Eine Frage der Humanität

Bei der Beurteilung der Homosexualität verlaufen die Grenzen oft innerhalb der Religionen
Homosexuelle demonstrieren vor der Vertretung Ugandas in Nairobi (Kenia). In Uganda droht Schwulen und Lesben lebenslange Haft. Foto: dpa/ Ben Curtis
Homosexuelle demonstrieren vor der Vertretung Ugandas in Nairobi (Kenia). In Uganda droht Schwulen und Lesben lebenslange Haft. Foto: dpa/ Ben Curtis
Vor einiger Zeit haben afrikanische Staaten wie Uganda und Nigeria die Strafen gegen praktizierte Homosexualität verschärft. In Uganda sind dafür die Kirchen mitverantwortlich, in Nigeria Christen und Muslime gemeinsam. Die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt beschreibt die Einstellung der Religionen zur gleichgeschlechtlichen Liebe in Geschichte und Gegenwart.

Im Licht späterer Verbote wirkt auf uns der Umgang mit Homosexualität im antiken Griechenland geradezu freiheitlich. Die "Knabenliebe" zwischen erwachsenen Männern und Jungen ab der Pubertät, die oft - aber nicht notwendig - eine sexuelle Komponente enthielt, war in der Oberschicht üblich. Und sie war gesellschaftlich anerkannt. Sie hatte sogar eine erzieherische Komponente, da sie beim jüngeren Partner der Ausbildung von "Mannestugend" dienen sollte. Weniger akzeptiert waren Beziehungen zwischen zwei erwachsenen Männern, weil die "weibliche" Rolle, die des passiven Partners, als unehrenhaft galt. Auf erwachsene Männer gerichtete homosexuelle Bedürfnisse wurden daher häufig mit Sklaven befriedigt, insbesondere in Rom, wo Homosexualität ohnehin stärker eingeschränkt war. Verboten wurde sie dort allerdings erst in christlicher Zeit.

Über weibliche Homosexualität im antiken Griechenland ist weit weniger bekannt. Auch sie soll oft zwischen Frauen ungleichen Alters stattgefunden haben. Auf Lesbos, wo Sappho, die bedeutendste antike Lyrikerin, im Kreise ihrer Schülerinnen und Freundinnen gleichgeschlechtliche Erotik gepflegt haben soll, geht bekanntlich der Begriff "lesbisch" zurück.

Die "Knabenliebe" der Antike ist offenbar ohne Widerstand der etablierten Religionen ausgeübt worden. Schon 1907 beschrieb Erich Bethe den Brauch, den Bund von Männern mit Knaben durch religiöse Weihen zu besiegeln, auf Kreta zum Beispiel mit einem Rinderopfer für Zeus und für Thera mit einem Apollon-Ritual im Tempelbezirk.

Gleichwohl müssen wir feststellen, dass ein erheblicher Anteil der antiken Freizügigkeit im Umgang mit Homosexualität heutigen ethischen Maßstäben nicht standhält. Gerade ihre gängigsten Formen würden heute entweder als sexueller Missbrauch Minderjähriger oder Ausbeutung Abhängiger gelten. Dagegen wurde gerade jene Spielart in Griechenland und Rom verachtet, die beides ausschließt, nämlich die gleichberechtigte Liebe zwischen zwei erwachsenen Männern oder Frauen. Hier hebt sich die Antike weniger ab als angenommen von dem heute noch verbreiteten Klischee, dass männliche Homosexualität "echte" Männlichkeit bedrohe.

Jesus schweigt

In der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, und im Talmud wird männliche Homosexualität abgelehnt und sogar mit der Todesstrafe bedroht. Und auch das Neue Testament verurteilt sie. Allerdings äußert sich Jesus nicht zu ihr. Infolge zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz der Homosexualität haben Theologen versucht, homophobe Bibelaussagen exegetisch zu entschärfen, wonach diese sich gegen homosexuelle Praktiken richten würden, nicht gegen Homosexuelle selbst. Meines Erachtens lässt sich der grundsätzliche Widerspruch zwischen der Heiligen Schrift und unserem heutigen Anspruch an Humanität nicht wegdiskutieren.

Das gilt auch für die Bibelstelle, auf die die Bezeichnung von Homosexualität als "Sodomie" zurückgeht: Zwei Engel besuchen Lot in Sodom und wohnen bei ihm. Nachts kommen Männer an Lots Haus und fordern die Auslieferung beider Gäste für sexuelle Zwecke. Lot verweigert dies aufgrund des Gastrechts und bietet dem Mob ersatzweise seine beiden jungfräulichen Töchter an.

Die spätere Vernichtung der Stadt durch Gott wird von traditionellen Exegeten als göttliche Strafe für die Homosexualität der Sodomiter gedeutet. Aber sie umgehen die Frage, wieso Gott die homosexuellen Sodomiter so viel härter bestraft als Lot, der seine Töchter zwangsprostituiert. Auch dieses Missverhältnis kann nicht durch eine wie auch immer geartete Exegese bereinigt werden.

Manche biblischen Stellen wie der Bericht von der engen Freundschaft zwischen David und Jonathan (bei Samuel), Ruth und Noemi (im Buch Ruth), Jesus und Johannes (im Johannesevangelium), sind von Theologen als Hinweise auf eine latente Homoerotik gedeutet worden. Aber Belege für eine gelebte Homosexualität finden sich in der gesamten Bibel nicht.

Im modernen liberalen Judentum, in Teilen der evangelischen Kirche und bei manchen römisch-katholischen Theologen setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass nur ein bewusster Verzicht auf die Verurteilung und Diskriminierung anderer - aus welchen Gründen auch immer - die adäquate Antwort auf die bedingungslose Liebe Gottes zu allen Menschen ist. Gottesdienstliche Segnungen homosexueller Paare nehmen zu. Aber in beiden Religionen gibt es Gegenwehr gegen die Akzeptanz eines in der Bibel verurteilten Verhaltens. Weder ultraorthodoxe Juden in Israel noch die Kirchen in der Dritten Welt, von Indien bis Uganda, sind bereit, den liberalen Glaubensbrüdern und -schwestern anderswo zu folgen.

Auch im Islam

Die beiden gegensätzlichen Standpunkte finden sich auch im Islam. Einerseits ahnden viele muslimische Staaten praktizierte Homosexualität mit der Todesstrafe. Andererseits schrieb kürzlich ein prominenter Vertreter des indischen Islam, man solle nicht über das Sexualleben anderer urteilen; sofern es einvernehmlich geschehe, entspreche es nur den eigenen Vorstellungen von Liebe oder nicht. Wie in Judentum und Christentum hängt auch im Islam die Akzeptanz und Wertschätzung homosexueller Lebensentwürfe von der Bereitschaft zum eigenverantwortlichen und kritischen Umgang mit der heiligen Schrift ab.

Im hinduistischen Indien gab es lange Zeit - wie der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar ausführt - einen eher gelassen-ignorierenden Umgang mit sexuell abweichendem Verhalten. Im berühmten Kamasutra, der indischen Liebeskunst, spielt die Liebe homosexueller Männer sogar eine gewisse Rolle. Aber es ist nie von Anal-, sondern nur von Oralverkehr die Rede. Der Grund liegt in der Wichtigkeit ritueller Reinheit für gläubige Hindus. Männliche Neigung zu Homosexualität wird häufig mit einem gewissen Mitleid als defizitäre Veranlagung gesehen und in den klassischen Rechtsbüchern mit relativ milden Strafen geahndet.

Ganz im Gegensatz zu heutigen Tendenzen zeigt der indische Islam traditionell eine stärkere Hinwendung zur Homosexualität als der Hinduismus. Sufi-Lieder, die die ekstatische Liebe zu Gott besingen, haben in der Regel eine Symbolebene, die man homoerotisch deuten kann.

Und an den Höfen muslimischer Herrscher Indiens war Homosexualität, häufig in der Form der Päderastie, keine Seltenheit.

Weibliche Homosexualität wird im traditionellen Indien dagegen überwiegend als Notlösung gedeutet, wie bei der Vernachlässigung einer Frau durch einen desinteressierten Ehemann oder in einem Harem. Als Bedrohung für das Patriarchat wertet man lesbische Liebe nur dann, wenn sie die physische Jungfräulichkeit eines Mädchens bedroht. Homosexualität als Persönlichkeitsmerkmal ist bei Frauen noch weniger im Blick als bei Männern.

Zum Doppelleben gezwungen

Überhaupt ist der indische Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe bis heute nicht so sehr von der moralischen Bewertung des Individuums bestimmt als vielmehr vom Familiensystem, dessen Teil der oder die Einzelne ist. "Es geht nicht nur um meine Eltern, die würden mich ja vielleicht sogar verstehen", sagte ein junger Inder der "Neuen Zürcher Zeitung". "Wenn ich mich zu meinem Schwulsein bekennen würde, hätte das für die ganze Familie schreckliche Folgen. Meine Eltern, Onkeln und Tanten würden im Dorf zu Unberührbaren, meine drei kleinen Schwestern könnten nicht mehr verheiratet werden. Und das kann ich ihnen nicht antun."

Ein Doppelleben ist daher in Indien für viele Homosexuelle die einzige Möglichkeit, ihre Neigungen wenigstens zeitweise leben zu können, ohne zugleich ihre Familien zu zerstören. So sind über 80 Prozent der indischen Schwulen mit einer Frau verheiratet. Die gesellschaftliche Situation führt dazu, dass sich sogar Prominente nicht offen zu ihrer Homosexualität bekennen.

Das radikale Verbot homosexueller Betätigung, das Ende 2013 nach vorübergehender Lockerung vom höchsten Gericht erneut im indischen Strafgesetzbuch festgeschrieben wurde, ist genaugenommen nicht indischen, sondern westlichen Ursprungs. Den einschlägigen Paragraphen 377 hat 1861 die britische Kolonialmacht geschaffen. Nachdem 2009 ein Gericht in Delhi den Paragraphen faktisch ausgehebelt hatte und indische Schwule und Lesben aufatmeten, erzwang eine Allianz hinduistischer, muslimischer und christlicher Organisationen die Verschärfung des Verbotes.

Buddhistische Ethik verbietet den Laien sexuelles Fehlverhalten, und Ordensleute unterliegen ohnehin dem Zölibat. Aber was ist sexuelles Fehlverhalten? In traditionellen buddhistischen Kulturen wie der tibetischen, hat es, wie überall, stets beides gegeben: homosexuelle Praxis - gelegentlich auch in je kulturspezifischen Formen der Knabenliebe - und Homophobie. Letztere wird aber durch die Anschauung relativiert, dass das buddhistische Heilsziel die Befreiung vom Geburtenkreislauf sei, Sexualität gleich welcher Couleur also nicht wirklich gebraucht werde.

Verwerfliche Leidenschaft

Als wichtigste buddhistische Führungsfigur der Gegenwart tritt der Dalai Lama zwar grundsätzlich gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ein, jedoch nicht ohne gelegentlich sowohl die Sexualität im Allgemeinen als auch die - vermeintlich von der Natur nicht vorgesehene - Homosexualität im Besonderen grundsätzlich in Frage zu stellen. Schließlich dient jede Sexualität der im Buddhismus eher verwerflichen Leidenschaft.

Manche - vor allem westliche - Buddhisten interpretieren das buddhistische Verbot sexuellen Fehlverhaltens allerdings so, dass jegliche Sexualität in Ordnung sei, solange sie niemandem, auch keinem Dritten, Schaden zufüge, und schließen dabei Homosexualität ausdrücklich mit ein.

Homosexualität gehört ganz offensichtlich zum menschlichen Leben. Die Humanität künftiger Gesellschaften wird an ihrer Bereitschaft gemessen werden, in den heiligen Traditionen verwurzelte Vorbehalte aufzugeben, zugunsten eines - letztlich von allen Religionen gelehrten - wertschätzenden und respektvollen Umgangs gerade mit jenen Menschen, die in ihrer sexuellen Orientierung nicht der Mehrheit entsprechen. Nicht Homosexualität ist es, die unsere Welt bedroht, sondern sexualisierte Gewalt und Ausbeutung von Kindern, Frauen und Männern, ob in hetero- oder homosexueller Form. Es ist diese letztere Problematik, der sich religiöse wie säkulare Menschen in Zukunft verstärkt werden stellen müssen.

Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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