Horizontale Himmelfahrt

Jean Paul, Vielschreiber und Stadtpfarrer des Universums, zum 250. Geburtstag
Ernst Förster: "Jean Paul schreibend im Garten", 1820. Foto: akg-images
Ernst Förster: "Jean Paul schreibend im Garten", 1820. Foto: akg-images
"Niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen", urteilte Goethe über Jean Paul, der sich als Schriftsteller zwischen allen Stühlen der Klassik und Romantik platzierte und dennoch mit seinen labyrinthischen Prosaschriften von skurrilem Humor zum meistgelesenen deutschen Schriftsteller seiner Zeit wurde. Walter Sparn zeigt, weshalb sich die Lektüre seiner Werke noch heute lohnt.

Jeden Montag erhalte ich eine Mail unter dem Betreff "Hundspost". Absender ist ein Verein, der das Jubiläum des einst vielgelesenen Schriftstellers Johann Paulus Friedrich Richter (1763-1825) vorbereitet. Der Inhalt kommt aber von "Jean Paul", wie sich Richter als Schriftsteller nannte, es sind Aphorismen wie: "Glücksspiele werden verboten - das längste ausgenommen: das Leben." Oder: "Nichts wird überhaupt öfter vergessen als das, was vergisst: das Ich." Oder: "Gleich dem Jüngsten Tage verwandelt uns die Poesie, indem sie uns verklärt, ohne uns zu verändern."

In "Hesperus oder 45 Hundsposttage" soll der Berghauptmann Jean Paul, angeblich auf einer ostindischen Insel lebend, die Biographie eines Arztes Viktor schreiben; tatsächlich die Liebesgeschichte zwischen diesem und Klotilde. Sie ist kompliziert und verwoben mit etlichen Nebengeschichten über elende Fürstenherrschaft und republikanische Verlegenheiten oder über das lange Sterben eines Lehrers, der in eine bessere Welt hinüber zu gehen gewiss ist. Der Autor betreibt gezielt Leserverwirrung ("Leser kann man nicht genug betrügen ...") und greift in die Handlung ein, auch deshalb, weil er selber nicht weiß, wie die Geschichte weitergeht und er auf Post warten muss, die ihm an 45 Tagen ein Hund bringt: Hundspost. In diesem Verwirrspiel wird der Leser aber auch mit Sätzen wie diesem belohnt: "Der Mensch hat hier (auf Erden) dritthalb Minuten, eine zu lächeln - eine zu seufzen - und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser Minute stirbt er."

Diese "Biographie" erschien 1795 und brachte dem bis dato völlig mittellosen Schriftsteller den Durchbruch und erlaubte ihm bald als einem der ersten, von seinem Schreiben auch zu leben (eine fürstliche Pension kam dazu). Zuvor war er mit satirisch-skeptischer Aufklärung (zum Beispiel "Auswahl aus des Teufels Papieren", 1789) nicht gut angekommen. Er war bis dato der Hungerleider geblieben, der er seit dem Tod seines Vaters, Pfarrer im oberfränkischen Dörfchen Joditz an der Saale (1779), gewesen war, niedergedrückt durch den Tod von Freunden, den Selbstmord des Bruders und von der Vision seines eigenen Todes. Das Theologiestudium in Leipzig musste er aus finanziellen Gründen abbrechen, er darbte als Hauslehrer.

Nach 1795 wurde Jean Paul der meistgelesene Autor in Deutschland, deutlich vor Goethe und Schiller. Schon 1796 wird er nach Weimar eingeladen, wohin er ab Jena sogar die Kutsche nimmt. In Weimar glaubt er, die "Himmelstore aufzudrücken", und das trifft im Blick auf Johann Gottfried Herder oder Christoph Martin Wieland auch zu. Der verehrte Goethe schwankt zwischen "niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen" und "Philister"; Schiller findet ihn "fremd, wie einer, der aus dem Mond gefallen ist"; Goethes Geliebte: "Unter uns gesagt, er ist ein Narr, und ich kann mir nun denken, wie er bei den Damen Glück gemacht."

In der Tat waren in Jean Pauls Lesergemeinde die Frauen in der Überzahl, und wo er auch auf seinen nun zahlreichen Reisen hinkam, wurde er von belesenen, meist jüngeren und adligen Damen umschwärmt; er berichtet öfter von zweisamen Stunden mit "brünstigen Leserinnen", auch von unzweideutigen Avancen. Er kam aber nicht weiter als zum innigen Händedruck, Anlehnen, tiefen Blicken, Freudentränen - und bald aufgelösten Verlobungen.

Mit der edlen Träne im "entzückten Auge" und einem "wie er einem das Haar von der Stirn streicht" - so begann auch die Beziehung zur seiner Ehefrau Karoline, die Jean Paul, fast vierzigjährig, bei seiner triumphalen Reise nach Berlin 1800 kennen lernte: Das junge Mädchen konnte sich nun gar, angesichts der "Güte" dieser Augen und Hände, die Wundergeschichten von Christus erklären! Die von ihr eingefädelte Ehe blieb nicht kinderlos, verlief aber unglücklich; er, der kein Heros sein wollte, benahm sich despotisch und wurde bald sehr schrullig. Die eheliche Nähe war Jean Pauls Sache nicht, trotz der Sehnsucht nach der "häuslichen Stille" seiner Eltern.

Auch am selben Wohnort hielt es der Unruhige nicht aus. Nach Stationen in Berlin, Meiningen, Coburg endeten die "Nomaden-Züge" 1804 in Bayreuth, das er trotz Braunbier und Bergen schon bald satt hatte und wo er sieben Mal umzog. Doch er blieb bis zu seinem Tod 1825, wanderte fast täglich vor die Stadt zur "Rollwenzelei", wo ihn Frau Rollwenzel mit Kartoffeln und Bier am Schreiben hielt. Jean Paul endete im Alkohol; die "Schreibstube" ist heute noch zu besichtigen. Apropos "stuben-glücklich": Die Tatsache, dass Jean Paul in vielen seiner Texte Reisen inszenierte, heißt nicht, dass er, eher hypochondrisch, ein Fernreisender war; so blieb sein realer Radius ziemlich klein. Aber seine Imagination flog in "Siebenmeilenstiefeln" zu Orten à la "Isola bella" fort - was gut romantisch eigentlich hieß: "zu sich, nach Hause".

Drei B's, meint Jean Paul, brauche er zum Leben: Bier, Berge und, natürlich, Bücher. Seine eigenen Bücher lesen sich heutzutage eher schwer als leicht. Sprachliche Eigenwilligkeiten, das Spiel mit literarischen und kulturellen Bezügen, überbordender Bilderreichtum, komplexe Handlungen und schrille, auch tränenselige Figuren. Dennoch: Derart biedermeierliche Lektüre hat, nach dem Tod des Autors, der Erzählung "Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal" (1793) große Beliebtheit eingebracht - und das Urteil Nietzsches, Jean Paul sei ein "Verhängnis im Schlafrock" ...

Ein Irrtum, schon im Blick auf das Lob des Schlafrocks im "Leben des Quintus Fixlein" (1796), dem Gegenstück des "Hesperus"; erst recht im Blick auf die späteren Romane, in denen das Glück und die Misere der zerbrechlichen "armen Menschen" und die einfühlende Liebe zu ihnen zusammenfinden. Das wird glaubhaft in der humoristisch-ironischen, zwischen Vogelperspektive und Froschperspektive wechselnden Charakteristik von eigensinnigen, innerlich zerrissenen, oft kauzigen Individuen: Sie sind zugleich Helden und Antihelden (der Gesellschaftsroman "Titan" von 1803 sollte eigentlich "Anti-Titan" heißen) oder so komische wie erhabene Narren ("Dr. Katzenbergers Badereise", 1809; "Leben Fibels", 1811; "Der Komet", 1820?/?1822).

Nun, man kann sich dem Dichter auch von seiner leichteren Seite nähern und eine Anthologie anblättern, die seine erhellenden oder herausfordernden Gedankensplitter und eigenwillig-weisen Sentenzen sammelt. Das Nächste wären kleinere Texte, mit denen die Romane sich oft unterbrechen: satirische Essays, empfindungsstarke Naturschilderungen und, sehr charakteristisch, Träume und Träume in Träumen; auch ernste philosophisch-theologische Diskussionen. (Aber: "Alle, die nur für Leute eines Faches schreiben, zum Beispiel Theologen, schreiben deswegen elend.")

Ein solcher Text, bis heute auch separat gedruckt (und übersetzt), ist die berühmte "Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab dass kein Gott sei" (1796), eine Traumvision, ein "Vernichtglaube", der als erste Äußerung des radikalen Nihilismus gilt. Die Klage des toten(!) Christus über die definitiv zu "Waisen" gewordenen Menschen ist als "1. Blumenstück"(!) in "Blumen- Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel" eingefügt. Der grausige Traum, oft theologisch oder psychoanalytisch entziffert, weitet sich vom nächtlichen Totenacker zum Zersplittern des Kosmos und endet mit dem Weltende-Glockenschlag - der Träumer erwacht. Er liegt noch in der spätsommerlichen Abendsonne und weint vor Freude, dass er wieder Gott anbeten kann: "... zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater."

Ein außerordentlicher Text. Er lässt viel von einem Autor erkennen, der als Interpret der Zeit zu seinen Lesern spricht, deren "innere Welt" unsicher geworden ist und der Vergewisserung als Ich bedarf. "Bildung zur Religion" - aber als Dichtung.

So macht sich dieser "Stadtpfarrer des Universums" keinerlei Illusionen darüber, dass die gute alte Zeit unwiderruflich vorbei ist, dass ihr christlicher Horizont unsicher geworden und ihr geozentrisches Weltbild dahin ist. Er glaubt aber weder, dass dogmatische Orthodoxie den Verlust rückgängig machen kann, noch dass die "Mystizisten" weltloser Innerlichkeit ihn ausgleichen können. Auch der fromm-aufklärerischen Theologie traut er in ihrer Anpassung an den moralistisch-rationalen Zeitgeist nicht so recht (und wurde von Neologen verachtet). Erst recht misstraut er der Transformation der Theologie in Pantheismus oder in das absolute Ich der idealistischen Philosophie; das ist in der kurzen und respektlosen "Clavis Fichtiana" (1800) nachzulesen. Er hält es lieber mit Platon und Friedrich Heinrich Jacobi und dessen - von Kant abweichender - Unterscheidung von Glauben und Wissen. Trotzdem meinte Hegel nach einem Punschabend in Heidelberg, wo der "unsterbliche Dichter'" 1817 gefeiert wurde: "Der muss Doktor der Philosophie werden!" Was ihm als "Fürst der Wissenschaft" und "Verteidiger der deutschen Freiheit" (er hatte patriotische Manifeste publiziert) denn auch geschah.

Sodann bewegt Jean Paul die Krise des Pfarrerstandes, der im kulturellen Übergang zu einer neuen Zeit in schwere Loyalitätskonflikte geriet und massiv an Plausibilität verlor. Prediger und Lehrer sind fast überall in seinen Romanen präsent; für beide ist auch seine "Levana oder Erziehlehre" (1806) gedacht. Viele Szenen spielen in oder bei Kirchengebäuden, und oft geht es um das (auf dem Land klägliche) Leben der Pfarrer, um ihre Abhängigkeit von eitlen Obrigkeiten und um ihre pastoralen und pädagogischen Aufgaben. Eine amüsante Inszenierung des lutherischen Predigers ist die kurze satirische Erzählung "Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz" (1809). Dieser Attila(!) Schmelzle fantasiert sich als Held und als Angsthase zugleich; so oder so misslingt sein Versuch, eine neue Stelle im Residenzstädtchen zu erwirken. Fußnoten des Herausgebers kontrastieren den Prediger Schmelzle mit ironisch gelobten Modepredigern; der Text, eine Apologie Schmelzles an seine Freunde, kontrastiert seine "feurige" Predigt in der Kutsche mit der scheinbar "guten" Predigt in der Hofkirche. Das Ganze ist eine mehrfach verschachtelte Predigtparodie: eine 'lustige' Bußpredigt Jean Pauls an lutherische Prediger.

Klage ohne Trost

Jean Paul platziert wichtige Szenen in die sinnlich erlebbare, aber auch poetisch gesteigerte Natur. Anders als der "kalte" Goethe geht er nicht nur mit den Augen, sondern, wichtiger, "mit dem Herzen spazieren" (deshalb stellt er über die Malerei die Musik; es gibt umgekehrt musikalische Entsprechungen zu seinen Romanen, von Robert Schumann bis zu Gustav Mahlers erster Symphonie "Titan"). Das Herz aber gibt die Natur trotz ihrer Entzauberung als Lebenswelt der Menschen nicht preis: diejenige Welt mit ihren Bächen und Blumen, mit Sonnenschein und Gewittern, die vom Fußwanderer oder vom Luftschiffer als die seinige gebraucht und geliebt wird.

Zugleich spielen Jean Pauls enthusiastische Naturschilderungen nicht darüber hinweg, dass die Erde angesichts des unendlich gewordenen Kosmos fast nichts bedeutet. Seine Physikotheologie ist beides: Trost und Schrecken der Natur einerseits, Motiv ehrfürchtigen Vertrauens zum väterlichen Schöpfer andererseits. "Da der Mensch ein Bedürfnis des Unendlichen und Wunderbaren hat: so will ihm ein aufgeklärtes Christentum aus Mangel daran kahl und leer erscheinen: Aber zeigt ihnen nur das Unergründliche im Welt- und Lebensbau: so habt ihr mehr als ergänzt."

Ein in seiner Ambivalenz sprechender Ort in der Natur war den Romantikern der nächtliche Friedhof, der den Kontrast von Todeserfahrung und Unsterblichkeitsglauben aufdrängt. Anders als viele Aufklärer marktet Jean Paul der Härte des Todes nichts ab und führt oft "Klage ohne Trost"; andererseits kann er Sterbeszenen geradezu grotesk schildern. Jedoch glaubt er, wie fast alle Aufklärer, fest an die Unsterblichkeit der Seele, an die Existenz des "ewigen Ich" in einer "Zweiten Welt". Aber es handelt sich nicht um Verachtung des Leibes oder Flucht aus dem Jammertal; wie die Lehre von der Auferstehung kritisiert er auch den Glauben an die Reinkarnation. "Die Himmelsleiter braucht eine Erde und einen Himmel zugleich." "Das Kampaner Tal" (1797) spricht sogar von einer "horizontalen Himmelfahrt" und beschreibt sie als beglückendes Abheben im Ballon und Rückkehr zu den geliebten Freunden. Die (postum 1827 publizierte) "Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele" formuliert jenen "Instinkt der Ewigkeit" so: "Ohne Unsterblichkeit kann niemand sagen: ich liebte; du kannst nur seufzen und sagen: ich wollte lieben."

Jean Paul ist nur scheinbar naiv. Nicht nur gab er sich reflexive Rechenschaft über sein Schreiben, in der "Vorschule der Aesthetik" (1804) und in einer "Selberlebensbeschreibung" (postum 1826); als Autor agiert er, seit den "Biographien" "Die unsichtbare Loge" (1793) oder "Flegeljahre" (1804/05), die Gleichzeitigkeit von Selbstpräsentation und Dekonstruktion des Autors auch aus - eine sehr moderne Spannung. "Wenn ihr wüsstet, wie wenig ich nach J. P. F. Richter frage; ein unbedeutender Wicht; aber ich wohne drin, im Wicht." Dieses poetische "ich" Jean Pauls vermochte dem "unglücklichen Bewusstein", das Hegel zufolge die Zeiten des Verlustes naiver Gewissheiten charakterisiert, poetisch ohne erschlichene Versöhnung standzuhalten; in einer Dichtung, die darin gleichauf ist mit der von Lawrence Sterne, Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann.

Literatur/Information

Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Hg. von Thomas Wirtz, Kurt Wölfel. Die andere Bibliothek, Berlin, 304 Seiten, Euro 19,-.

Dieter Richter: Jean Paul. Eine Reise-Biographie. Transit, Berlin 2012, 144 Seiten, Euro 14,80.

Jean Paul: Bemerkungen über uns närrische Menschen. Tredition Classics, Hamburg 2011, 120 Seiten, Euro 24,90.

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Walter Sparn

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