Franckes Erben

Unterwegs im Bildungskosmos der Schulstadt
Keine Angst vorm Krokodil: Kinder im Kreativzentrum Krokoseum. Foto: Rolf Zöllner
Keine Angst vorm Krokodil: Kinder im Kreativzentrum Krokoseum. Foto: Rolf Zöllner
Wo vor gut zwanzig Jahren noch tote Tauben in maroden Gebäuden lagen, ist nicht nur Geschichte wieder lebendig geworden. Die Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale sind ein Ort der Bildung des 21. Jahrhunderts, der aber gerade von seinen Schätzen aus der Vergangenheit lebt.

Hinter der alten Tür, unter dem Dach des großen Hauses, beginnt die Wunderwelt. Ein ausgewachsenes Krokodil schwebt an der Decke, ein altes Kajak ebenso, zum Glück in sicherem Abstand, an der Wand kleben kleinere Reptilien, eine käfiggleiche Kugel aus Eisen füllt die Mitte des Raums, das mittelalterliche Modell des Weltalls, noch mit der Erde im Zentrum. In einer Ecke stehen Kinder, hinter ihnen stützt ein Leopard den Kopf auf seine massigen Pranken, die tiefschwarzen Augen funkeln bedrohlich.

Ein tätowierter Fisch

Das Raubtier ist nur eine gemalte Schrankverzierung, genauso wie das Flughörnchen und die geflügelte Echse. Doch was heißt "nur", jeder Wandschrank hier ist für sich eine kleine Wunderwelt, geschaffen vor rund 300 Jahren vom Altenburger Kupferstecher Gottfried August Gründler, um all die Kuriositäten und Artefakte aufzunehmen, die die Missionare aus aller Welt in ihre alte Schule nach Halle schickten. Ein tätowierter Fisch, ausgestopfte Taranteln, Totenmasken, präparierte Embryonen - 3.000 Ausstellungsstücke haben die Jahrhunderte hier überlebt, und noch immer birgt das ein oder andere ein Geheimnis, so wie die menschenähnliche Figur aus Rochenhaut, deren Bedeutung niemand kennt.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Franckes Babystunde im Familienzentrum: dahinter ein Porträt des Pädagogen.

Im Jahr 1698 hatte August Hermann Francke begonnen, seine wohl einzigartige Kunst- und Naturalienkammer aufzubauen. Sein Ziel: Kinder des Waisenhauses, die hier unterrichtet wurden, durch "Realien" näher an fremde Kulturen und Länder heranzuführen. Und noch immer fasziniert der so gar nicht kammerartige große Raum die Klasse 6a des Querfurter Gymnasiums, die heute hier zu Besuch ist. Sie erfassen ausgesuchte Stücke auf ihren Arbeitsblättern, suchen die richtige Vitrine dafür, bestaunen den Kieferknochen eines Wals und schmunzeln etwas verlegen über die Penisse solcher Meeressäuger, die als lange Röhren über ihren Köpfen hängen. Und als sie kurze Zeit später wie einst Franckes Schüler beim "Rekreationsunterricht" schweigend in den Schulbänken sitzen, kleine Glassteine schleifen und einer biblischen Geschichte lauschen, könnten die Bilder im Kopf konkreter sein, als vor dem Besuch in der Kammer. Denn zu Gehör kommt die Geschichte von einem, der einst auch allerlei Getier um sich sammelte: "Da sprach Gott zu Noah ..."

In den vier Schulen, die heute auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen zu finden sind, klingt die Rekreation auf den Pausenhöfen anders. "Natürlich ist es manchmal laut, aber das gehört dazu", sagt Angelika Venske. Sie sitzt im zentralen Aufenthaltsraum ihrer Wohngruppe im Altenpflegeheim am Rande des Stiftungsgeländes. Der Neubau grenzt direkt an ein Familienzentrum und eine Montessori Grundschule. An warmen Tagen kommen die Generationen in den Schulpausen auf dem gemeinsamen Hof in Kontakt, an Wintertagen wie diesen kommen regelmäßig Schüler und Schülerinnen zu Besuch ins Pflegeheim. Heute schaut Pfarrer Eckart Warner vorbei, spricht kurz mit Angelika Venske, erinnert sich und sie an ihr Mundharmonikaspiel in der Andacht vor einigen Wochen. "Das war wunderbar", sagt er, während sie bescheiden abwinkt.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Im Jahr 1698 hatte August Hermann Francke begonnen, seine wohl einzigartige Kunst- und Naturalienkammer aufzubauen.

Warners Büro ist im früheren Wohnhaus Franckes untergebracht, gleich neben der Pforte zur Schulstadt. Doch seine Position ist mit der Macht des Gründers nicht zu vergleichen. Das operative Geschäft verantworten ein Direktor und seine Stellvertreterin, die Leitung der Stiftungen, die von Bund, Land und Stadt finanziert werden, liegt in den Händen eines 13-köpfigen Kuratoriums, hinzu kommen zwei Ehrenvorsitzende, die entscheidend an der Wiederbelebung der Stiftungen nach der Wende beteiligt waren: Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der aus Halle stammt, und der Literaturwissenschaftler und "Neu"-Gründungsdirektor Paul Raabe.

Bedeutung verloren

In dem Kuratorium sitzen auch drei Vertreter der evangelischen Kirche, und den Vorsitz hat der emeritierte Theologieprofessor Helmut Obst. Aber das christliche Weltbild, aus dem Francke die Motivation für seine Arbeit schöpfte, hat in den vergangenen Jahrzehnten in Halle an Bedeutung verloren. "12 Prozent der Einwohner bezeichnen sich überhaupt noch als religiös und nur ein Teil davon ist evangelisch", beschreibt Warner sein Arbeitsumfeld. Von den viertausend Menschen, die auf dem Stiftungsgelände arbeiten oder leben, dürften die wenigsten christlich geprägt sein. Nur rund zweihundert von ihnen arbeiten direkt bei den Stiftungen, die meisten Institutionen auf dem Gelände liegen in der Hand anderer Partner, insgesamt sind es vierzig verschiedene.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Ausflug in die Vergangenheit: Schüler beim "Rekreationsunterricht".

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Der Leopard ist nur eine gemalte Schrankverzierung - doch was heißt hier "nur".

Warner soll nun das evangelische Profil der Einrichtung stärken und leistet seit drei Jahren Kärrnerarbeit. Er geht in die drei Kitas, um dort die christlichen Feste zu feiern, spricht mit den Knaben des ehrwürdigen Stadtsingechors darüber, was sie eigentlich in der Johannespassion singen, geht in das Kinderkreativzentrum Krokoseum und spricht mit Kindern und Erwachsenen über biblische Geschichten. Er bietet Glaubenskurse an, lädt in die "Bibelmansarde" zu Gesprächen und feiert natürlich Gottesdienste und Andachten.

Anknüpfung ermöglichen

Bei all dieser Arbeit gelten die Grundsätze der Kontextuellen Theologie, seine Arbeit sei "missionarisch im weitesten Sinne", es gehe nicht darum, den Menschen ein ihnen fremdes Weltbild überzustülpen, sondern Anknüpfungsmöglichkeiten zu entdecken. Aber Warner ist auch davon überzeugt: "Wer die religiöse Motivation wegnimmt, versteht die Franckeschen Stiftungen nicht." Von einem kurzfristigen messbaren Erfolg seiner Arbeit geht der Pfarrer nicht aus, aber unter anderem sei die Resonanz der Kindergärten auf seine Angebote nach anfänglicher "freundlicher Zurückhaltung" mittlerweile sehr positiv. Zudem sieht er sich auch als Seelsorger, Ansprechpartner und Networker auf dem Gelände, auch jenseits von Fragen des Glaubens.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Präparate und dreitausend andere Schätze sind in der Kunst- und Naturalien-Kammer zu entdecken.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Auch Totenmasken faszinieren die jungen Besucher.

Vom Pflegeheim hinüber zum Familienzentrum sind es nur ein paar Schritte, Warner steigt die Treppe hinauf zur Familienetage. "Franckes Babytreff" ist fast vorbei, Mütter und Kinder sitzen gemeinsam mit den "Familienpaten" an der langen Tafel und essen zu Mittag. Carmen Schambach und Andrea Rduch haben einer jungen Mutter von Drillingen jeweils ein Kind abgenommen, damit sie in Ruhe essen kann. Die beiden Frauen arbeiten im Besuchsdienst des Zentrums, sind in den Plattenbauten und anderen Vierteln rund um die Schulstadt unterwegs und bieten jungen Familien ihre Hilfe an.

Studenten statt Waisen

Spielgruppen für die Kleinen, Lernhilfe für die Großen, zahlreiche Beratungsangebote und viel Sport in den Turnhallen auf dem Gelände prägen die Arbeit der beiden Leiter Jens Deutsch und Sandra Kiesewetter, die beide auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen studiert haben. Denn wie schon zu DDR-Zeiten ist die Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität hier untergebracht, ebenso die theologische Fakultät. Die Studenten essen in der Mensa, die schon zu Franckes Zeiten Speisesaal für die Waisenkinder war.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Des Gründers Büste:

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Stiftungspfarrer Eckart Warner.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

130 Millionen Euro flossen in die Sanierung der Gebäude.

Die Mensa liegt am so genannten Lindenhof, der Weg führt vom Denkmal, das Francke mit Kindern zeigt, vorbei an der russisch-orthodoxen Kirche und der kleinen Kapelle in den historischen Fachwerkbauten, in denen nun unter anderem das evangelische Studentenwohnheim untergebracht ist. Kaum zu glauben, dass diese schlichten, aber schmucken Gebäude ebenso wie das historische Waisenhaus noch bis zur Wende in ruinösem Zustand waren - zerschlagene Scheiben, Löcher in den Dächern. Auf gar nicht so alten Fotos sieht man noch tote Tauben auf der ehrwürdigen Holztreppe im Waisenhaus liegen, die Stufen und ein Weltenmodell vom Taubendreck dick bedeckt.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Die so genannte Kulissenbibliothek mit insgesamt 50.000 historischen Büchern, viele davon zur Kirchen- und Bildungsgeschichte der frühen Neuzeit.

130 Millionen Euro wurden hier seit der Wende investiert, bis auf zwei historische Gebäude sind die Restaurierungen abgeschlossen. Penelope Willard, stellvertretende Direktorin der Stiftungen, rechnet damit, dass für die Sanierung der alten Druckerei und des Kinderkrankenhauses noch einmal zehn Millionen Euro notwendig sind. Doch dann dürfte nicht nur das Seelsorge-Seminar der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland einen Platz auf dem Gelände haben, sondern auch das Archiv der Universität. Dieses wäre mit seinen Dokumenten seit der Lutherzeit eine ideale Ergänzung zum Studienzentrum August Hermann Francke, das über einen ganz besonderen Schatz verfügt: Die so genannte Kulissenbibliothek mit insgesamt 50.000 historischen Büchern, viele davon zur Kirchen- und Bildungsgeschichte der frühen Neuzeit. Ende des 17. Jahrhunderts von August Hermann Francke als öffentliche Einrichtung gegründet, sind die Bücher seit 1728 in einem eigens errichteten Bau untergebracht, dessen originales Mobiliar mit den kulissenartig in den Raum gestellten Regalen komplett erhalten geblieben ist.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Früher beobachteten die Schüler dort oben den Sternenhimmel.

Freude an Büchern wird auch den Besuchern in der gemütlichen Leseecke des Krokoseums vermittelt. Gerade sitzt aber niemand da, der Schnee vor der Tür lockt zum Rodeln. Das Kinder-Kreativzentrum im Sockelgeschoss des Waisenhauses ist Anlaufpunkt für Schulkinder bis zwölf Jahre. Vormittags bieten die Mitarbeiter museumspädagogische Programme für Besuchergruppen, nachmittags wird beim offenen Treff gespielt, gekocht, gebastelt, experimentiert, Theater gespielt. Neben hauptamtlichen Kräften und Praktikanten arbeiten, wie auch im Familienzentrum, Ehrenamtliche mit und bieten ihre Fähigkeiten in Nähkursen, als Lesefee oder in Kinderwerkstätten an.

Bildung als Lebenschance

Die Tür geht auf, die Rodelfans kommen zurück, der Raum füllt sich mit einem Dutzend Kinder und entsprechendem Klang. Zwei Kinder stürzen sich auf das Klavier mit den bunten Tasten, machen erst Krach und dann Musik. Penelope Willard sieht genau in diesem Lernen mit allen Sinnen ein entscheidendes Erbe der Franckeschen Pädagogik verwirklicht. "Bildungschancen sind Lebenschancen, davon war Francke überzeugt", sagt sie. Ein Satz, der vor dem Hintergrund aktueller Bildungsberichte nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.

Mitarbeit: Jan Philipp Jilg

mehr zu August Hermann Francke (nur für Abonnenten)

Text: Stephan Kosch / Fotos: Rolf Zöllner

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung