Abschied von einem Rastlosen

Trauerpredigt für Frank Schirrmacher (1959-2014)
Als Herausgeber der faz setzte Schirrmacher im Feuilleton neue Maßstäbe. Foto: dpa/ Wolfram Steinberg
Als Herausgeber der faz setzte Schirrmacher im Feuilleton neue Maßstäbe. Foto: dpa/ Wolfram Steinberg
Am 12. Juni, kurz nach Redaktionsschluss der Juli-Ausgabe dieser Zeitschrift, starb Frank Schirrmacher im Alter von 54 Jahren - überraschend und viel zu früh. Die Erschütterung über den Tod des FAZ-Herausgebers, der im Feuilleton neue Maßstäbe gesetzt hatte, war groß. Neun Tage später fand ein Trauergottesdienst in Sacrow bei Potsdam statt. Die Predigt hielt der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, Herausgeber der zeitzeichen. Wir dokumentieren sie im Folgenden. Am 5. September, dem Tag, an dem der Verstorbene 55 Jahre alt geworden wäre, findet ein offizieller Trauerakt für Schirrmacher in der Frankfurter Paulskirche statt.

Der Apostel Paulus beendet einen langen Brief an die von ihm gegründete christliche Gemeinde in Korinth mit Grüßen und Ermahnungen. In diesem Briefschluss heißt es: "Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark. Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen." Dann fügt der Apostel noch hinzu: "Die Gnade des Herrn Jesus sei mit euch" (1. Korinther 16, 13f. 23). Diesem Rat wollen wir uns heute anvertrauen.

Diese Kirche ist nah am Wasser gebaut. Von der Glienicker Brücke sieht sie wie ein Schiff aus, dem mit italienischer Leichtigkeit ein Campanile angefügt ist. Ludwig Persius, der die Heilandskirche auf Geheiß des Romantikers auf dem preußischen Thron, Friedrich Wilhelms IV., 1844 erbaute, hätte sie deshalb gern "das Schiff" genannt. Dazu kam es nicht. Nun bringt sie zum Ausdruck, dass wir auf der Reise, auf die sie uns führt, darum bitten, dass die Gnade Jesu, des Heilands, mit uns reist.

Nah am Wasser ist diese Kirche gebaut. Viele Tränen wurden um sie und in ihr vergossen, Tränen der Freude wie des Leides. Das Jahr 1961 verstrickte sie zutiefst in das Schicksal der deutschen Teilung. Die Grenze zwischen Ost und West verlief über das Kirchengelände. Der Campanile wurde zum Teil der Sperrmauer, hohe Betonplatten umringten ihn. Das Gelände war abgeriegelt, die Kirche selbst der Zerstörung und dem Verfall preisgegeben. Nur mit Müh und Not - und dem beharrlichen Einsatz Richard von Weizsäckers - gelang es, sie in der Zeit der deutschen Teilung vor dem Einsturz zu bewahren. In ihrem noch völlig verwahrlosten Innenraum fand an Weihnachten 1989 wieder ein erster Gottesdienst statt. Die Tränen flossen reichlich.

Diese Kirche steht ganz dicht bei dem Haus der Familie Schirrmacher am Ufer der Havel, ganz dicht beim Ort großen Glücks, an dem Frank Schirrmacher zur Ruhe kam, dem Ort der innigen Gemeinschaft mit seiner Frau und seiner Tochter. Diese Kirche auf der Landzunge zwischen Himmel und Havel will uns heute bergen. Auch unsere Tränen will sie aufnehmen. Sie erträgt es nicht nur, sondern trägt es, dass auch wir seit Tagen schon und an diesem Tag erst recht nah am Wasser gebaut sind. Die Trauer um Frank Schirrmacher führt uns zusammen, der für jeden von uns etwas anderes, aber für uns alle unendlich viel bedeutet hat und weiter bedeuten wird. In dieser Kirche des Heilands halten wir Ausschau nach Trost.

Wider das Zaudern

Ob Frank Schirrmacher, der uns jäh Entrissene, den Weg zu solchem Trost weisen kann, habe ich mich gefragt. Vor fünf Jahren nahm er die Einladung an, in der Frankfurter Katharinenkirche eine Predigt zu halten. Das mag manchen, der ihn von anderen Seiten kannte, erstaunen; er selbst aber war eher darüber erstaunt, dass seine, die evangelische Kirche, nicht mehr von ihm erwartete, ja forderte. Der Anlass, der ihn auf die Kanzel führte, war die Eröffnung der evangelischen Fastenaktion "Sieben Wochen ohne". Deren Motto hieß in jenem Jahr: "Sieben Wochen ohne Zaudern". Dieses Motto lag Frank Schirrmacher. Die Unterscheidung zwischen einem Zögern, das der Nachdenklichkeit entstammt, und einem Zaudern, das der Angst nachgibt, war ihm wichtig. Uns Deutschen schrieb er die zweite Art der Verlangsamung zu: Deutschland ist Hamlet. Mit Lust zitierte er Freiligraths Gedicht über diesen Prototyp des Zauderers schlechthin: "Er sinnt und träumt und weiß nicht Rat; / kein Mittel, das die Brust ihm stähle! / Zu einer frischen, mut'gen Tat / fehlt ihm die frische, mut'ge Seele!"

Nicht gesammeltes Schweigen, sondern gesammeltes Zaudern sah er als das Problem unserer Zeit an. All die Versagungen und Verschiebungen der Vergangenheit haben sich so aufgehäuft, dass wir nicht wissen, wie wir ihrer Herr werden sollen. Dass es den Imperativen der Ökonomie und den Regeln der Technik überlassen wird, über den Sinn und die Hoffnung unseres Lebens zu bestimmen, sah er als das allergrößte Zaudern an. Angesichts der großen Transformationen unserer Zeit - dem demographischen Wandel, der Umgestaltung der Gemeinschaftsformen, dem digitalen Zugriff auf das Innere unseres Kopfes, der ökonomisch gesteuerten Veränderung unserer Identität - suchte er nach Grundhaltungen, die inmitten all dieser Attacken auf unser Menschsein die Hoffnung auf Humanität bekräftigen.

Er hielt Ausschau nach dem Vorbild von Menschen, denen eine frische, mut'ge Seele gegeben war und mit ihr auch die Kraft zur frischen, mut'gen Tat. Er wollte ohne Zweifel selbst ein solcher Mensch sein. Der Flugkapitän Chesley Sullenberger war ihm ein Beispiel dafür, der das Wagnis auf sich nahm, sein Flugzeug, dessen Triebwerk von einem Schwarm Vögel lahm gelegt worden war, auf dem Hudson River mitten in New York notzulanden, um das Leben der Insassen zu retten. Ob er bei dieser kühnen Aktion gebetet habe, wurde Sullenberger gefragt. Er antwortete: "Ich musste mich total konzentrieren. Aber ich war mir sicher, irgendwo dort hinten im Flugzeug würde jemand sitzen, der das für mich übernehmen würde." So ist es auch heute, wenn wir für Frank Schirrmacher beten. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, dass uns die Worte fehlen.

Schirrmacher wagte sich noch weiter vor. Das Vorbild seiner Wiesbadener Jugend nahm er in Anspruch, das Vorbild aus der Zeit, in der er als Konfirmand in seiner evangelischen Gemeinde zu Hause und aktiv war. Martin Niemöller war dieses Vorbild, der ehemalige Dahlemer Pfarrer, der nun von Wiesbaden aus die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau leitete und die Auslandsarbeit des deutschen Protestantismus koordinierte. Woher kommt die Kraft eines Menschen, in entscheidenden Momenten der Geschichte nicht zu zaudern? Diese Frage brannte sich dem jungen Frank Schirrmacher ein, der von sich sagte, schon im Alter von zwölf Jahren habe er sich manchmal alt gefühlt, den wir zugleich bis zu seinem Tod als so jung erlebten und der so inständig hoffte, das noch lange zu sein. Seine Bücher waren für viele eine Ermutigung dazu, in entscheidenden Momenten der Geschichte nicht zu zaudern. Dazu brauchte es eine Hoffnung, die sich nicht in der ultima ratio menschlichen Handelns erschöpfte, erst recht nicht, wenn diese ultima ratio allein im kalkulierten Eigennutz gesehen wurde. Eine solche Hoffnung erwartete er vom Gottvertrauen; deshalb hielt er am Glauben seiner Jugend fest.

Dafür berief er sich auf die großen biblischen Zeugen für den Abschied vom Zaudern: Noah, Abraham, Jesus. Er nannte sie nur, aber man konnte ahnen, warum. Noah, der die rettende Arche baut - "So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" - , Abraham, der Vaterland und Verwandtschaft hinter sich lässt, um der Verheißung des Segens zu folgen - "Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein" - , Jesus, der nicht einmal vor dem Weg ans Kreuz zurückscheut, in der Gewissheit, dass er gerade so die Nähe zu Gott mit der Nähe zu den Menschen verbindet, dass er gerade so den Weg zu Vergebung und Versöhnung frei macht - "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

Mich selbst verbindet mit Frank Schirrmacher, dass er sich für den Mut des Glaubens, die große Alternative zum Zaudern, auf Dietrich Bonhoeffer berief. Besonders stützte er sich auf eine Strophe aus Bonhoeffers Gedicht "Stationen auf dem Wege zur Freiheit":

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,

nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,

nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens

nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,

und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.

In dieser Gewissheit wollen wir von Frank Schirrmacher Abschied nehmen, frei von ängstlichem Zaudern, vom Vertrauen auf Gott und der Kraft des Glaubens getragen - in den Worten des Paulus: "Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark. Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen. Die Gnade des Herrn Jesus sei mit euch. Amen."

Wolfgang Huber

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