Schmollen gilt nicht

Eine Replik auf die bekennenden Nichtwähler Peter Sloterdijk und Harald Welzer
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Am 22. September entscheiden die Deutschen über einen neuen Bundestag. Zwei prominente Intellektuelle, der Philosoph Peter Sloterdijk und der Soziologe Harald Welzer, haben öffentlich angekündigt, sich nicht daran zu beteiligen, und sehen dies auch als Ausdruck politischen Protests. Die Chefredakteurin der "taz", Ines Pohl, hält dagegen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk prägte vor kurzem das schöne Wort der neuen deutschen "Lethargokratie". Nun bekennt er aber im "Spiegel", auch er gehe in diesem Jahr nicht wählen. Nein, nicht aus Lethargie. Sloterdijk ist nur ratlos: "Bisher hieß politisch vernünftig sein, das geringere Übel zu wählen. Doch was tun, wenn ich nicht mehr weiß, wo das geringere Übel liegt?"

Nicht mal kleine Unterschiede soll es geben zwischen den Parteien in diesem Land? Alles nur noch Pest oder Cholera, Masern oder Mumps? Hier spricht nicht nur eine zynisch gewordene Vernunft, hier spricht Detailverleugnung im pathetischen Stil der großen Geste. Ein starkes Stück für Deutschlands bekanntesten Gesellschaftsphilosophen. Einer der bekanntesten deutschen Sozialpsychologen, Harald Welzer, will selbst das kleinere Übel nicht mehr und verkündet, ebenfalls im "Spiegel": "Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung des Einverständnisses mit der Politik der Parteien." Ja. Und?

Eine solche Wahlverweigerung hat, pardon die Herren, pubertäre Züge. Und irgendwas duftet hier stark nach Selbstüberschätzung. Die Politik wird zur Farce? Dann werden wir denen da oben mal zeigen, wo's lang geht: Wir schmollen! Wir enthalten uns! Wir machen nicht mehr mit.

Was früher den so genannten unteren Schichten angekreidet wurde als Dummheit, Faulheit, fehlendes Politikbewusstsein in jedem Falle, das also soll heute sozialbewusste Avantgarde sein? Die bekennende Ratlosigkeit der großen Denker hinkt allerdings der seit Jahren abnehmenden Wahlbeteiligung des Volkes hinterher. "Wir sind doch nur das Stimmvieh! Da geh ich nich' mehr hin - bringt ja sowieso nix!", heißt die Stammtischvariante der angeblich neuen Rede der Herren Sloterdijk und Welzer.

Der alte linke Slogan "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!", beschrieb einen Traum, der bis heute alle Pazifisten begeistert - zu recht! Dieser Slogan war als Weckruf gemeint - wir Bürger sind es, die die Krieger stellen, die Befehle ausführen, und wenn wir nicht hingehen, dann gibt es eben auch keinen Krieg. Ausgeträumt. "Wir" führen im 21. Jahrhundert mehr Kriege als je zuvor.

Raus aus dem Spiel

Nun also: Stell Dir vor, es sind Bundestagswahlen und keiner geht hin? Diktaturen und auch unseren bequem gewordenen, visionslos etablierten Demokratien kann doch gar nichts Besseres passieren als die Stimmenthaltung ihrer Gegner einzukassieren. Wer soll denn wachgerüttelt werden durch diese "Aufkündigung des Einverständnisses"?

Für jeden Politiker ist schon die Wahl einer anderen als seiner eigenen Partei eine "Aufkündigung des Einverständnisses". Nicht wählen heißt einfach: Ich bin raus aus dem Spiel. Nicht mehr und nicht weniger. Nur dass es bei diesem Spiel um unsere parlamentarische Demokratie geht. Zu denken, diese Absage ans Spiel verändere das Spiel selbst, ist, parlamentarisch gedacht, schlichter Unfug. Entscheidend sind die abgegebenen Stimmen, nicht die Wahlbeteiligung.

Damals, als in Deutschland noch Recht und Ordnung herrschten und die Welt noch übersichtlich war, hatten auch Wahlplakate eine eindeutige Botschaft: "Millionen Christen wählen CDU", ließ Konrad Adenauer 1949 plakatieren. Der SPD-Mann Kurt Schumacher setzte dem entgegen: "Alle Millionäre wählen CDU-FDP. Alle übrigen Millionen Deutsche die SPD".

Aus heutiger Sicht erheitern diese munteren Sprüche mindestens in zweierlei Hinsicht. Erstens: In welcher Eindeutigkeit Adenauer versucht, die Christen für seine Christlich-Demokratische Union an die Wahlurnen zu zwingen, und zweitens, wie der SPD-Kandidat sein potenzielles Klientel definiert: Alle Nichtmillionäre eben. Und davon gab es natürlich nach dem Krieg mindestens genauso viele wie Kirchenmitglieder.

Es wäre spannend, in diesen Wochen vor der Bundestagswahl 2013 mit Adenauer und Schumacher zu diskutieren und zu hören, um wessen Stimmen sie heute buhlen würden und wie. Was wären die Kernaussagen ihrer Parteien heute und wie würden sie formuliert? Und was würden diese beiden Männer zu einer Position sagen, die den Wahlboykott als einzige angemessene Form, heutige Politik zu gestalten, definiert? Mit einiger Sicherheit kann man davon ausgehen, dass solche Aussagen aus den Reihen der deutschen Intelligenz auf Unverständnis stoßen würden. Denn es waren ja die ersten Wahlen der jungen Bundesrepublik, das Grundfest, auf dem die Demokratie gebaut wurde.

Adenauer und Schuhmacher würden eine solche "Ich wähle nicht!"-Haltung, so nehme ich an, als arrogant und weltabgewandt weit von sich weisen. Und darauf dringen, dass es in einer Demokratie nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht ist, sich durch aktive Wahlbeteiligung an der Gestaltung des Staates zu beteiligen.

Richtig spannend indes wäre es, mit dem strammen Katholiken Adenauer ins Gebet zu gehen: Warum sollen Christen heute C-Parteien wählen, die sich für die Homo-Ehe aussprechen, nicht mehr grundsätzlich und unverrückbar gegen Abtreibungen sind und auch sonst das eine oder andere Gesetz der ehemals eisern regierenden Kirchenväter über den Haufen werfen? Wäre Adenauer happy mit der erzkonservativen US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung, die jede unserer C-Parteien rechts überholt?

Weitreichende Entscheidungen

Und was hätte er zu den ihm sicher suspekten Grünen gesagt, deren Spitzenkandidatin nicht nur evangelische Theologin ist, sondern auch als Präses der EKD-Synode eine prominente Stellung im deutschen Protestantismus besetzt? Und deren Partei seit langem viel Unterstützung aus dem kirchlichen Milieu bekommt? Die Parteienlandschaft ist komplizierter geworden als zu Adenauers Zeiten, ohne Frage. Aber ist das ein Grund, sich beleidigt zurückzuziehen?

Aktive liberale Christen haben sich in vielen sozialen Bewegungen hervorgetan, haben Aufgaben übernommen, die oft ein hohes Maß an solidarischem Mitgefühl voraussetzen, und die Überzeugung, dass wir alle Gleiche unter Gleichen sind. Auch die höchsten Ämter im Staate müssen sich legitimieren lassen - durch öffentliche und freie Wahlen. Das säkulare Prinzip der Trennung von Kirche und Staat führt nicht zur Trennung von Kirche und Gesellschaft. Zu einer Demokratie gehören auch religiöse Organisationen und Bewegungen, - nicht nur christliche, wohlgemerkt.

In den kommenden Jahren werden die gesellschaftspolitischen Weichen für sehr weitreichende ethische Entscheidungen gestellt werden. Zur Gentechnik, zur nuklearen Energie- und Waffentechnik, zu Drohnen- und Datenkriegen, zum Abbau des Sozialstaates und zur Aufrüstung des Gesundheitssystems zum Hightech-Ersatzteillager für kranke Organe. Dies sind nur einige der politischen Felder, die es zu beackern gilt. Und wer wird dies tun, wenn nicht - die PolitikerInnen? Mit Unterstützung oder Gegenwehr der BürgerInnen und ihrer Nicht-Regierungsorganisationen und mit freien Wahlen - an denen man sich auch nicht beteiligen kann. Diese Freiheit gehört zur Demokratie dazu. Doch diese Geste ist doch eher Ausdruck der Resignation. Sie sollte nicht als Neubeginn widerständiger politischer Praxis verkauft werden.

Ines Pohl

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