. Ihr Mann starb vor eineinhalb Jahren, seit einem Jahr wohnt sie in einer Seniorenresidenz.

Mein Mann und ich waren über 60 Jahre verheiratet und haben mehr als 20 Jahre gemeinsamen Ruhestand erlebt. Wir haben viel Musik gehört, viele Vorträge und sind gereist. Er hat mir vorgelesen - Gottfried Keller oder "Wahlverwandtschaften", aber auch Aktuelles -, und ich machte dabei einfache Stricksachen. Das war wunderbar, dann konnte man darüber reden! Dass meine Augen in den vergangenen Jahren so schlecht wurden, fiel mir gar nicht auf, weil mein Mann mir so viel abgenommen hat. Erst als er gestorben war, ist mir zu Bewusstsein gekommen, wie schlecht ich sehen konnte: Niemand las mir morgens in der Küche die Zeitung vor.

Mein Haus vor einem Jahr aufzugeben, war ein reiner Vernunftentschluss. Ich habe das wie unter Betäubung durchgezogen. Aber ich wollte nicht, dass meine Kinder denken: "Wann geht die endlich mal?" Alle waren einverstanden und ich glaube, sie waren erleichtert. Nur meine Enkelin sagte: "Das war doch mein zweites Zuhause." Nach meinem Gefühl hätte ich durchaus im Haus weiterleben können, auch mit den schlechten Augen. Ich wusste ja wohl alles stand. Aber wer weiß, wie lange es gut gegangen wäre? Ich dachte an die Unsicherheit, die die Kinder haben, und an die Angst, wenn ich doch fallen sollte. Es hat keinen Zweck darüber zu jammern: Da ist ein Verlust zum andern gekommen, das muss ich lernen auszuhalten.

Am meisten fehlt mir das Zusammensein mit meinem Mann: Wir haben alles gemeinsam gemacht. Wir waren in allem d'accord, wir konnten uns austauschen. Das fehlt mir, das Gegenüber. Ist das Einsamkeit? Ja, man ist schon allein. Meine vier Kinder rufen alle an und kümmern sich. Mehr geht nicht, und mehr will ich auch nicht, ich will auch bei keinem Kind "andocken". Wie gut, dass ich zuhören kann. Die Töchter, die laden auch mal was ab, und ich interessiere mich dafür. Manchmal grüble ich dran rum und später stellt sich dann heraus, es ist bei denen längst wieder gut.

Ich kann ja durchaus froh sein, dass mir nichts weh tut, dass es mir so gut geht, bis auf die Augen. Zu hadern bringt ja nichts. Ich versuche so lange wie möglich, Sachen allein zu machen, auch in die Stadt zu fahren. Ich frage dann: "Ist das der richtige Bus?" Ich muss sehr aufpassen an der Ampel, denn die Leute gehen auch bei Rot. Aber ich will das! Wenn ich nichts unternehme, dann wird es noch schwieriger. Solange es geht, will ich vieles. Eins ist mir aufgefallen: Man wird schnell aussortiert. Wir haben früher immer bewusst Leute eingeladen, die allein waren, aber das scheint nicht üblich zu sein. Zum Kaffee werde ich ab und an mal eingeladen, aber abends nicht mehr. Das ist anscheinend so in unserer Gesellschaft, da muss man sich mit abfinden. Ich möchte nicht jämmerlich werden. Natürlich ist man manchmal traurig, aber ich lebe von dem guten Leben der Jahrzehnte davor. Und die Familie spielt eine große Rolle. Dieses Grundlebensgefühl bleibt erhalten, auch wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

Nächstes Jahr wird's anders

Fabian N., 46 Jahre, lebt in Berlin und stammt aus dem Ruhrgebiet. Er hat zwei Kinder und ist seit einiger Zeit wieder Single.

Heiligabend allein? Das sollte nicht sein. War aber einmal so. Das erste Jahr nach dem Ende einer langen Partnerschaft, die kinderlos blieb. Jetzt Single, Mitte Dreißig, mitten in Berlin. Der Freundeskreis hat sich verkleinert. Hin und wieder die Frage in den Wochen vorher: Was macht ihr? Die meisten haben eigene Kinder oder einen Partner, mit denen sie Weihnachten im kleinen Kreis feiern wollen, da will man sich nicht aufdrängen. Andere fahren zu ihren Eltern. Keine Alternative, es hapert gerade mal wieder mit der Herkunftsfamilie. Alleinsein befreit von Verstrickung, aber jetzt fühlt es sich einsam an. Die Gegenstrategie: Planen, Programm machen, hinausgehen aus der Wohnung. Es muss doch irgendwas möglich sein, wenn nicht hier, wo dann. Tacet in den Konzertsälen, die Theaterspielpläne sind leer, nur in einem wird auf einer Nebenbühne ein wildes Krippenspiel mit anschließenden Buffet und Musik angekündigt. Gut so, Karten im Vorverkauf gesichert, damit kommt man über die ersten Stunden des Abends. Vorher etwas Schönes kochen, schick machen, ab ins Theater ... Die Schauspieler sind überrascht über rund 50 Gäste, wenige kommen allein, auch eine blonde junge Frau ... Eigentlich sei der Abend als kleine interne Feier geplant gewesen und durch einen Fehler in den Verkauf gekommen, heißt es zu Beginn. Niemand wird hinausgeworfen, schließlich ist Weihnachten, aber das Stück ist kurz und albern, das Buffet ist schnell geplündert. Immerhin Musik, es wird getanzt, zu zweit oder allein. Die blonde Frau weicht dem Blick aus, einmal, zweimal, geht vor dem dritten Versuch ...

Zeit für den Spät-Gottesdienst, gleich in der Nähe, nicht die Heimatgemeinde, aber wo die ist, ist nach dem Umzug sowieso noch unklar. Volle Bänke, ein bekanntes Gesicht, das von Ferne grüßt, dann in der Masse verschwindet. Liturgie und Predigt rauschen vorbei, aber gemeinsam singen tut gut. Wie die anderen wohl heute Abend gefeiert haben? Mit Familie? War bestimmt schön, oder nicht? Allein am Heiligabend ist schwierig, aber am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit ... gerade an solchen Abenden. Um Mitternacht raus, am Hackeschen Markt stehen die Huren mit Nikolaus-mütze. Soweit kommt es noch ... schnell nach Hause, Computer bleibt aus, ist ja schließlich Weihnachten. Und der alte Film mit dem Engel Clarence, der sich endlich seine Flügel verdient, läuft ausgerechnet in diesem Jahr nicht im Fernsehen. Raus auf den Balkon, Rauchen kann ein Gebet sein, ein Blick auf die Straße, drüben blinkt der Weihnachtsschmuck grell vor sich hin ... Stille Nacht - auch sie geht vorbei ...Nächstes Jahr wird alles anders! Aufgezeichnet von Stephan Kosch

Einsamkeit als Grundgefühl

Carola H., 65 Jahre alt, geschieden, zwei erwachsene Kinder, Freiberuflerin, lebt seit drei Jahren allein in Bielefeld.

Man neigt zur Einsamkeit oder nicht. Es ist das Gefühl, fremd zu sein, anders zu denken, zu fühlen. Sich unverstanden fühlen. Viele meiner Freunde verwechseln Alleinsein mit Einsamkeit, doch ich weiß, es ist etwas anderes. Ich kann mich in einer großen Gesellschaft einsam fühlen, ich kann mich mit einem einzigen Menschen einsam fühlen. Wenn ich das spüre, möchte ich gehen, für mich sein. Es mag sich paradox anhören, aber Alleinsein lässt sich besser aushalten als Einsamkeit. Natürlich habe ich im Laufe meines Lebens versucht herauszufinden, woran das liegt. Bei mir spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Meine Familie verließ 1956 die DDR, ich war gerade eingeschult. Die heile Kinderwelt, das Haus mit dem Garten, die Verwandten, ersten Freunde blieben zurück. Das Leben im "Westen" war schwer für meine Eltern, sie arbeiteten beide hart für die neue Existenz. Ich bin ein Einzelkind und in diesem Mikrokosmos der Kleinfamilie ohne Großeltern oder nahe Verwandte aufgewachsen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat und aus beruflichen Gründen meines Vaters zogen meine Eltern oft um, das hieß für mich, ich musste häufig die Schule wechseln. Immer wieder war ich die Neue, die nicht dazu gehörte, musste um Freundschaft werben. Saß allein in neuen Wohnungen, befand mich in neuen Umgebungen. Der Vorteil, der daraus entstand, ist, dass ich bis heute sehr kontaktfreudig bin und auf andere zugehen kann. Deshalb vermutet keiner, dass dahinter eine tiefe Einsamkeit steckt und ich gelernt habe, die Flucht nach vorn anzutreten.

Es wurde besser, als ich mit Anfang 30 meine eigene Familie hatte. Trotz einer Scheidung fühlte ich mich später mit meinen Kindern nie mehr einsam. Als sie aus dem Haus gingen, habe ich fünf Jahre meine demente Mutter gepflegt und oft gewünscht, allein zu sein. Die Geister, die ich rief! Nun bin ich nach 34 Familienjahren allein, fühle mich oft einsam. Alleinsein und zu wissen, im Hintergrund ist noch jemand, ist etwas ganz anderes, als in einer Wohnung zu leben, in der kein anderer wohnt als ich. Auch beruflich stehe ich auf einsamem Posten. Da ich seit 30 Jahren freiberuflich arbeite, habe ich zwar ein Netzwerk, aber keine echten Kollegen. In der Nacht oder an Feiertagen macht sich das Einsamkeitsgefühl besonders bemerkbar. Bei Feiern von Freunden, mit deren großen Familien, denke ich oft: Ich habe nur meine beiden Kinder und meine Enkelin, aber keinen aus meiner Generation, mit dem ich Erinnerungen tauschen kann. Das fühlt sich auch einsam an. Zum Glück sind die Momente, in denen ich Angst habe, depressiv zu werden, selten. Ich kann mich und meine Situationen gut analysieren und entwickele Strategien.

Um mir nicht zu verloren vorzukommen, habe ich mein Einfamilienhaus verkauft, wohne nun in einem Mehrfamilienhaus. Es beruhigt mich, zu wissen, es sind viele Leute um mich herum und das Leben aus dem Fenster betrachten zu können, tut mir gut. Was mir hilft? Immer, seit meiner Kindheit, sind es Bücher. Darüber hinaus bin ich kreativ, schreibe, zeichne, fotografiere, führe Tagebuch. Natürlich sind Telefon und Internet eine große Hilfe, mit Menschen in Kontakt zu bleiben, sich täglich auszutauschen. Sehr viel bedeuten mir jedoch Tiere, als Kind hatte ich immer Wellensittiche, später Hunde, heute ist es ein Papagei.

Einsamkeit ist mein Begleiter. Ich fand heraus, dass auch ein Partner kein Erlöser aus der Einsamkeit ist. Das sind weder die Eltern, noch die Kinder. Man ist ganz allein dafür verantwortlich und muss lernen, damit zu leben, sonst wird das Alter unerträglich. Dennoch sage ich: Das Leben ist wunderbar in all seinen Facetten, Einsamkeit gehört dazu. Aufgezeichnet von Kathrin Jütte

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