Flucht aus den dogmatischen Loci

zeitzeichen-Serie (VIII): Das Erbe des 20. Jahrhunderts. Neue Strömungen in der Theologie
Nicht immer zusammen: Neo Rauch: "Linke und rechte Hand", 2009. Foto: akg-images
Nicht immer zusammen: Neo Rauch: "Linke und rechte Hand", 2009. Foto: akg-images
Die Positionen in der Systematischen Theologie der Nachkriegszeit haben sich zunehmend voneinander entfernt. Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, wirft einen Blick in den trennenden Graben.

Es ist schwierig, über die Gegenwart Auskunft zu geben. Wir selbst sind ein Teil von ihr, strenggenommen sie selbst. Unsere Vergangenheit und unsere Zukunft nehmen wir wahr, weil wir sie von uns unterscheiden können. Unsere Gegenwart aber bleibt uns verborgen. Wir sind, auch als Theologinnen und Theologen, eine "Sicht der Dinge"; aber dieses "Sehen" bekommen wir nur nachträglich in den Blick, im Innehalten und Zurückblicken. Zurückblickend aber verstellen wir unser eigenes Sehen, weil wir es als Ereignis in der Welt wahrnehmen - und nicht als den Blick, mit dem wir selbst identisch sind. Der Mensch kommt nicht hinter sich und seine Gegenwart.

Mit einem Wort: Der Zugriff auf die gegenwärtige theologische Diskussion darf die eigene Perspektivität nicht verleugnen, was vielleicht einen autobiographischen Einstieg rechtfertigt: Als ich Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre an meiner Dissertation schrieb, war ich der festen Überzeugung, dass es die zentrale Aufgabe der gegenwärtigen Theologie sei, die Grundeinsicht einer Substanzontologie argumentativ wiederzugewinnen: die Einsicht nämlich, dass jedem Erkennen und jedem Deutungsakt ein gegen dieses Erkennen Selbstständiges und ein von diesem Deutungsakt Unabhängiges vorausliegt. Theologie, so schien mir, hat mit dem zu tun, was dem Glauben vorausgeht, ihn begründet, von ihm unabhängiger Ursprung ist.

Kritik der Transzendentalphilosophie

Theologiegeschichtlich lässt sich diese Fragestellung als spätes Revival der Antithese identifizieren, in die sich Barth zu Schleiermacher stellte: Die Gotteslehre Barths kann ebenso wie seine Prolegomena als der Versuch einer Begründung der faktisch gegebenen Rede von Gott oder der faktisch in der Kirche stattfindenden Erkenntnis Gottes in ihrem Gegenstand verstanden werden - und somit als der Versuch einer theologischen Kritik der Transzendentalphilosophie. Barth begründet diese "Kehre" letztlich theologisch mit dem Verweis auf den Begriff Gott, der die absolute Souveränität einschließt. Nicht nur mir aber drängte sich zunehmend der Eindruck auf, dass eine Rückkehr in die verlorene transzendentale Unschuld nur um den Preis der Unredlichkeit möglich ist.

Von dieser Fragestellung zur neuesten protestantischen Theologie: Sie lässt sich anhand der Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften charakterisieren, die jeweils einen Theologen des 19. oder des 20. Jahrhunderts als namengebenden "Helden" gewählt haben und meistens die Herausgabe seiner Werke betreiben oder begleiten; zu nennen sind nach der bereits Ende der Sechzigerjahre gegründeten Paul-Tillich-Gesellschaft die in den Achtziger- und Neunzigerjahren aus der Taufe gehobenen Vereinigungen: die Bultmann-Gesellschaft, die Kierkegaard-Gesellschaft, natürlich die Barth- und die Bonhoeffer-Gesellschaft und die dem Denken Ernst Troeltschs und Friedrich Schleiermachers verpflichteten Vereinigungen.

Die meisten dieser Gesellschaften tragen das Attribut "international" im Titel oder sind, sofern sie sich ausdrücklich als deutsch bezeichnen, Teil eines internationalen Verbundes gleichgesinnter Gesellschaften. Die systematische Arbeit ist in hohem Maße internationalisiert, was sich nicht nur in einem trotz der schwindenden Kenntnis der deutschen Sprache wachsenden Interesse beispielsweise nordamerikanischer Theologinnen und Theologen an der deutschen theologischen und philosophischen Tradition niederschlägt (Robert Jenson; Christine Helmer; Brent Sockness; die finnische Lutherforschung: Risto Saarinen und andere), sondern auch in einer intensiven Rezeption nordamerikanischer analytischer Philosophie (Joachim Track; Ingolf Dalferth; Peter Großhans) oder des französischen Erbes der phänomenologischen Tradition (ebenfalls Dalferth und die Arbeit des Züricher Instituts für Hermeneutik; Philipp Stoellger; Michael Moxter).

Theologiepolitische Absicht der Gesellschaften

Die genannten Gesellschaften unterscheiden sich aber von entsprechenden älteren Gründungen dadurch, dass sie nicht, wie beispielsweise die in den Zwanzigerjahren gegründete Luther-Gesellschaft in ihrer Anfangsphase, eine gesellschaftspolitische, sondern eine theologiepolitische Absicht verfolgen, nämlich die Vergegenwärtigung des Denkens dieser Theologen und die Förderung einer ihrem Erbe verpflichteten theologischen Arbeit. Diese Gesellschaften sind neben die Gesellschaften getreten, die sich dem allgemeinen wissenschaftlich-theologischen Diskurs verpflichtet fühlen - die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie oder die Societas Ethica. Dadurch hat sich die positionelle Segmentierung der systematisch-theologischen Landschaft in der Nachkriegszeit vertieft: Sie schlägt sich bis in die Sechzigerjahre in Deutschland in der Alternative Rudolf Bultmann - Karl Barth nieder, die beispielsweise beinahe alle Beiträge in der von Lehmkühler und Henning herausgegebenen "Systematische(n) Theologie in Selbstdarstellungen" thematisieren.

Diese Segmentierung differenziert sich in den Schulbildungen der Siebzigerjahre, in denen man Spielarten einer hermeneutischen Theologie (Gerhard Ebeling), modifizierte Fortwirkungen der Barthschen Theologie (Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel, Christian Link, Wolfgang Huber), ein Bemühen um eine modernetaugliche, lutherische Theologie (Oswald Bayer; Jörg Baur) und ein wiedererwachendes Interesse an Fragestellungen der liberalen Theologie (in sich sehr differenziert: Hans Joachim Birkner, Trutz Rendtorff, Eilert Herms) unterscheiden kann.

Liberales Erbe dominiert

Seit den Neunzigerjahren wird die theologische Diskussion von den positionellen Vorgaben dominiert, die in früheren Zeiten als "liberales Erbe" gekennzeichnet worden wären und die in der Schleiermacher-, der Troeltsch- und der Tillich-Gesellschaft gepflegt werden.

Diese hielten 2012 einen gemeinsamen Kongress ab unter dem Titel "Die aufgeklärte Religion und ihre Probleme". Mit diesem Titel beanspruchten sie erkennbar, in besonderer Weise mit der Transformationsaufgabe befasst zu sein, vor die das neuzeitliche Christentum gestellt ist und in der das Erbe der Aufklärung (das historische Bewusstsein, die Entkirchlichung, Pluralisierung und Individualisierung des Christentums) nicht als Last, sondern als Chance begriffen wird.

Zugleich stehen diese Gesellschaften für eine Grundtendenz der Gegenwartstheologie, die man als Flucht aus den materialdogmatischen Loci charakterisieren könnte - hin zu einerseits theologiegeschichtlichen, andererseits prinzipien- und fundamentaltheologischen Fragestellungen. Diese Gesellschaften fördern theologiegeschichtliche Arbeiten zum Werk der jeweiligen namengebenden "Helden" ebenso wie solche auf dem Gebiet der Systematischen Theologie, insbesondere der Dogmatik. Diese Arbeiten verfolgen in der Regel nur im detaillierten Durchgang durch historische Positionen eine systematische Pointe, die meistens im Schlussabschnitt dargelegt wird. Nicht zufällig stammen viele der Arbeiten, die in die renommierte Reihe "Beiträge zur historischen Theologie" im Verlag Mohr-Siebeck aufgenommen wurden, von Schülern systematischer Theologen. Typbildende und im Blick auf das Festhalten einer leitenden systematischen Fragestellung positive Beispiele dafür sind die in München in den Siebziger- und Achtzigerjahren entstandenen Habilitationsschriften.

Darin, dass die systematischen Leitfragen der historisch verfahrenden Arbeiten überwiegend an den Konstitutionsbedingungen der Theologie und des christlichen Glaubens interessiert sind, liegt die deutlichste positionelle Konzentration der theologischen Diskussion. Auf sie will ich mich im Folgenden beschränken.

Schöpfungslehre ohne Kosmologie

Die meisten der Theologinnen und Theologen in den genannten Gesellschaften sind sich darin einig, dass der Versuch, Theologie von einem als Voraussetzung des Glaubens gefassten Offenbarungshandeln Gottes her zu betreiben, ein nicht gangbarer Weg ist. Sie sind geprägt von der Tradition liberaler Theologie und orientieren sich vielfach in der einen oder anderen Weise an Schleiermacher; die theologische und religiöse Rede gilt dann nicht als Beschreibung der gegenständlichen Voraussetzung des Glaubens - des Handelns Gottes in Christus oder der Qualitäten der Heiligen Schrift oder des Wesens und Seins Gottes -, sie ist vielmehr religiöser Ausdruck gläubigen Selbstverständnisses. Darin liegt eine Entsubstantialisierung der Aussagen des frommen Subjekts, die sich in einer deutungstheoretischen Hermeneutik niederschlägt; an einem Beispiel verdeutlicht: Die Aussagen über die Schöpfung sind nicht Theorien über einen Weltentstehungsprozess, dem schließlich irgendwann das gegenwärtige Subjekt entspringt, sondern sie sind Selbstaussprache des gegenwärtigen Subjekts, in dem das dankbare Bewusstsein des Beschenktseins ausgedrückt und das je eigene Leben und die es tragende Wirklichkeit als Manifestation eines begründenden und also göttlichen Willens zur Sprache gebracht wird.

Andere Verhältnisbestimmungen reformulieren die Rede von Gott als Implikat und Bedingung der Möglichkeit endlicher Freiheit - so etwa Christian Danz im Anschluss an Tillich und Schelling. Wieder andere reformulieren das Phänomen der Religion im Kontext der Sinnfrage.

Diese Beispiele zeigen die Leistungsfähigkeit einer deutungstheoretischen Hermeneutik der gegenständlichen Aussagen des Glaubens: Weil sie als eine "Schöpfungslehre ohne Kosmologie" (Ulrich Barth) nicht in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften tritt, ist sie naturwissenschaftlich ebenso anschlussfähig wie zu Auseinandersetzungen mit Positionen, die die menschliche Willensfreiheit unter Verweis auf neurophysiologische Erkenntnisse als widerlegt betrachten: Die Selbst- und Weltwahrnehmung des Subjekts lässt sich nicht durch die Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten erklären oder widerlegen, sondern nur in einer Phänomenologie oder Hermeneutik des Subjekts beschreiben, in der sich die Rede von Gott als Moment der Selbstthematisierung des Subjekts ausweist.

Dies wiederum setzt voraus, dass sich ein geklärtes Verhältnis von theologischer Lehre und religiösem Vollzug einstellt, und dass die Schrifthermeneutik mit dem Anliegen einer Hermeneutik des Subjekts vermittelt wird; solche Klärungen haben beispielsweise Jörg Dierken im Anschluss an Schleiermacher, Hegel, Bultmann und Barth (1996), Heiko Schulz in einer von Kierkegaard inspirierten Arbeit unter dem Titel "Theorie des Glaubens" (2001) und Jörg Lauster in einer rezeptionshermeneutischen Reformulierung der klassischen Lehre von der Schrift (Prinzip und Methode, 2006) vorgelegt.

Streit um Entsubstantialisierung

Allerdings ist diese Entsubstantialisierung religiöser Aussagen nicht unbestritten geblieben; der Verweis darauf, dass der Glaube seinem inneren Sinn nach intentional verfasst ist und nicht einfach sich selbst, sondern sich über den ihm unverfügbar evidenten Grund ausspricht, wird in unterschiedlicher Weise etwa von Michael Welker und von Eilert Herms geltend gemacht.

Aber auch der Sinn der zuvor skizzierten deutungstheoretischen Reformulierung der gegenständlichen Aussagen des christlichen Glaubens ist nicht unstrittig. Gegen sie stellt sich die Frage, ob das religiöse Subjekt und sein Selbstverständnis angemessen formuliert ist, wenn man es im Gefolge des (kritischen) Idealismus - Kant, Fichte - fasst, oder ob nicht das Subjekt selbst von Voraussetzungen bestimmt ist, die es übersteigen, ohne gegenständlich zu sein. Das sich seiner selbst bewusste Subjekt ist immer schon getragen von Voraussetzungen, die es nicht selbst gesetzt hat - der Lebenswelt und der überindividuellen Ausgelegtheit (Kultur), in der es erst zu sich selbst kommt, der Sprache, in die es eingeführt ist und von der sein Sehen immer schon bestimmt ist; der Leib, dessen schweigend reflexive Intentionalität es fundiert und prägt.

In die Wahrheit führen

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der bewussten Subjektivität ist inspiriert von Maurice Merleau-Ponty oder Bernhard Waldenfels, von der Phänomenologie der Lebenswelt, von der Sprachphilosophie eines Hamann, Humboldt oder Wittgenstein - oder auch vom dialogischen Personalismus. Sie ist interessiert an einem unterhalb der Ebene bewusster Intentionalität und Objektivierung liegenden Erscheinen von Wirklichkeit, die eigenen Rechts ist - in diesem Sinne wird beispielsweise auch der iconic turn in der Theologie aufgenommen. Möglicherweise ergibt sich hier ein Zugang zur Deutung der Religion, der dem Moment der Passivität, das den religiösen Akt fundiert (Philipp Stoellger), Rechnung zu tragen erlaubt. Dieser Rückgang auf eine vorthematische Selbsterfahrung, die auch die in jüngster Zeit diskutierten Wiederaufnahmen des Seelenbegriffs oder des Themas der Emotionen motivieren, stellen nicht etwa einen Bruch mit der grundsätzlichen Entsubstantialisierung der Religion dar. Vielmehr handelt es sich um präzisierende Fragen danach, welche Art des Selbstverhältnisses eigentlich der Begriff "Subjekt" meint. Geht es um ein Selbstverhältnis, das vor und in jeder Intentionalität (Bezugnahme auf anderes) auf sich selbst bezogen ist und das Wissen um sich selbst als das um die eigene Abhängigkeit durch die Rede von Gott zur Sprache bringt? Oder handelt es sich um ein immer schon passiv bestimmtes vorthematisches Wissen um sich selbst, das sein Bewusstsein des Bedingtseins in der Rede von Gott zur Sprache bringt - unterhalb der Ebene seiner Freiheit, Selbstbestimmung und thematischen Selbsterfassung?

Dies ist nicht die einzige, aber eine wesentliche Fragestellung der gegenwärtigen systematischen Diskussion, die, so scheint mir, die Behandlung materialdogmatischer Themen präjudiziert und mitbestimmt. Die Faszination, die von der Entsubstantialisierung der Aussagen des christlichen Glaubens ausgeht, liegt darin, dass sie eine auf Aneignung abzielende Deutung der Schrift und der Aussagen der christlichen Tradition erlauben, die sehr praktische Perspektiven für die Predigttätigkeit eröffnet, die die Texte nicht als Beschreibung objektiver Ereignisse oder Entitäten, sondern als Aussprache eines Selbstverständnisses und damit als Eröffnung einer Übernahme dieses Selbstverständnisses erlaubt; das Verständnis religiöser Rede als Hermeneutik der Existenz dient nicht zuletzt der homiletischen Parrhesia - der in die Wahrheit führenden Rede des Glaubens.

Notger Slenczka

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Foto: P. Brusowski

Notger Slenczka

Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.


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