Feuer und Wasser Seit' an Seit'

150 Jahre Sozialdemokratie und der Protestantismus in Deutschland
Der SPD-Politiker Herbert Wehner spricht 1964 im Hamburger Michel, dem Wahrzeichen der Hansestadt. Foto: dpa
Der SPD-Politiker Herbert Wehner spricht 1964 im Hamburger Michel, dem Wahrzeichen der Hansestadt. Foto: dpa
Am 23. Mai 1863 riefen in Leipzig Delegierte aus elf Orten den "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" ins Leben. Damit begann die 150-jährige Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Zunächst stand sie den Kirchen ablehnend gegenüber. Doch dies sollte sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ändern. Der Historiker und Theologe Rainer Hering, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, beschreibt die wechselvolle Beziehung zwischen Protestanten und Sozialdemokraten.

Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung zu den Kirchen war lange Zeit sehr angespannt. Erst nach der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959, in dem explizit der öffentlich-rechtliche Schutz für Religionsgemeinschaften sowie die erklärte Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kirchen "im Sinne einer freien Partnerschaft" formuliert worden war, erfolgte eine Annäherung. Einzelne Sozialdemokraten, wie Herbert Wehner, Hans-Jochen Vogel, Hermann Schmitt-Vockenhausen, Heinz Rapp, Helmut Schmidt und Georg Leber, erkannten hier ein Versäumnis und engagierten sich aus persönlicher Überzeugung nachdrücklich und letztlich erfolgreich in diesem Prozess. Dadurch wurden die Vorbehalte und Angriffe von kirchlicher Seite gegen die SPD abgeschwächt, und es gelang der Partei, zuerst im Protestantismus, dann auch im katholischen Milieu deutlich an Stimmen zu gewinnen und so letztlich auf Bundesebene mehrheitsfähig zu werden.

Während die mit dem Begriff "Frühsozialismus" charakterisierten Lehren und die sich insbesondere in Handwerkerbünden organisierte Arbeiterbewegung einen Unterschied zwischen der Lehre Christi und den Großkirchen sahen und grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber Religiösem waren, wurde in der Folge der Revolution von 1848/49 die Distanzierung größer. In Anlehnung an die Religionskritik Ludwig Feuerbachs hatte der von ihr nachhaltig beeinflusste Karl Marx Religion als "Überbauphänomen" bezeichnet und abgelehnt - der jenseitige Gott lenke die Menschen von ihren diesseitigen Aufgaben ab. Gegensätze theoretischer, gesellschaftspolitischer und sozialer Art zu den Kirchen, die vielfach zur Stabilisierung der ungerechten Klassenstruktur beitrugen, verstärkten die wechselseitige Entfremdung zwischen beiden Seiten. August Bebel sah 1874 Christentum und Sozialismus als sich ausschließende Gegensätze wie Feuer und Wasser. Für ihn waren alle Religionen "Menschenwerk", vor allem die christliche sei freiheits- und kulturfeindlich und verhindere gesellschaftlichen Fortschritt, sie diene in erster Linie der Ausbeutung des Volkes. Wie Marx war auch Bebel der Meinung, dass die fortschreitende Gesellschaftsentwicklung Religion überflüssig machen werde, weil auch für die damals nur religiös zu beantwortenden Fragen rationale Erklärungen gefunden würden. Religion galt innerhalb der Sozialdemokratie als Privatsache, und die auch von vielen Liberalen geforderte Trennung von Kirche und Staat, insbesondere im Bereich des Bildungswesens, wurde zu einem ihrer Programmpunkte.

Im Gothaer Programm von 1875 und erneut im Erfurter Programm von 1891 erklärte die SPD Religion zum Bestandteil privater Lebensgestaltung. Das Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1869 forderte: "Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche".

Die evangelischen Landeskirchen wurden von der SPD und der Arbeiterbewegung auch in ihrem sozialen Wirken als Teil des obrigkeitsstaatlichen Repressionsapparates wahrgenommen. Denn sie waren sehr eng mit dem Staat verbunden und unterstützten die insbesondere während der Geltungsdauer des Sozialistengesetzes stattfindende Verfolgung der SPD weitgehend mit

Bernstein dachte anders

Doch es gab innerhalb der Sozialdemokratie auch andere Positionen: Eduard Bernstein, theoretischer Begründer der revisionistischen Richtung, betonte 1904 auf dem Bremer Parteitag, dass Religion als Kulturaufgabe "keine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit von großer Bedeutung" sei. Bernstein erkannte ihren Stellenwert im öffentlichen Leben an und forderte: "Gleiches Recht für die Anhänger aller religiösen und philosophischen Bekenntnisse, Freiheit der Religionsausübung". Von den Kirchen insgesamt wurden diese Ansätze einer Differenzierung allerdings kaum zur Kenntnis genommen.

Während der Weimarer Republik, vereinzelt auch schon in früheren Jahren, signalisierten jedoch Teile der evangelischen Kirche ihre Bereitschaft zum Dialog mit der Sozialdemokratie, als die SPD von namhaften Theologen wie Karl Barth und Paul Tillich - letzterer gehörte dem 1921 gegründeten Bund religiöser Sozialisten Deutschlands an - unterstützt wurde. Dennoch hielten das Görlitzer Programm von 1921 und das Heidelberger Programm von 1925 weiterhin an der völligen Trennung von Kirche und Staat fest.

Die Religiösen Sozialisten stießen auch innerhalb der SPD vielfach auf Ablehnung, blieben dort weitgehend ohne Einfluss und konnten ihre gesellschaftsverändernden Ziele in der Weimarer Republik nicht erreichen. Aber an ihr Wirken und die schon vor dem Ersten Weltkrieg bestehenden revisionistischen Bestrebungen knüpften nach 1945 führende Sozialdemokraten an, als es darum ging, aufgrund neuer Erfahrungen und einer schärferen Differenzierung zwischen Religion, Theologie und Kirche das Verhältnis der Partei zu den Kirchen neu zu bestimmen. Die teilweise im "Dritten Reich" praktizierte Zusammenarbeit von sozialdemokratischen und christlichen Nazigegnern in der gemeinsamen Verfolgungssituation hatte ebenfalls erheblich dazu beigetragen, Fronten abzubauen und eine langsame Annäherung zu ermöglichen.

Neuanfang nach dem Krieg

Erste Begegnungen zwischen Sozialdemokratie und Kirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden zwischen lokalen und regionalen Gruppen statt. Auf Bundesebene bestand jedoch weiterhin größere Zurückhaltung. Vor allem der SPD nahestehende Theologen und Kirchenvertreter bemühten sich, die Distanz zwischen beiden Seiten abzubauen und eine Annäherung vorzubereiten. Hier engagierten sich besonders Schüler Karl Barths, wie Helmut Gollwitzer, Hans-Joachim Iwand, Ernst Wolf und Karl Kupisch. Im Juli 1947 veranstalteten Iwand und Martin Niemöller ein Treffen für protestantische Kirchenführer mit einigen prominenten Sozialdemokraten, wie Kurt Schumacher, der dort geäußert haben soll, dass SPD und Kirche nicht mehr verfeindet, Vernunft und Religion keine Gegensätze mehr seien.

Die Kategorie der Menschenwürde und die Forderung nach Gerechtigkeit wurden in der Nachkriegszeit zu einer Basis, auf die sich Parteimitglieder unterschiedlicher Herkunft einigen konnten; gleichzeitig ermöglichte diese Kategorie, die Beziehungen zu den christlichen Kirchen zu erneuern und auch gemeinsame Ziele zu verfolgen. Im Bundestag entstand in der SPD-Fraktion ein kleiner protestantischer Flügel um Adolf Arndt, Wilhelm Mellies, Hans Merten und Ludwig Metzger. Dieser verstärkte sich in den fünfziger Jahren, als Gustav Heinemann und Teile der aufgelösten Gesamtdeutschen Volkspartei zur SPD übertraten - darunter Johannes Rau, Erhard Eppler, Friedhelm Fahrtmann, Jürgen Schmude und Diether Posser sowie die ehemalige Vorsitzende des Zentrums Helene Wessel.

Herbert Wehner hatte schon im März 1947 für einen Neuanfang im Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Kirchen plädiert. Er lehnte es explizit ab, das religiöse Bekenntnis zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden zu lassen. Wehner hob hervor, dass die Sozialdemokraten "gerade durch ihr Programm und ihre politische Praxis die Träger religiöser Überzeugungen vor Verfolgungen, Benachteiligungen und Verunglimpfungen" schützen wollten.

Mitte der Fünfzigerjahre trat er wieder in die evangelische Kirche ein und sprach gelegentlich in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Der spätere Bischof dieser Landeskirche Hans-Otto Wölber bezeichnete Wehner als einen der entscheidenden Mentoren einer Entwicklung, die dazu führte, dass die SPD auch im liberalen Humanismus und im Chris-tentum Wurzeln sozialistischer Politik erblickte.

Verhältnis bereinigen

Die deutsche Gesellschaft war nicht mehr wie im Kaiserreich von Facharbeitern, sondern vor allem von Angestellten geprägt, die seit den Zwanzigerjahren auch innerhalb der SPD nach und nach immer stärker vertreten waren, während der Anteil der Arbeiter zurückging. Die Partei musste auf diese veränderte Situation reagieren, um nicht an politischer Bedeutung zu verlieren; deutlich wurde dies auch in programmatischen Änderungen. Um bundesweit aus der Randposition einer Minderheitenpartei herauszukommen und um eine Regierungsübernahme grundsätzlich zu ermöglichen, war es notwendig, auch das Verhältnis der Partei zu den Kirchen zu bereinigen.

Das Godesberger Programm der SPD von 1959 war eine wichtige inhaltliche Voraussetzung für eine grundsätzliche Erneuerung des Verhältnisses zu den Kirchen und stellt so eine Zäsur dar. Zentral waren der Satz: "Der Sozialismus ist kein Religionsersatz", der öffentlich-rechtliche Schutz für Religionsgemeinschaften und die erklärte Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kirchen "im Sinne einer freien Partnerschaft".

Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Verhältnisses der SPD zu den Kirchen war die Einrichtung zweier Kirchenreferate beim Parteivorstand unter dem Vorsitz Willy Brandts In den Jahren 1973/74. Hintergrund war der Wunsch, zu allen gesellschaftlich relevanten Gruppen Kontakt zu haben. Dabei wollte man den Partner in seiner Eigenständigkeit und in seinem Selbstverständnis respektieren.

In der deutschen Parteiengeschichte war das ein einmaliger Vorgang. Beide Referenten pflegten persönliche und institutionelle, formelle und informelle Kontakte zu den Kirchen, informierten laufend den Parteivorstand über aktuelle Entwicklungen und Tendenzen sowie atmosphärisch wichtige Hintergründe, bereiteten die Gespräche der SPD mit Kirchenvertretern vor, verfassten Entwürfe für Reden und Schreiben der Vorstandsmitglieder, koordinierten die Parteipräsenz auf Kirchentagen und unterstützten die regionalen und lokalen Arbeitskreise SPD-Kirche, die zuerst 1973 in Bayern entstanden waren.

Intensivierter Dialog

Wichtig war - und ist - der Kontakt zu den Kirchen gerade in der vorparlamentarischen und parlamentarischen Diskussion von Gesetzesvorhaben, die die von ihnen vertretenen Interessen berührten, was vor allem im Bereich Ehe, Familie, Jugend und Schule der Fall war. Gerade angesichts der Differenzen mit der Katholischen Kirche über die strafrechtliche Reform des Schwangerschaftsabbruchs (Paragraph 218 StGB) war die Arbeit der Kirchenreferate für die SPD von herausragender Bedeutung. Ein intensivierter Dialog zwischen Sozialdemokraten und Kirchen entstand in den Jahren 1994 bis 1997 bei der Vorbereitung des "Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland", der auf verschiedenen Ebenen stattfand.

Grundsätzlich scheinen zwar die Kirchen in den vergangenen Jahren bei den großen politischen Parteien an Bedeutung verloren zu haben, auch in der CDU. Dennoch sind die regelmäßigen Gesprächskontakte zwischen Kirchen und Parteien fest etabliert. Heute gibt es auf Bundesebene den Arbeitskreis "Christinnen und Christen in der SPD", der von je zwei Protestanten und Katholiken geleitet wird, sowie regionale und lokale Gruppierungen. Aus den beiden Kirchenreferaten wurde 2003 ein gemeinsames Referat für Kirchen und Religionsgemeinschaften beim Parteivorstand.

Das Hamburger Programm der SPD vom 28. Oktober 2007 enthält in einem eigenen Abschnitt ein klares Bekenntnis zur Bedeutung von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften: "Wir bekennen uns zum jüdisch-christlichen und humanistischen Erbe Europas und zur Toleranz in Fragen des Glaubens. Wir suchen das Gespräch mit ihnen und, wo wir gemeinsame Aufgaben sehen, die Zusammenarbeit in freier Partnerschaft. Wir achten ihr Recht, ihre inneren Angelegenheiten im Rahmen der für alle geltenden Gesetze autonom zu regeln." Kirchen und Religionsgemeinschaften seien "Träger der Zivilgesellschaft". Explizit werde der Austausch mit den "Kirchen und Glaubensgemeinschaften" in ethischen Fragen, etwa der Bio- und Gentechnologie oder der Medizin, gesucht. "Die Sozialdemokratie steht für ein tolerantes Europa, das seine unterschiedlichen Nationen und Regionen, Kulturen und Religionen als Reichtum versteht und pflegt."

Literatur

Rainer Hering: "Aber ich brauche die Gebote...". Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion (Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung 8/9). Edition Temmen, Bremen 2012. 288 Seiten, EUR 19,90.

Rainer Hering

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