Gedruckt versus digital

Flache Gefühle durch digitale Lektüren? Was beim Lesen geschieht
Ob Tablet-Computer oder Lesebuch … Foto: dpa
Ob Tablet-Computer oder Lesebuch … Foto: dpa
Die Digitalisierung ist das neue Sorgenkind. Was geschicht mit der Lesekompetenz, wenn vermehrt am Bildschirm gelesen wird? Eine Antwort gibt Joachim Güntner, Kulturkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".

Noch einmal jung müsste man sein. Warum? Nun, es würde dann vielleicht aus einem nie der Brillenträger werden, der man geworden ist. Die verbotene Lektüre von Romanen zu nachtschlafender Zeit unter der Bettdecke könnte stattfinden, ohne sich die Augen zu verderben. Nicht wie damals das funzelige Licht einer Taschenlampe, sondern die Hintergrundbeleuchtung eines Displays würde den Text erhellen. Vorausgesetzt natürlich, man wäre stolzer Besitzer von einem dieser Lesegeräte für elektronische Bücher, von denen es mittlerweile jede Menge gibt. Leicht vorstellbar. Schwieriger allerdings ist es geworden, sich den nächtlichen Romanschlinger von heute als jemanden zu denken, der sich unter die Bettdecke verkriechen muss. Wahrscheinlich hat er (oder sie) Eltern, die froh sind, dass ihr Kind überhaupt liest. Und die außerdem wissen, dass einen das abendliche Lesen im Bett herrlich schläfrig macht. Es darf also ruhig die Lampe brennen und alles ganz offen geschehen.

Seinen guten Ruf hat das Lesen nicht immer besessen. Die Rede von "Bücherwürmern" und "Leseratten" zeugt noch davon. Wir verstehen die Worte als humoriges Lob, doch im Grunde handelt es sich bei Würmern und Ratten ja um verabscheute Tiere. Diese Ambivalenz findet sich in der Geschichte des Lesens wieder. Schreiben und Lesen zu können, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Voraussetzung für bürgerlichen Erfolg, aber immer hängt die Warnung vor dem "Zuviel" in der Luft. Lesen im Übermaß ist ungesund. Es schadet den Augen, der Körperhaltung und dem Fluss der Säfte. Ein Sechstel der Menschheit sei kurzsichtig, schreibt Alberto Manguel in seiner "Geschichte des Lesens" (1998), und er setzt hinzu: "bei den Lesern liegt dieser Anteil erheblich höher und nähert sich vierundzwanzig Prozent". Wird jeder Bücherwurm über kurz oder lang zur Brillenschlange? In seinem Erziehungsroman "Émile" hatte Jean-Jacques Rosseau die Lektüre zur "Geißel der Kindheit" erklärt. Philanthropische Pädagogen folgten ihm und warnten, die sitzende Tätigkeit lasse das Blut stocken und führe zu unzüchtigen sinnlichen Reizen. Damals begannen die Warnungen vor der "Lesesucht", die noch im 20. Jahrhundert zu hören waren, auch wenn sie dann anders klangen und sich meist gegen so genannte Schundliteratur richteten.

Mittlerweile hat sich der Frontverlauf geändert. Die fantastischen Erlebnisse des Zauberlehrlings Harry Potter oder Softpornos vom Schlage des Superbestsellers "Fifty Shades of Grey" erhalten Beifall allein schon dafür, dass sie Leute zum Lesen bringen, die sonst lieber andere Dinge treiben. Fernsehen zum Beispiel. Oder Computerspiele spielen. Nicht das Hocken über Büchern, sondern der Zeitvertreib mit audiovisueller Ablenkung erscheint als Gefahr. Alle Kritik am Lesen ist verschwunden. Sofern man sich Sorgen macht, gelten diese der Veränderung des Lesens als solchem, als Fertigkeit und Fähigkeit. Man fürchtet Verflachung und Desorientierung, aber diesmal rührt das Schlimme nicht von allzu seichten oder aufreizenden Themen her, sondern vom Wandel des Mediums. Kurzum: Die Digitalisierung ist das neue Sorgenkind. Was widerfährt der Lesekompetenz, wenn vermehrt am Bildschirm statt vor bedruckten Seiten gelesen wird?

Nichts Gutes, meint etwa die amerikanische Bildungsforscherin Maryanne Wolf, die seit 1974 den Zusammenhang von Sprache, Lesen und Gehirnentwicklung erforscht. Wolf hat an sich selbst beobachtet, dass sie das Lieblingsbuch ihrer Jugend, Hermann Hesses "Glasperlenspiel", zwanzig Jahre später nicht mehr zu lesen vermochte. Sie musste sich zwingen, in den Roman wieder hineinzukommen. Für einen verschlungenen Text, der sich bedächtig entwickelt, besaß sie die Ruhe nicht mehr. Die Ursache dafür sah sie in der Gewöhnung ans digitale Lesen, vor allem in der Gewöhnung ans Internet. Das Buch habe einen "Pausenknopf", meint Wolf, der elektronisch dargebotene Text hingegen rufe immer: Bring es zu Ende! Auch elektronische Lesegeräte wie das iPad oder der Kindle, ein E-Book-Reader mit flimmerfreiem Display, würden davon keine Ausnahme machen. Wolf unterscheidet ein "tiefes Lesen", das sich am Buch bildet, vom eiligen, auf Effektivität und Informationssammlung getrimmten Lesen, das sich durch digitale Schulung formt. "Tiefes Lesen" verknüpft sie mit "tiefem Verständnis" nicht nur von Texten, sondern auch von zwischenmenschlichen Beziehungen. Digitale Lektüren indessen schüfen Gehirne, die sich leicht ablenken lassen.

… umfassende Erkenntnisse zur Lesequalität liegen noch nicht vor. Foto: dpa / Ingo Wagner
… umfassende Erkenntnisse zur Lesequalität liegen noch nicht vor. Foto: dpa / Ingo Wagner

Wie kann das sein? Das ist zunächst einmal eine grundsätzliche Frage, auf die es eine grundsätzliche Antwort gibt: Das Gehirn ist plastisch. Es hat die Fähigkeit, immer neue Schaltkreise zu bilden. Hinzu kommt: Die Sprachfähigkeit des Menschen ist angeboren, die Lesefähigkeit ist es nicht. Aus hirnphysiologischer Sicht ist Lesen widernatürlich. Um es mit dem Sinnesphysiologen und Psychologen Ernst Pöppel zu sagen: "Lesen ist in den Genen nicht vorgesehen, aber durch die Gene des Menschen möglich." Bei dieser Fertigkeit handelt es sich um eine große Kulturleistung, ja geradezu um eine Zwangsveranstaltung, laut Pöppel um eine Zweckentfremdung des Gehirns. Gerade weil der Mensch nicht von Natur aus auf das Lesen festgelegt ist, hängt seine Lesefähigkeit von äußeren Faktoren ab, etwa von der Art, wie er liest. Ob er dies in Büchern tut oder auf Displays.

Ähnlich wie Maryanne Wolf unterscheidet auch Ernst Pöppel zweierlei Arten des Lesen. Wo Wolf vom (flachen) "informierenden Lesen" spricht, spricht Pöppel vom "Lesen im Hinblick auf Sinn-Entnahme". Und Wolfs tiefes, an Interpretationen reiches Lesen heißt bei Pöppel "bild- oder geschichtenerzeugendes Lesen". Da sind beide Forscher im Grunde einer Meinung. Es geht um die schon von Marcel Proust betonte Besonderheit des Lesens, dass, wenn wir uns in Gedichte, Erzählungen oder Romane versenken (bei Sachliteratur klappt das nicht so gut) - dass dann in uns eine eigene Bühne aufgeht. Figuren bekommen ein Eigenleben, Gedanken des Autors erfahren eine emotionale Besetzung, die wir ihnen verleihen und die über das hinausgehen, was im Text angelegt ist.

Neurowissenschaftlich formuliert, sind hier - phasenverschoben - zwei Fähigkeiten am Werk. Ausgangspunkt ist das Vermögen, "Repräsentationen" zu bilden. Wir können Informationen, Bilder, Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen, wieder hervorholen und vor unser geistiges Auge stellen. Das sind automatisierte Prozesse, die in Hochgeschwindigkeit ablaufen. Auch Wörter sind solche symbolischen Repräsentationen. Man hat hundert bis zweihundert Millisekunden Zeit, um zu verstehen, was ein Wort meint. Aber beim Lesen greift das Gehirn nicht nur in einen Fundus zurück, um symbolische Requisiten erneut hervorzukramen. Es arrangiert sie neu. Das ist seine Verstehensleistung. Maryanne Wolf glaubt daher sagen zu dürfen, dass das über informationelles Lesen hinausreichende Lesen den Menschen emotional reicher macht. Und sie wünscht sich und uns, dass wir beide Lesarten beherrschen lernen, das eilige digitale und das tiefe analoge. Um Letzteres nicht zu verlieren, lautet ihr Ratschlag an Eltern: "Sorgen Sie für ein Haus voller gedruckter Bücher, und lesen Sie Ihren Kindern vor, bis sie fünf Jahre oder älter sind." Das erinnert an die Zeit der Aufklärung und die philanthropischen Erzieher, die auch schon große Stücke aufs Vorlesen hielten. Dies allerdings vor allem deswegen, weil der (erwachsene) Vorleser die Gewalt über die Bücherauswahl behält. Er kann dafür sorgen, den lieben Kleinen die passende Diät zu servieren, damit ihre Phantasie nicht vom rechten Wege abkommt. Maryanne Wolf gibt ihre Empfehlung noch aus einem anderen Grund. Sie weiß, dass das Gehirn von Kindern am besten durch menschliche Stimmen stimuliert wird.

Historisch gilt, dass ein neues Medium das alte und seine Rezeptionsformen nicht verdrängt, sondern nur ergänzt. E-Books machen Druckwerke nicht überflüssig. Aus anfänglicher Medienkonkurrenz werde Mediensymbiose, schrieb vor Jahren der Mainzer Buchhistoriker Stephan Füssel. Gut passt zu Wolfs Einschätzung, dass Füssel damals meinte: "Das schnelle Finden einer einzelnen Stelle, die gute Recherchemöglichkeit, das sind die Vorzüge des Bildschirms; die ruhige, sachliche Hintergrundinformation, die vollständige, die andauernde, die genussvolle Lektüre bleibt beim Buch." Doch muss das so bleiben? 2011 wurden an Füssels Seminar dreißig Versuchspersonen, junge und alte, daraufhin untersucht, ob sie Informationen unterschiedlich verarbeiten, je nachdem, ob man ihnen Texte auf Lesegeräten oder auf Papier darbietet. Schriftart, Schriftgröße, Anzahl, Abstand und Umbruch der Zeilen waren für alle Layouts identisch. Die Forscher zeichneten, um die Lesegeschwindigkeit zu erfassen, die Augenbewegungen der Probanden auf. Und sie maßen mittels EEG auch die Hirnaktivität. Das Ergebnis war: Alle fanden, rein subjektiv gesprochen, die Lektüre auf Papier angenehmer. Ihr Gehirn jedoch sprach ein anderes Urteil. Die Messungen ergaben eine signifikant geringere Hirnaktivität bei Lektüren auf Lesegeräten mit beleuchtetem Hintergrund (in diesem Fall waren das iPads von Apple). Geringere Hirnaktivität ist aber nichts Schlechtes, im Gegenteil, es bedeutet, dass hier, wo der Text vor einem beleuchteten Hintergrund steht, der kognitive Aufwand geringer ist, das Lesen also leichter fällt. Auch zeigte sich, dass gerade die Gruppe der über Sechzigjährigen auf dem hellen Tablet-Computer deutlich schneller lesen konnte. Dabei denkt man sonst doch immer, dass gerade die mit Computern aufgewachsene Jugend Vorteile beim Lesen auf Displays haben müsste.

Führen digitale Lektüren zu verflachten Gefühlen? Dazu sagt die Mainzer Studie nichts, anders als Maryanne Wolf. Überhaupt fehlt es an harten neurowissenschaftlichen Daten. Versuchsgruppen von dreißig Personen sind viel zu klein für eine repräsentative Stichprobe, und hirnphysiologische Langzeitstudien mit E-Book-Readern existieren nicht. Was wir haben, ist eine beständig wachsende Zahl von Lesern, die auch lange belletristische Texte auf Lesegeräten wie dem iPad oder Amazons Kindle rezipieren. Die 92-jährige Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger etwa, eine bekennende Lesesüchtige, liest fast nur noch auf dem Kindle und rühmt den Komfort des Geräts in höchsten Tönen. Gegen den Verdacht, ihre Gefühle verflachten dabei, würde sie sich gewiss verwahren.

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Joachim Güntner

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