Beide in verklärter Gestalt
Wenn man über Richard Wagners Beziehung zur Religion nachdenken will, ist es unerlässlich, zunächst wenigstens in aller Kürze zu klären, wonach man fragt, wenn man nach "Religion" fragt. Denn es gibt keinen allgemein anerkannten und von allen geteilten Religionsbegriff. Was Religion als solche ist, lässt sich nicht abstrakt, auch nicht funktional unter Nützlichkeitserwägungen oder religionspsychologisch von der Wirkung auf Menschen her gedacht angemessen definieren. "Religion" gibt es nur in den Religionen.
Wovon reden wir also, wenn wir nach der Beziehung Wagners zur "Religion" fragen und auf eine unübersehbare Vielheit stoßen, die nicht auf ein allen gemeinsames Ziel verdichtet werden kann?
Wagner war in Leipzig am 22. Mai 1813 geboren und am 16. August in der Thomaskirche als lutherischer Christ getauft worden, wenige Wochen vor der Völkerschlacht, die das Ende der napoleonischen Herrschaft beschleunigte. Er ist konfirmiert worden, kannte also mindestens den Kleinen Katechismus Luthers und im sangesfreudigen Sachsen viele Kirchenlieder von Jugend auf. Das berühmte Dresdner Amen verwendete er im "Tannhäuser" und im "Parsifal". Er war evangelisch sozialisiert, so wie damals im Bürgertum üblich.
Er lebte in einer Zeit radikaler politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und auch religiöser Umbrüche. Die Nähe der Kirchen zum feudalen Obrigkeitsstaat wurde für viele zum Problem. Obwohl einige charismatische christliche Persönlichkeiten mit Hilfe von Vereinsgründungen versuchten, einen Beitrag zur sozialen Frage zu leisten, tat die Kirche zu wenig gegen die Verelendung der Massen. Die historische Dogmenkritik am Christentum machte weite Kreise der Gesellschaft mit der Differenz zwischen dem historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus bekannt und verunsicherte viele im Zusammenhang mit der Religionskritik und der wissenschaftlichen Welterklärung. Die Säkularisierung als Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Einrichtungen und Normen, der Niedergang christlicher Überzeugungen und Verhaltensformen und die Abdrängung der Religion in die Privatsphäre schritten im Zuge der wachsenden Orientierungskrise deutlich voran.
Erfahrungshungrig
Wagner nahm an allem teil, nicht nur schriftlich und nicht nur ästhetisch. An der Dresdner Revolution hat er sich aktiv beteiligt und musste dafür jahrelang im Exil in der Schweiz und in Venedig leben. Er war kein weltabgewandter, bestenfalls kontemplativer Künstler, der nur in seiner Musik lebte, sondern ein an allen Fragen seiner Zeit interessierter Mensch, Zeitgenosse im besten Sinn des Wortes. Er war ein lesewütiger und erfahrungshungriger Mann. Und er hat sich beinahe zu allen Themen seiner Zeit geäußert, in manche Kontroversen eingegriffen, sie selber ausgelöst und sich dabei bisweilen auch ziemlich vergriffen. Seine Kunst, seine Opern, hatten, spätestens seit er im "Fliegenden Holländer" zu seinem Stil fand, auch eine weltanschauliche Komponente. Er verstand sie als Medium zur Interpretation und Veränderung der Welt.
An dieser Stelle wird seine Beziehung zur Religion spannend. Im evangelischen Christentum aufgewachsen, kannte er literarisch die Religion der Griechen, die er als "Religion der Freude" der römischen und christlichen vorzog - jedenfalls solange er der atheistischen Philosophie und Ethik der freien Liebe Ludwig Feuerbachs anhing. Er studierte die nordischen Sagen und kritisierte das kirchliche Christentum heftig: Es habe seinen Gründer, den Sozialrevolutionär Jesus von Nazareth, den Heiland der Armen, dem er einen Dramenentwurf widmete, in einen metaphysischen Gottessohn verwandelt und sei eine schändliche Allianz mit dem Staat der Cäsaren eingegangen. Sein haltloser Glaube an einen Schöpfergott und sein unnützes, freudloses, elendes Menschenbild seien zutreffend von der Religionskritik Feuerbachs bloßgestellt worden - dem Philosophen Feuerbach widmete Wagner eine seiner wichtigsten musikästhetischen Schriften: "Das Kunstwerk der Zukunft".
Dennoch kreisen alle seine frühen Opern, die er in Dresden als königlicher Hofkapellmeister in schneller Folge schreibt, um Religion, alle seine Stoffe stammen aus der christlichen Tradition und bearbeiten jeweils ein zentrales religiöses Problem. Der amerikanische Religionswissenschaftler Stephen Prothero, an dessen Erkenntnisse ich mich anlehne, hat herausgearbeitet, dass die Religionen zwar kein gemeinsames Ziel, aber einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Sie beginnen mit einer einfachen Beobachtung, dass nämlich etwas nicht richtig ist in der Welt. Das Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten und mit Leid wie von Pockennarben überzogen. Das ist das Motiv, in dem die religiösen Menschen auf der ganzen Welt übereinstimmen. Jedoch schon in der Frage, was genau falsch gelaufen ist, gehen die Meinungen auseinander, und ihre Wege, das Problem zu lösen, sind so verschieden wie die Ziele, die das gelöste Problem beschreiben.
Dieses zentrale Problem nennt Wagner die Sehnsucht nach und die Möglichkeit zur Erlösung. Können die Menschen, kann die Welt aus einer Welt, in der etwas ganz grundsätzlich schiefgelaufen ist, erlöst werden? Und zwar so, dass sie in Freiheit und Glück leben können? Das ist so sehr Wagners Thema, dass Nietzsche, sein junger schwärmerischer Bewunderer und später sein entzauberter Gegner, meinte, er habe "über nichts so tief wie über Erlösung nachgedacht. Seine Oper ist die Oper der Erlösung".
Das war verächtlich gemeint, trifft dennoch den Kern. Erlösung ist das zentrale Motiv der Religionen, die Wagner kannte, zumal des Christentums, mit dem er aufgewachsen war, und natürlich der Religionen des alten Indiens und des Buddhismus. Was aber die Erlösungsbedürftigkeit verursacht hat und welches Ziel die Erlösung hat, das ist in diesen Religionen nun wiederum völlig verschieden. Der theologische Begriff der Sünde im Christentum und der Lebensdurst des Buddhismus sind unvergleichbare Inhalte. Der christliche Himmel, das Reich Gottes und das Nirwana als Heilsziele lassen sich nicht analogisieren.
Utopie des Glücks
Wie denkt sich Wagner in den drei Opern der Vierzigerjahre ("Holländer", "Tannhäuser", "Lohengrin") den problematischen Zustand der Welt, dessen Ursache und Lösung, wobei alle Opern immer auch eine Perspektive auf sein Künstlerschicksal vermitteln wollen? Im "Holländer" ist die Ursache des Leids, der ruhelosen, heimatlosen Wanderschaft des Holländers, seines Nicht-Sterben-Könnens - darin ist er Ahasver, dem ewigen Juden der Legende, verwandt - die Hybris des Holländers und seine Verfluchung. Der Weg aus diesem Unglück ist die sich rückhaltlos opfernde Liebe einer Frau. Sie ist liebende und erlösende Todesgöttin und Lebensverheißung zugleich. Das Ziel ist der wie eine Auferstehung vorgestellte Durchgang durch den Tod in ein verklärtes Leben der Liebenden. Die Regieanweisung zum Schluss lautet: "In weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt; er hält sie umschlungen." Es geht um Erlösung aus einer Verstrickung - durch Liebe.
Im "Tannhäuser" geht es um die Utopie des Glücks, das der düsteren Gegenwart am thüringischen Hof und im Reich der Venus fehlt. Für den Wagner der Vierzigerjahre ist das wahre Glück nur in der Befriedigung des Liebesbedürfnisses des Menschen, vorzüglich des Mannes, Wirklichkeit. Es geht um die Frage, ob Eros und Religion, ob die Wirklichkeit der Liebe einerseits und ein befreites, moralisch gerechtfertigtes, sündloses Leben als Christen andererseits zusammengehen.
Die bittere Antwort ist: Nein, Erotik und Religion gehören unter christlichen Vorzeichen nicht zusammen. Erlösung heißt Befreiung von der Sünde der erotischen Triebhaftigkeit. Auch diese Erlösung erreicht wieder eine liebende Frau, Elisabeth, durch ihren Opfertod und himmlische Fürbitte.
Bittere Antwort
Im "Lohengrin" wird eine zentral christologische Frage verhandelt: Kann das weltlich Begrenzte zur Erlösung der Welt das himmlisch Unbegrenzte in sich aufnehmen? Die bittere Antwort bleibt: Nein. An dem Versuch scheitert Elsa, bis zum Untergang die liebende Frau, ebenso wie der Gralsritter Lohengrin - er verstößt, weil er verliebt ist, gegen das Gralsgesetz und muss verzweifelt in seine himmlischen Höhen zurückkehren. Die Götter haben die Welt verlassen, sagt der die Säkularisierung ästhetisch abbildende Künstler, die Menschen müssen ihre Probleme selber lösen, aber sie können es nicht. Darum hat Wagner noch Wochen vor seinem Tod vom "Lohengrin" als dem traurigsten seiner Stoffe gesprochen.
In diesen drei Werken tritt hervor, was für Wagner das Widerlager der Religion als Erlösung war: die Liebe. Und zwar die rückhaltlose und fraglos sich hingebende Liebe einer Frau. Die weibliche Liebe ist das Medium der Erlösung einer von männlichen Prinzipien verwalteten und verwüsteten Welt.
Im Exil in Zürich erlebt Wagner bittere Jahre einer musikalischen Schaffenskrise. Aber dann macht er zwei umwälzende Erfahrungen. Wagner begegnet 1852 der jungen, schwärmerischen, reichen Industriellengattin Mathilde Wesendonck. Unter den kritischen Blicken seiner Frau Minna entspinnt sich eine Liebesaffäre, die in Wagner eine schöpferische Explosion auslöst. In schneller Folge dichtet und komponiert er am "Ring", bricht dies aber ab, und es entsteht der rauschhafte "Tristan". Und 1854 wird er von einem Freund auf das Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" des Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) aufmerksam gemacht.
Begeistert von Schopenhauer
Beide Erfahrungen veranlassen ihn, seine Einstellung zur Religion zu verändern. Begeistert von Schopenhauers Willensmetaphysik, die eine mögliche Erlösung der Welt durch die Verneinung des Willens zum Leben erkennt, wendet er sich dem Buddhismus zu und entnimmt ihm neue Motive zur Beschreibung und Stillung der Erlösungssehnsucht. Tristans und Isoldes Liebe hat etwas von einem welterlösenden Löschen des Lebensdurstes, und im Liebestod der beiden verschmelzen der Eingang ins Nirwana, jenes Nichts, das zugleich das Alles ist, und die Wiedervereinigung der Getrennten der romantischen Liebe. Aber im Widerspruch zur buddhistischen Tradition geht es immer noch um geschlechtliche Liebe, auch wenn die Vereinigung der Liebenden dreimal verhindert wird. Und natürlich ist unter buddhistischen Vorzeichen eine erotische Frau wie Isolde als Partnerin des Heils nicht denkbar. Allerdings ist die Liebe nun nicht mehr, wie noch in Feuerbachs Philosophie der Sinnlichkeit, durch die Endlichkeit begrenzt. Der Tod ist das Tor zum erlösten Leben.
Buddhistische Motive und Elemente der nordischen Religion fließen in den "Ring" ein: "Erlösung durch Untergang" (Martin Geck) ist die entscheidende Formel. Jedoch bekommt Wagners Beschäftigung mit der Religion noch eine ganz andere Wendung. Schon bei der Arbeit am "Ring" und am "Tristan" wird ihm der Parsifal-Stoff wichtig.
Es entsteht ein Werk, in dem Wagners "buddhistisches Christentum" (Dieter Borchmeyer) seine Ausdrucksgestalt findet. In seinem Zentrum, dem Kuss der Kundry im zweiten Akt, wird dem Toren das Geheimnis der Welt offenbart, die Ursache für das tiefe Leid, das über der Welt liegt: Es ist der in der Gier der erotischen Liebe sich verwirklichende Lebensdurst. Durch den Kuss der Verführerin Kundry wird Parsifal, der sie und den Erlöser erlösende Held, "welthellsichtig" - und stößt sie von sich. Nun wird ihm klar, dass der seufzenden Welt nur durch Mitleid und Askese geholfen werden kann.
Programm zur Rettung
Wenige Jahre vor seinem Tod, im Jahre 1880, machte sich Wagner darüber Gedanken, ob eine Welt, die ganz offensichtlich in Dekadenz versinkt, noch irgendwie zu retten sei. Es entstehen die so genannten "Regenerationsschriften". Darunter ist auch eine Abhandlung mit dem Titel "Religion und Kunst". Und in dieser Schrift entwirft er, weit entfernt von Feuerbach, ein Programm für die Rettung der "künstlich", das heißt lebensfern und unglaubhaft gewordenen Religion durch die Kunst. Voraussetzung für ein solches Programm ist die Anerkennung der "Hinfälligkeit der Welt" (Wagner), also genau das, was die Religionen verbindet: dass etwas grundsätzlich schiefgelaufen ist. Wagner ist davon überzeugt, dass die geschundene Welt sich nur regenerieren kann, wenn das Religiöse an der Religion, ihre Sehnsucht nach und die Verheißung von Erlösung wach gehalten werden können. Und das kann in einer säkularisierten Gesellschaft glaubhaft nur die Kunst leisten.
Aber die Religion hat nicht nur eine Theorie, sondern auch Mythen, Riten und Kulte. Darum wendet Wagner seine alte Festspielidee nach dem Vorbild der Antike ins Religiöse. Wie die Stätten der Mysterien wird Bayreuth ein säkularer Wallfahrtsort. Das Gesamtkunstwerk des "Parsifal" wird zum Gnadenbild, zu dem man pilgert, um sich vom Schutt des Lebens zu reinigen. Die beseligende Erfahrung des "Parsifal" in "der geweihten Stunde" (Wagner) macht die teilnehmenden Menschen auch "welthellsichtig" und bringt sie durch die als "Klangreligion" (Dieter Schnebel) ästhetisch erlebte Teilnahme am Abendmahl und der Gralsenthüllung auf den Erlösungsweg von Mitleid und Askese. Der "Parsifal" ist die Liturgie dieser neuen Religion, die, atheistisch bleibend, den Menschen zumindest des 19. Jahrhunderts angemessener sein soll als das traditionelle Christentum. Das Programm der Rettung der Religion durch die Kunst nimmt selber religiöse Züge an, die der Patchwork-Religion unserer Gegenwart sehr ähnlich sind.
Literatur
Peter Steinacker: Richard Wagner und die Religion. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, 156 Seiten, Euro 29,90.
Peter Steinacker