Konservativ

Poesie im Gedicht
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Insofern es für Dichter nichts mehr zu glauben gibt, halten sie doch noch mit jedem Vers und in jeder Metapher an dem Glauben fest, sich einem Gegenüber nähern zu können.

Gedichte leben vom Unterschied zur Wirklichkeit und zu deren Sprache. Sie erinnern an eine Zeit, in der noch daran geglaubt wurde, mit ihrer Hilfe die Distanz zum Göttlichen überwinden und in diesem Überwinden selber gottgleich sprechen zu können. Heinz Schlaffer nennt denn auch sein Buch, mit dem er Zweck und Mittel der Lyrik historisch und systematisierend erfassen will, "Geistersprache".

Der Stuttgarter Literaturwissenschaftler führt zunächst in die Welt der frühen Gedichte und damit in den kultischen Tanz und Gesang ein. Dann überrascht er die Leser mit dem Nachweis, dass die Dichtung nach der Ablösung der poetischen von der religiösen Sprache diese kultischen Ursprünge keineswegs einfach hinter sich gelassen hat: Auch neuere und neue Gedichte sprechen noch so, als ob sie eine Distanz überwinden könnten.

Dies gilt gerade dann, wenn den Platz eines Gottes die ferne Geliebte eingenommen hat. Deren Unerreichbarkeit, ja Übermenschlichkeit ist das Ferment jeder Liebeslyrik. So macht Schlaffer das archaische Erbe jedes Gedichts bewusst: Gedichte sind Zeugnisse angewandter Sprache, und ihre Besonderheit liegt im Gestus der Zuwendung.

Insofern es für die Dichter in und mit ihren Gedichten nichts mehr zu glauben gibt, halten sie doch noch mit jedem Vers und in jeder Metapher an dem Glauben fest, sich einem Gegenüber nähern zu können.

In dem Maße aber, wie sie die religiöse Verbindlichkeit und ihren archaischen Sitz im Leben verloren hatte, konnte sich Dichtung von den strengen Formgesetzen emanzipieren, mit denen sie stets an eine Gemeinschaft gebunden und dieser im Singen, Tanzen und Sprechen vertraut war. Im Geniekult um den Dichter indes, wie späterhin in der Dienstbarkeit der Autoren für emanzipatorische wie agitatorische Zwecke, lebte der kultische Ursprung fort.

Erst als sich mit den modernen Gedichten die Dichter von der kollektiven Verständigung und Verstehbarkeit gelöst hatten, erhob sich die Dichtung über alle gesellschaftlichen Aufgaben und sprachen und schrieben die Verfasser von Gedichten endlich frei.

Der emeritierte Literaturprofessor Schlaffer bekräftigt schließlich auf der literaturgeschichtlichen Stufe der Moderne mit eindrücklichen Beispielen seine Behauptung, dass Dichtung auch da noch blühe, wo ihre kulturellen Voraussetzungen schon lange vergangen seien. Denn auch noch das modernste Gedicht will trotz aller Emanzipation von überlieferten verbindlichen Formen zumindest noch durch den Zeilensprung von aller anderen Rede unterschieden und an diesem Sprung auch erkannt werden. Insofern stimmt Schlaffers Behauptung mit der Selbstbehauptung der Lyrik in ihrer modernen Form kongenial überein.

Lyrik ist und bleibt ein konservatives Unternehmen, jedoch ist sie wohl das einzige konservative Versprechen, das gar nicht mehr halten will, als es der Augenblick seiner Realisation erlaubt.

Die ganze Verantwortung für die Poesie im modernen Gedicht wird damit dem Autor, der sich hiermit von überlieferten Formgesetzen und kollektiven Zwecksetzungen emanzipiert, gegeben. Um indessen die Individualisierung im Gedicht noch als eine poetische Notwendigkeit verstehen zu können, musste an die Stelle des alten Zusammenhangs eines Gedichts mit der Tradition nunmehr ein behaupteter biographischer Zusammenhang treten. Dazu Heinz Schlaffer: "Der neuere Dichter genießt eine zweideutige Freiheit: Vieles ist möglich, nichts ist notwendig. Um dieses Defizit auszugleichen, erfinden Leser und Kommentatoren eine private Notwendigkeit: das Gedicht gehe auf ein Erlebnis des Verfassers zurück und sei Ausdruck seiner Gefühlslage."

Für die aktuelle religiöse Lyrik wäre es im Anschluss an dieses sehr wichtige Buch angesagt, zu fragen, welche Bedeutung dem Erinnern auf der strukturellen wie auf der intentionalen Ebene zukommen kann.

Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. Carl Hanser Verlag, München 2012, 204 Seiten, Euro 18,90.

Friedrich Seven

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