Pietät im Wandel

Zur Kulturgeschichte der Trauer
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Die postmoderne Trauerkultur setzt alles daran, die Härte des Todes zu verschleiern, sagt Reiner Sörries.

Seine These präsentiert der Erlanger Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte gleich im Vorwort seines Buches: Trauer ist für ihn keine menschliche Grundkonstante, sondern ein kultureller Prozess, dessen Ausprägungen in den gesellschaftlichen Entwicklungen und im technischen Fortschritt gründen. Das heißt, dass Trauer heute anders gelebt und ausgedrückt wird als vor fünfzig Jahren. Zu dieser Zeit war beispielsweise die mediale Massentrauer, wie sie nach dem Tod des Torwarts Robert Enke oder nach großen Unglücken, wie beim Tsunami praktiziert wurde, unbekannt. Trauer war "verordnet und normiert" bei öffentlichen Anlässen wie dem Volkstrauertag oder Staatstrauerfeiern. Sörries folgert daraus, dass Trauer heute zwar in einem öffentlichen und kollektiven Rahmen wieder gesellschaftsfähig sei, die individuelle Trauer jedoch drohe mehr und mehr in der Privatheit zu verkümmern. Sie sei "heute so individuell wie die Menschen selbst, zeitlich unbestimmt und nicht kanalisiert". Damit unterscheide sie sich fundamental von früheren Zeiten, in denen ritualisierte Formen der Trauerzeiten und das Tragen von Trauerkleidung dazu verpflichteten, der Trauer öffentlich Ausdruck zu verleihen.

So, wie sich die Zeichen der Trauer verändert haben, ergeht es auch den Trauerorten. Besondere Konjunktur haben nach Auffassung von Sörries die so genannten Grabstätten der Schicksalsgemeinschaften, das heißt, Gemeinschaftsgräber für Tot- und Frühgeburten oder auch die der Aidstoten. "An kaum einer anderen Stelle wie dem Trauerort manifestiert sich heute die Differenziertheit von Trauer in einer postmodernen Gesellschaft so eindrucksvoll", schreibt der Theologe.

Und er beschreibt, was passieren kann, wenn Angehörige den Verstorbenen bei sich behalten wollen, wie es immer häufiger geschieht, im Amulett an der Halskette oder in der Urne auf der häuslichen Fensterbank. Die postmoderne Trauerkultur setze alles daran, die Härte des Todes zu verschleiern. So wird der dreifache Erdwurf als symbolischer Akt des Zuschaufelns vielerorts durch einen Blumenwurf ersetzt. "Verzichtet man schließlich auf Abschieds- und Trennungsrituale, so wird die Erkenntnis, dass ein Verlust erlitten wurde, verzögert oder gar verhindert", schreibt Sörries. Für diese sei es unerlässlich, die Trennung vom Verstorbenen zu vollziehen. Die Folge sei eine verzögerte Trauerarbeit. Das Nicht-Loslassen-Können könne zu einer Trauerblockade führen.

Das alles erzählt Sörries mit lockerer Feder, auch die Geschichte der historischen Totenkronen, die oftmals in den Kirchen auf Konsolbrettern aufbewahrt wurden, oder die Gepflogenheiten der unterschiedlichen Professionen rund um Tod und Trauer. Dabei fehlt es nicht an interessanten Details, wie etwa jenes über die weißen Frauen - so genannte Beginen lebten im Hochmittelalter in religiösen Gemeinschaften und übernahmen oftmals die Totendienste. Dabei bediente man sich ihrer für diesen unliebsamen Dienst, grenzte sie jedoch ebenso aus wie Abdecker, Scharfrichter oder Totengräber.

Aber dieses ist kein nostalgisches Buch. Sörries historisiert die Trauer und versucht dabei, so objektiv wie möglich zu bleiben. Keineswegs will er den Eindruck erwecken, dem Früher nachzuweinen und das Heute zu beklagen. Und doch fordert die Gegenwart mit ihrer Trauerkultur zur Positionsbestimmung heraus: "(...) es stößt mir unangenehm auf, wenn es zu einer Vermarktung oder sogar zu einer Vergötzung der Trauer kommt", schreibt der Theologe. Trauer werde oft nicht mehr gelebt, sondern konsumiert. Herausgekommen ist ein brillanter Zug durch die Kulturgeschichte der Trauer, ideal für ein breites Publikum, leichtfüßig und gelehrt, spannungsreich und reflektiert.

Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Primus Verlag, Darmstadt 2012, 254 Seiten, Euro 24, 90.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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