Gefährliche Illusion

Warum das Konzept von der Freundschaft nach der Scheidung selten aufgeht
Ernst Ludwig Kirchner: „Vor Sonnenaufgang“, 1924/26. Foto: akg-images
Ernst Ludwig Kirchner: „Vor Sonnenaufgang“, 1924/26. Foto: akg-images
"Ich finde den Satz in den Eheversprechen, sich in guten und schlechten Tagen zu lieben und zu ehren, höchst voreilig. Genauer müsste es heißen: ich bin bereit, deine schlechten Seiten ebenso zu ertragen, wie ich mich deiner guten Seiten erfreue ..." Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer beschreibt die psychischen Kosten der Scheidung.

Es gibt Türen, durch die man sehr viel leichter eintreten kann, als man später hinauskommt. Die Ehe ist eine davon. Die Kosten der Urkunde sind minimal, verglichen mit den Beträgen, die bei einer Scheidung fällig werden. Daher will beides realistisch bedacht sein, die Bindung wie die Trennung. Von diesem Trennungsrealismus soll hier die Rede sein. Dass er Not tut, ist einsichtig. Zu oft entbrennen ausdauernde und kostspielige Kämpfe, die nach einem Hollywood-Streifen "Rosenkrieg" genannt werden. Die Rose ist das Symbol der Liebe, war aber zwischen 1455 und 1485 das Symbol heftiger Kämpfe um die britische Krone zwischen der roten Rose im Wappen von Lancaster und der weißen Rose von York. Als die Rosenkriege zu Ende waren, war auch die Hälfte des britischen Hochadels ausgerottet.

In dem Film wird sehr anschaulich gezeigt, was passiert, wenn zwei ehrgeizige, erfolgreiche und selbstbezogene Menschen entdecken, dass die Liebe zwischen ihnen geschwunden ist, aber nicht über diesen Verlust trauern können. Sie fangen an, sich als Opfer zu fühlen und den Partner zu beschuldigen. Dieser wehrt sich seiner Haut - und schon ist aus dem Liebespaar ein Hasspaar geworden, das die einst für den Aufbau der Liebesbeziehung eingesetzte Energie gegen den Partner richtet.

Familienrichter können von Bankdirektoren berichten, die lieber ihren Beruf aufgeben und ihr Vermögen ihrer Mutter überschreiben, als ihrer Ex-Frau Unterhalt zu bezahlen. Strafrichter beschäftigen sich mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs, die Auseinandersetzungen um das Sorgerecht vergiften. Wo in der Liebe alles gut sein musste, wird im Hass alles schlecht.

Hohe Anforderungen

Die moderne, individualisierte Ehe stellt sehr viel höhere Anforderungen an eine Fähigkeit, die in traditionellen Kulturen noch nicht einmal einen Namen hat: Die Verarbeitung von Ambivalenz, die Toleranz für Ambiguität. In arrangierten Ehen, wie sie etwa im Osten noch üblich sind, mögen die Partner darunter leiden, dass sie einander nicht frei wählen konnten. Dafür werden sie aber an einer anderen Stelle entlastet: Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, welche Torheit sie geritten hat, dass sie ausgerechnet mit dieser unerträglichen Person den Bund fürs Leben geschlossen haben. Es fällt ihnen auch viel leichter, in Ehekonflikten Hilfe bei den eigenen Eltern zu suchen, denn diese sind ja für die neue Familie mitverantwortlich. In Europa hingegen tut sich ein Partner, der seine Liebste gegen den Widerstand der Eltern geheiratet hat, nachher extrem schwer, sich in einem Ehekonflikt Trost und Rat bei Eltern zu holen, die schon von Anfang an gegen diese Verbindung waren.

In der modernen Ehe sind die Partner stark und kreativ, so lange sie sich gegenseitig stützen. Verlieren sie aber diese Stütze, ist jeder sehr einsam und Ängsten ausgeliefert, die mit seiner plötzlichen Isolation zusammenhängen. Angst macht Menschen rücksichtslos und grausam, wie wir etwa nach Massenpaniken feststellen können, in denen die Starken die Schwachen buchstäblich zu Tode quetschen. Angst ist der schnellste, heftigste, für das Überleben wichtigste Affekt. Wir haben Angst, verlassen zu werden, schutzlos zu sein, später: schwächer zu sein, eine Niederlage zu erleiden, das Ansehen in unserer Bezugsgruppe zu verlieren und damit Gefühlen der Scham, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit ausgeliefert zu sein. Und wir tun in der Regel (fast) alles, damit diese Angst ein Ende hat.

Die Angst, nie eine sexuelle Erfahrung gemacht zu haben, lässt uns als Jugendliche die Beschämung riskieren, welche mit den Ungeschicklichkeiten der Erotik verbunden ist. Die Angst, seine Potenz zu verlieren, zwingt den Sexsüchtigen dazu, sie sich ständig zu beweisen. Die Angst vor Verlassenheit kittet Beziehungen und führt Menschen dazu, erst dann eine belastende Beziehung aufzugeben, wenn sie eine neue Liebe gefunden haben.

Rituale gegen die Angst

Angst führt dazu, dass wir unter großem inneren Druck und heftigsten unangenehmen Anspannungen danach streben, einen sicheren Ort zu finden. Der wichtigste dieser sicheren Orte ist ein Liebesobjekt, genauer gesagt: ein Liebesritual, denn gerade in ambivalenten Situationen verlieren die Liebesobjekte selbst die Fähigkeit, unsere Ängste zu beruhigen. Wir suchen dann verzweifelt nach Lösungen, um das beruhigende Ritual wieder zu finden. Der Partner an und für sich weckt eher Wut, wenn er nicht sofort alles stehen und liegen lässt, um das Richtige gegen die eigene Verunsicherung zu sagen oder zu tun.

Nicht sein Anblick beruhigt, nicht seine Anwesenheit, nicht das Gute, das in der Vergangenheit war - es beruhigt allein der Vollzug eines bestätigenden Rituals. Erst in diesem findet das geängstigte Ich einen sicheren Ort.

Da wir in der Angst eine Bedrohung von außen erleben, sind wir meist nicht imstande, uns selbst als Angstquelle wahrzunehmen. Das bringt beträchtliche Schwierigkeiten mit sich, ungünstige Rituale in Partnerschaften zu verändern: Die Partner erkennen genau, wo ihnen ihr Gegenüber Angst macht und was dieses unbedingt ändern müsste, damit sie weniger Angst haben. Aber sie erleben nicht, wo sie selbst ihrem Partner Angst machen und was sie selbst tun könnten, um seine Ängste zu mildern. "Du kannst doch keine Angst vor mir haben! Ich bin doch dein Mann, ich habe dir noch nie etwas getan, im Gegenteil, ich habe dich versorgt, dir ein Haus gebaut, wir haben Kinder, und wenn es dich stört, dass ich manchmal gereizt bin, weil du dich sexuell verweigerst, dann ist die Lösung doch ganz einfach!"

Auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger

Wo Angst regiert, gibt es keine kleinen Probleme, keine harmlosen Missempfindungen, keine gewöhnlichen Paarkonflikte. Es gibt nur Katastrophen. Die Missempfindung steht für eine tödliche Krankheit: Der Paarkonflikt wird meine Ehe ruinieren; ich werde das Haus verkaufen müssen, am besten bringe ich mich gleich um. Alles, was wir haben und sind, wird als gefährdet erlebt. Das hat seinen biologischen Sinn darin, alle Kräfte zu sammeln, um die Motivation so anzuspannen, dass die Gefahr bezwungen wird.

Für den Mann, dem seine ritualisierte Erwartung an das sexuelle Entgegenkommen seiner Frau unerfüllt bleibt, sind das schöne Haus, der grüne Garten, die munteren Kinder nichts mehr wert, wie ja auch sein Vorfahr auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger nicht auf die Schönheiten der Steppe achten konnte.

Die Gefahr hat sich verändert, seit wir in verwalteten Sicherheiten leben; die affektive Reaktion aber nicht. Ganz ähnlich wird auch für die Frau, die eine erotische Mail der Rivalin im Rechner ihres Mannes findet, der gar nicht drohende Verlust ihres Partners zum herzerschütternden Schmerz. Er will bei ihr bleiben, sonst hätte er den Seitensprung ja nicht verheimlicht. Aber das gemeinsame Ritual ist bis in die Grundfesten erschüttert. Es ging verloren, was bisher ein sicherer Ort war. Sie hat geglaubt, er liebe sie so, wie sie ihn liebt - und jetzt liebt er eine andere! Durch diese im Erleben des Partners belanglose Verletzung seiner Liebeswelt durch einen harmlosen Seitensprung entweicht in ihrem Empfinden alles Wesentliche.

Eine Zweierherrschaft

Das Dilemma der modernen Paare lässt sich so zusammenfassen: Sie müssen den Partner, diesen Träger egoistischer Interessen und nicht erkannter Prägungen, auch dann als Richter akzeptieren, wenn sie ihn als Henker erleben. Mit ihm zusammen, in einer Zweierherrschaft, vergleichbar jener in der Römischen Republik, können sie durchaus ersetzen, was früher in Krisensituationen die Normen der Sippe anboten: etwas Drittes, das schlichtet, wenn die Affekte zwischen den Liebenden nicht in Harmonie gedeihen.

In der Paartherapie wird in der Regel der Therapeut als Richter gesucht. Er soll entscheiden, wer in dem zerfallenen Zustand des Zweiergerichts Henker ist, wer Richter. Wenn er seine Aufgabe erfüllen kann, wird er diesen Auftrag freundlich abweisen und das Paar überzeugen, sein Zweiergericht wieder herzustellen und seine Rituale in gemeinsamer Verantwortung neu zu gestalten. Ob das gelingt, hängt von der Fähigkeit der Partner ab, Enttäuschungen anders zu verarbeiten als durch Projektion der Schuld auf den Partner und mehr oder weniger kontrollierte Impulse, es ihm heimzuzahlen, sich an ihm zu rächen.

Die Hochzeit leugnet nach Kräften alles, was nicht hoch ist - niedrige Verteilungskämpfe, finanzielle Bedenken, Kritik am Partner. Verliebte Paare lesen sich die Wünsche von den Augen ab. Sobald das erste Kind schreit, müssen sie damit fertig werden, dass die Natur nicht auf Augenablesen setzt, sondern auf Lautstärke. Sie müssen sich neu organisieren, austauschen, unter widrigen Bedingungen ihre Erotik pflegen und Krisen gemeinsam bewältigen. Keine Kleinigkeiten.

Prasselnde Vorwürfe

Ich finde den Satz in den Eheversprechen, sich in guten und schlechten Tagen zu lieben und zu ehren, höchst voreilig. Genauer müsste es heißen: Ich bin bereit, deine schlechten Seiten ebenso zu ertragen, wie ich mich deiner guten Seiten erfreue.

Es gibt kaum ein Ritual, das so widersprüchlich erlebt wird wie eine Scheidung. Verwunderlich ist das angesichts der Idealisierung des Partners im Eheritual keineswegs. Meist gehen Auseinandersetzungen voraus, in denen die Partner darum ringen, wer angefangen hat, schlechte Seiten zu zeigen, wer zu wenig Bereitschaft zeigt, sie abzulegen, kurzum: wer schuld ist, dass der Himmel nicht voller Geigen hängt, dass er nicht einmal leer geworden ist, sondern Vorwürfe aus ihm niederprasseln.

Um zu heiraten, müssen sich Zwei zusammentun. Für Trennung und Scheidung reicht Einer. Das Wir zerfällt - selten säuberlich. Meist gibt es einen, der die Trennung will, der sie gar mit einem Aufatmen erlebt, und einen, dem seine Vorstellung vom richtigen Leben zerbricht, der sich schuldig, elend, verlassen fühlt. Ein Partner strebt in eine neue Beziehung, sein Gegenüber liegt verletzt unter den Trümmern der alten. Angesichts zermürbender Entwertungen und Schuldzuweisungen kann das Ende einer Ehe eine Erlösung sein. Aber gemessen an dem Hochgefühl des Brautpaars geht es doch immer um die ernüchternde Suche nach dem kleineren Übel.

Nur Phantasie

Oft haben Paare sich lange mit Trennung bedroht und doch nicht getrennt. Ich kannte einmal Eheleute, die zwanzig Jahre keinen gemeinsamen Urlaub planen konnten, weil sie nie sicher waren, ob sie in den Monaten bis zu den Sommerferien sich nicht doch noch trennen würden. Wenn sich ein solches Paar endlich tatsächlich trennt, wird deutlich, wie groß die Differenz zwischen Scheidungsphantasie und Scheidung ist: Die erste erlaubt, imaginär das Schlechte am Partner loszuwerden und das Gute zu behalten; die zweite führt dazu, dass Gutes wie Schlechtes aus dem eigenen Leben verschwinden.

Der Satz "Lass uns Freunde bleiben" fällt nicht selten, wenn ein Paar auseinander geht und einer von beiden die Macht dieses Hass-Gespenstes in sich erlebt.

Sicher ist es gut und sinnvoll, mit jeder langjährigen, intensiven Bindung im Leben so umzugehen, wie man es mit wertvollen Gegenständen tut. Man sollte sie schonen, pflegen, erhalten. Aber aus diesem guten Vorsatz wachsen auch bedenkliche Spannungen.

Jüngst sprach ich mit einem Mann, der nach einer solchen "freundschaftlichen" Trennung an einer Depression erkrankt war. Er lebte gemäß den Wünschen seiner Frau, von der er sich vor einem Jahr getrennt hatte, nach wie vor in dem gemeinsamen Haus. Er fühlte sich nicht wohl, sah sich aber nicht in der Lage, mir genauer zu erklären, woran das lag. Allmählich stellte sich heraus, dass die von seiner Partnerin verhängte und von ihm kritiklos übernommene Freundschaft weder seinen noch ihren Gefühlen entsprach.

Er fühlte sich von Schönfärberei und Schönrednerei erstickt. Er sollte vor den Kindern über seine Unzufriedenheit mit der Ehe schweigen, erfuhr aber irgendwann doch, wie seine Partnerin sich vor den Kindern über ihn beklagt, ihn als den Schuldigen der bevorstehenden Trennung dingfest gemacht hatte. Zur Rede gestellt, leugnete sie, sie würde nie etwas tun, was dem Geist der verabredeten Freundschaft widerspreche.

Eine Abwehr-Illusion

Die Freundschaft war hier eine Abwehr-Illusion geworden, durch die sich die Partner vor einer Auseinandersetzung schützten. Die Verabredung führte dazu, dass die gegenseitigen Aggressionen nicht bewusst erlebt und vernünftig geregelt werden konnten, sondern verleugnet und auf Umwegen erledigt werden mussten.

Die Frau wollte nie schlecht über ihren Mann reden und tat es doch immer wieder, wenn eine Freundin sie teilnahmsvoll fragte. Der Mann richtete seine Wut gegen sich selbst. Er wurde depressiv, weil er anders die Kränkungen nicht verarbeiten konnte.

Freunde sucht man sich aus und ist gern mit ihnen zusammen. Scheidungspartner sind eine Belastung für das Selbstgefühl. Solche Belastungen sind kränkend. Menschen verleugnen gerne Kränkungen, weil sie einem Selbstbild widersprechen, das sie gerne unantastbar hätten: Wenn es Probleme gegeben hat, an mir liegen sie nicht!

Mit solchen Situationen kann man kräfteschonend, höflich und rücksichtsvoll umgehen, sobald klar ist, dass es um Diplomatie geht, nicht um Freundschaft. Freundschaft ist wieder möglich, wenn das Trümmerfeld aufgeräumt ist und sich keiner mehr einen Vorteil davon verspricht, dem anderen die Schuld an der Misere zuzuschieben. Vorher kann sie zu einer gefährlichen Illusion werden, welche den Schatten der Liebe dunkler und bedrohlicher macht, indem sie ihn verleugnet.

Solide Arbeitshaltung nötig

Der Vorschlag wäre also der, das Konzept von Freundschaft aufzugeben, wenn es darum geht, mit dem Ende einer Liebesbeziehung umzugehen. Was dann Not tut, ist Arbeit. Arbeit heißt, dass man bereit ist, zu schwitzen, sich anzustrengen, zu verzichten, kurz: Unangenehmes zu erledigen, um Nachteile abzuwehren.

Es gibt Arbeit aus Liebe und professionelle Arbeit, für die wir bezahlt werden. Für das Aufräumen und Ordnen in einer zerbrochenen Familie nach der Trennung ist die professionelle Arbeit das beste Modell. Sie wahrt eigene Interessen, verkleinert den seelischen und materiellen Schaden. Paare, die anständig zusammenarbeiten, die den oder die Ex nicht schlechter behandeln als den oder die Kollegin im Büro, haben die besten Voraussetzungen, mit den anstehenden Problemen fertig zu werden.

Freunden verzeiht man es, wenn sie unpünktlich sind oder Verabredungen nicht einhalten. Für kollegiale Arbeit sind solche Nachlässigkeiten Gift. Das gilt auch für die Zusammenarbeit von Scheidungseltern. Erst wenn eine solide Arbeitshaltung die Defizite ausgleicht, welche durch den Verlust an Liebe entstanden sind, können sich Partner und Kinder in Patchworkfamilien wieder sicher fühlen.

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Wolfgang Schmidbauer

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