Lieber der Knochenmann

Die Hand, lieber Hain: Matthias Claudius’ Auseinandersetzung mit Sterben und Tod
Otto Ubbelohde: "Gevatter Tod", aus: Der Brüder Grimm Kinder- u. Hausmärchen, Marburg / Leipzig 1907. Foto: akg-images
Otto Ubbelohde: "Gevatter Tod", aus: Der Brüder Grimm Kinder- u. Hausmärchen, Marburg / Leipzig 1907. Foto: akg-images
Lebensbejahung und Memento mori gehörten für Matthias Claudius untrennbar zusammen, wobei er das Sterben als ein sanftes Entschlafen erhoffte, als ein Hinübergehen in die Liebe einer gütigen Macht. Ob sich solche Hoffnung bewährt, wenn es um die harte Realität eines elenden Sterbens geht, das bleibt die Frage, um die heute gerungen wird - meint Hans-Jürgen Benedict, Professor em. am Rauhen Haus in Hamburg.

An den Anfang seiner "Sämtlichen Werke" hat Matthias Claudius ein Titelkupfer mit der Widmung an "Freund Hain", den Tod, gestellt, wie er den unbehaglichen Knochenmann mit der Sense nannte. Mit ihm wollte er, trotz des Schreckens, den er einflößt, eine freundschaftliche Beziehung unterhalten.

Der unzeitige, frühe Tod war damals allgegenwärtig: Krieg, Hunger und Seuchen, es gab viele Gefahren. Claudius’ Bruder starb während einer Blattern-Epidemie - die Kindersterblichkeit war hoch.

Doch im Zeitalter der Aufklärung machte sich zunehmend die Hoffnung auf Verbesserung der Lebensumstände breit, von dem mittelalterlichen Memento mori wollten sich die Aufklärer verabschieden. Keine Totentänze mehr! Die Aufklärungstheologie betrachtete den Tod als eine Art Übergang in eine höhere Seinsform, die vom Leib befreite Seele sei einem Stufenprozess unendlicher Vervollkommnung unterworfen. An die Stelle der theologischen Aussage von der Auferstehung des Fleisches trat das seit Plato bekannte Philosophoumenon der Unsterblichkeit der Seele. In der Zerstörung von Totentanzdarstellungen sah man einen Befreiungsschlag gegen die Angstmacherei aus vergangenen Pestzeiten.

Todesverdrängung?

Anders Matthias Claudius mit seiner Widmung an den Tod: "Ihm dedizier ich mein Buch, und er soll als Schutzheiliger und Hausgott an der Haustüre des Buchs stehen." Er reaktiviert die alte christliche Vorstellung vom Tod, er rückt die Totentanztradition in Form eines Titelkupfers nachdrücklich vor Augen.

Der Hamburger Theologe Anselm Steiger (Matthias Claudius, Göttingen 2003) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Claudius damit einen Topos lutherischer Theologie rezipiert hat. Luther beschreibt im Sermon vom Sterben zum einen sehr drastisch den Todeskampf und das Verwesen. Zum andern aber sagt er, dass Christus "durch sein Leiden und Sterben den Tod geheiligt und zu einem Freund des Menschen gemacht hat. Christus hat den Tod selbst berührt, geheiligt, den Fluch in Segen verwandelt, also dass der Tod die Pforte zum Leben hat werden müssen". "Da siehst du, wie sehr es den Herrn drängt, Leiden und Tod zu heiligen und liebenswert zu machen. Er hat ja gesehen, wie uns die Leiden schrecken. Darum eilt er mit aller Kraft, unserem Leiden Einhalt zu tun, indem er es durch seinen Tod weiht und uns mit ihm befreundet." Ist das Todesverdrängung? Vielleicht gerade dadurch nicht, dass das schreckenerregende Bild erhalten bleibt, aber nicht als pure Hoffnungslosigkeit für den einsamen Einzelnen, sondern im gekreuzigten Christus auf eine Distanz gebracht, die Trost erlaubt.

Dies ist der Tod, den Claudius mit Luther "Freund" nennt, der ihn (in Aufnahme einer antiken Tradition) zu seinem "Hausgott" macht: "Ich hab da n Büchel geschrieben und bring’s ihnen her. Sind Gedichte und Prosa: weiß nicht, ob Sie n Liebhaber von Gedichten sind; sollt’s aber kaum denken, da Sie überhaupt keinen Spaß verstehen (...) Die Hand, lieber Hain! und, wenn Ihr mal kommt, fallt mir und meinen Freunden nicht hart."

Claudius Widmungsvorrede ist aber auch eine kritische Antwort auf Lessings Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet" aus dem Jahr 1769. Lessing war darin dafür eingetreten, an die Stelle des angstmachenden Sensenmanns auf die griechische Tradition des die Fackel senkenden Jünglings zurückzugreifen. Claudius gibt zu, "dass der Jüngling, der in ruhiger Stellung mit gesenktem trüben Blicke die Fackel des Lebens neben dem Leichname auslöscht" (das ist sein ungenaues Lessing-Zitat) ein "schönes Bild" sei und "einen so tröstlich an Hain seine Familie und namentlich an seinen Bruder", den Schlaf, "erinnert"... "Bin aber doch lieber beim Knochenmann geblieben. So steht er in unsrer Kirch und so hab ich ihn mir immer vorgestellt ..."

Das Tröstliche im Trostlosen

Kurz: Nicht die Entrümpelung der Bildtradition führt zu einem andern Umgang mit dem Tod, sondern eine Umwertung "ist nur als Akt des Glaubens zu vollziehen, der im vordergründig Trostlosesten das Tröstlichste erkennt und darum auch den Knochenmann nicht entsorgen muß" (Steiger).

Matthias Claudius, Lichtdruck nach dem Gemälde von Friederike Leisching, 1800. "Freund Hain", Frontispiz und Titelblatt des "Wandsbecker Boten", 1775.  Foto: akg-images
Matthias Claudius, Lichtdruck nach dem Gemälde von Friederike Leisching, 1800. "Freund Hain", Frontispiz und Titelblatt des "Wandsbecker Boten", 1775. Foto: akg-images

Lebensbejahung und Memento mori gehören für Claudius untrennbar zusammen. Das macht die Anordnung seiner Gedichte in den sämtlichen Werken deutlich. Besonders schön im 6. Teil - zunächst das Gedicht auf "Frau Rebekka bei der silbernen Hochzeit", dann "Christiane, veranlasst durch den Tod seiner ältesten Tochter", schließlich die beiden Vierzeiler "Der Tod" und "Die Liebe".

Die enge thematische Verknüpfung von Tod und Liebe gründet im Leben wie in der Literatur in der Spannung zwischen der Erfahrung der Vergänglichkeit und der Hoffnung auf etwas den Tod Überdauerndes. In der jüdisch-christlichen Tradition gilt weniger: "Die Liebe ist stark wie der Tod" (Hoheslied 8,6), als das paulinische: "Die Liebe höret niemals auf" (1 Korinther 13,8) und: "Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes" (Römer 8,39).

Claudius hat in seinen beiden Vierzeilern diese Spannung auf wunderbar einfache Weise in Worte gefasst: "Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer, / Tönt so traurig, wenn er sich bewegt / Und nun aufhebt seinen schweren Hammer / Und die Stunde schlägt."

Dann aber das Gegenbild: "Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel, / Und dringt durch alles sich; / Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel, / Und schlägt sie ewiglich."

So unabwendbar der Tod, so wirkmächtig die Liebe. Ihr Reich ist unendlich, ihr Flügelschlag seit Äonen zu spüren. Wie der Vogel Phönix erhebt sie sich mit ewigem Flügelschlag aus der Asche der Vergänglichkeit.

Eines seiner größten Gedichte ist das 1775 veröffentlichte "Der Tod und das Mädchen". Es hat sein Vorbild in der Szene des Totentanzes, in der der Knochenmann eine schöne junge Frau mitten aus dem Leben reißt:.

"Das Mädchen: / Vorüber! Ach vorüber! / Geh, wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! / Und rühre mich nicht an.?//?Der Tod: / Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! / Bin Freund und komme nicht zu strafen. / Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild. / Sollst sanft in meinen Armen schlafen!"

Schreckliche Verzweiflung macht sich Luft in dem Aufschrei: "Vorüber!, Ach vorüber!, Geh, wilder Knochenmann!" Der Tod begegnet ihr mit wahrhaft ultimativer Gewalt, und doch redet sie ihn mit "Lieber" an, um ihn noch umzustimmen, fast als flehe sie einen Vergewaltiger an, sie zu verschonen. Hilflos und rührend ist dies vergebliche Flehen, und doch verändert es die Erscheinung des Todes. Im ruhigen fließenden Jambenton antwortet er, fast wie ein Werbender: "Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!" Nimmt die Ängste, redet begütigend und zärtlich: "Sollst sanft in meinen Armen schlafen!" Das Lied vom Tod verwandelt sich unmerklich in ein Lied der Liebe. Thanatos und Eros, sonst Widersacher, scheinen sich zu versöhnen.

Verwandlung von Angst und Trauer in Trost

Franz Schubert hat dieses Gedicht 1817, er war gerade zwanzig Jahre alt, vertont. Das Lied beginnt mit einem Vorspiel des Klaviers, das bereits die Antwort des Todes zitiert, es folgt anhebend mit dem unbegleiteten ersten "Vorüber" des Mädchens und dann die ruhige, mehr geheimnisvoll-tröstliche denn düstere Antwort des Todes, schließlich das Nachspiel im Klavier, das nochmals die Verwandlung von Angst und Trauer in Trost vorführt. Die Rettung geschieht im kleinsten Schritt: in der Verwandlung der kleinen in die große Terz. Es gibt Hoffnung, verheißen die zwischen Dur und Moll schwebenden Akkorde. Aber nur, wer sich der Erscheinung des Todes stellt, kann diesen Trost erfahren.

Claudius legt hier dem Tod in den Mund, was er vom Tod denken möchte. Die Form der Allegorie erlaubt ihm, den Tod objektiv sagen zu lassen, was seine persönliche Hoffnung ist: Sterben ist ein sanftes Entschlafen, ist liebendes Geborgensein, Hineinsterben in die Liebe einer gütigen Macht. Die Liebe, nicht als Eros, wie zunächst vermutet, sondern als Agape, als mütterliche Liebesmacht Gottes, scheint in den Worten des Todes auf.

Claudius selber konnte alt und lebensmüde ohne große Qualen im Kreis der Familie sterben. Bei ihm selbst scheint sich sein Hoffnungsbild bewährt zu haben. Wie aber, wenn es scheitert, etwa, wenn jemand zu einem elenden Sterben voller Not verurteilt ist? Das bleibt die Frage, um die heute gerungen wird, wenn es um Sterbehilfe versus Palliativmedizin und Sterbehospiz geht. Doch sollte sie uns, die wir uns "mitten im Leben vom Tod umfangen" wissen, kein Anlass sein, den Trost in Claudius’ Worten zu verwerfen: "Ich bin nicht wild. Sollst sanft in meinen Armen schlafen!"

Hans-Jürgen Benedict

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Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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