Bitte mitkommen!
Er trägt einen schwarzen Stoffmantel, dazu schwarze Hosen und Schuhe, den grauen Hut hat er über das graue Haar gestülpt. Auch die Mauer, vor der er steht, ist grau. Aber etwas will nicht passen, die Lebhaftigkeit, mit der er spricht, die weichen Linien seines Gesichtes und seine wachen, warmen Augen. "Es ist spannend, einem entmachteten Geheimdienst auf die Füße zu treten", erklärt er. Gilbert Furian war selbst Insasse hier. Seit 1994 führt er Besucher durch die frühere zentrale Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit und erzählt vom System politischer Verfolgung. Er erzählt auch seine eigene Geschichte.
Am 27. März 1985 wurde er an seinem Arbeitsplatz im VEB Wärmeanlagenbau von vier Beamten der Staatssicherheit verhaftet. "Bitte mitkommen! Zur Klärung eines Sachverhalts." Mehr sagten sie nicht. Nach sieben Monaten Verhör in der abgeschotteten Hohenschönhausener Haftanstalt verurteilte die Richterin den damals 41-Jährigen wegen "Ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" (§ 219) und "Staatsverleumdung" (§ 220) zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft. Das entsprach der "Empfehlung", also der Vorgabe des Staatssicherheitsdienstes. Um ihr gerecht zu werden, hatte die Richterin eigens die Anklage erweitert. Die Strafe saß Furian bis zum April 1986 in der Strafvollzugsanstalt Cottbus, die letzten Wochen in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, ab, dann wurde er von der Bundesrepublik frei gekauft.
Keine einheitliche sozialistische Persönlichkeit
Jetzt sitzt er an einem runden Metalltisch im Besucherzentrum der Gedenkstätte und nippt an seinem Moccacino - in diesem grauen Raum, mit den riesigen braunen Stahltoren und dem immer schmutzig wirkenden Betonboden. Als er wenige Minuten später vor der Besuchergruppe steht, fängt er sofort an zu reden: von seinem Vergehen, seiner Verhaftung. Er hatte Interviews mit Punks geführt. Ein befreundeter Diakon hatte ihn auf die Idee gebracht und ihm einige Punks in seinem Umkreis vorgestellt. Furian, damals als Verkehrskaufmann angestellt, hatte die Interviewsammlung vervielfältigt, unter Freunden verteilt und seiner Mutter mitgegeben, die als Rentnerin frei in die Bundesrepublik reisen durfte. Dort sollte sie die Schrift an Freunde und Bekannte weitergeben. "Das war natürlich von den DDR-Oberen nicht gewollt, dass man im Westen und auch in der DDR erfuhr, dass es hier Menschen gab, die sich dem einheitlichen sozialistischen Bild verweigerten." Furian selbst war kein Punk, passte aber ebenso wenig in die Schablone der vom System propagierten "einheitlichen sozialistischen Persönlichkeit". Mit sechzehn Jahren wurde er aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgeschlossen, weil er abweichende politische Meinungen vertrat und Verbindungen zur Jungen Gemeinde unterhielt. Ein Dolmetscherstudium wurde ihm verweigert, und während des späteren Philosophiestudiums wurde er exmatrikuliert.
Komplette Ohnmacht
Die Besuchergruppe folgt Furian nach draußen. Es geht an den mehrere Meter hohen Mauern entlang, dann rechts ab. Durch einen Gitterkäfig gelangt die Karawane in den Innenhof der Gedenkstätte. Es ist ein weiträumiges Gelände, über das sich lange Schatten gespenstisch ausbreiten. Furians Interviewsammlung, mittlerweile kopiert, vergilbt und laminiert, findet sich hier in den Händen der Besucher wieder und wird herumgereicht. Er hat sie einer abgewetzten braunen Ledertasche entnommen. Die hatte er schon vor der Verhaftung besessen; ein Observationsbericht, den er vor der Führung vorgelesen hat, erwähnt sie. Hier wird er das Heft später wieder verstauen und andere Utensilien herausholen, denen er Bedeutung beimisst: Haftbericht, Beobachtungsberichte, Gerichtsakten.
Gerichtsakten. Eine der schlimmsten Erfahrungen sei die komplette Ohnmacht im Prozess gewesen, sagt er. Der Ausgang des Prozesses stand von vorn herein fest. "Man hatte keine Chance, war völlig ausgeliefert. Ich hätte auch einen Besenstil mit meiner Verteidigung beauftragen können."
Lange, karge Flure
Furian führt in den Neubau, der Anfang der Sechzigerjahre von Häftlingen erbaut wurde. Der Vernehmertrakt ist durch Gitter unterteilt, ebenso wie der Zellentrakt auf der anderen Seite des U-förmigen Gebäudes. Die Besucher folgen dem ehemaligen Häftling über die langen, kargen Flure, an den vergilbten, teils abgerissenen Tapeten entlang. Von der Decke werfen Neonröhren ein spärliches, schmutziges Licht auf das abgetretene gelbgrüne Linoleum. Tausende Häftlinge sind darüber gelaufen. Von der Zelle zum Verhör, vom Verhör in die Zelle. Immer der gleiche Weg. Alle drei Meter führen graue, schallgedämmte Türen nach rechts und links in Verhörzimmer. Die Gardinen sind nach den Jahren völlig ergraut, seitlich fallen eigelbfarbene, schwere Vorhänge herunter, Staub hängt in der Luft. Auf dem alten Schreibtisch stehen ein Telefon mit Wählscheibe und eine Schreibmaschine, für die man noch Kraft in den Fingern brauchte. Insgesamt gibt es hier 120 Vernehmerzimmer und 102 Zellen.
Gilbert Furian
Furian, Häftling Nr. 36 des Jahres 1985, saß in Zelle 314: Toilette, Waschbecken, Wandregal, Pritsche, Tisch und Hocker - so sehen manche Zellen heute noch aus. In die Außenwand jeder Zelle sind dicke Glasbausteine eingemauert, durch die Licht in den Raum fällt. Hindurchsehen kann man aber nicht. Man kann nur Konturen erkennen, wenn man dicht davor die Augen zusammenkneift. In der dicken, hellgrauen Eingangstür mit schwerem schwarzem Riegel lässt sich eine Durchreiche öffnen und durch ein Guckloch, einen Spion, spähen. "Alle fünf Minuten?", fragt ein Besucher. "Ja, alle fünf Minuten guckten die Schließer hier durch und kontrollierten", antwortet Furian. Licht an, Licht aus, Licht an, Licht aus, die ganze Nacht hindurch.
Riechen, fühlen, erinnern
"Es riecht hier so wie früher. Als ich mit den Führungen anfing, war das jedes Mal wie ein Stromstoß", erzählt der ehemalige Häftling. "Wie schaffen Sie das?", will man wissen. "Immer und immer wieder durch die Räume gehen, sehen, riechen, fühlen - erinnern." Früher habe er Angst- und Rachephantasien gehabt - aber je mehr er sich damit auseinandersetzte, desto mehr verschwanden diese. Jetzt will er informieren. Und zwar möglichst nüchtern, beinahe unterkühlt. "Die Leute sollen selbst schlussfolgern." Das ist sein Anspruch. Doch unterkühlt wirkt er ganz und gar nicht. Sein Blick ist fest, aber lebhaft, er spricht mit klarer, schwingender Stimme und gestikuliert dazu mit Körper und Händen. Er vergleicht den Rundgang mit einer Theateraufführung: Er hätte etwas von einer Inszenierung mit dramaturgischen Wechseln. Die Besucher blicken unverwandt auf seine Lippen, wohl fasziniert, weil er verkörpert, wovon er spricht. Sie wenden den Blick nur von ihm ab, um die authentische Atmosphäre einzufangen und zu begutachten, ob sie das, was er erzählt, in den Räumen wiedererkennen. Auf jede Frage geht er ein. Immer antwortet er erstaunlich distanziert für jemanden, der hier eingesperrt war. Als ein Besucher seinen Ärger darüber äußert, dass so viele ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit heute so gut gestellt seien und deren menschenverachtende Vergehen nicht strafrechtlich belangt würden, entgegnet ihm Furian, dass der Rechtsstaat für alle Bürger gleichermaßen gelte - und zwar zu Recht. Als er den Irrtum einer Besucherin entdeckt, es sei alltäglich gewesen, dass Schließer die Gefangenen schlugen, widerspricht er: Das sei von der Epoche abhängig gewesen.
Zum gesunden Hass erzogen
Tatsächlich wurde ab den Fünfzigerjahren in der Regel keine physische Gewalt mehr angewendet. Um ein Geständnis, also die "Offizialisierung" von illegal beschafften Informationen zu bekommen, wurden raffinierte psychologische Methoden verwendet: Systematisch versuchten Vernehmer, entweder Ohnmachtsgefühle, Schuldgefühle oder Angst zu erzeugen oder allmählich ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, sie drohten oder belohnten. Sie isolierten die Häftlinge und verweigerten ihnen jede Kommunikation außerhalb des Verhörs.
"Die Schließer habe ich als lebendes Inventar gesehen. Die waren wie Roboter. Wie Maschinen. Zum gesunden Hass erzogen. 'Komm'n Se, Geh'n Se, Steh'n Se', war alles, was die sagten. Aber damit kam ich klar", sagt der Zeitzeuge.
Schlimmer war für ihn die Begegnung mit den anderen Gefangenen im Strafvollzug in Cottbus. Mit acht anderen Häftlingen war er zusammen in einer Zelle. Sieben politisch Verfolgte und der Zellenälteste, ein Schwerverbrecher, der die besondere Befugnis hatte, für Ordnung zu sorgen. Als Furian hier seine Absicht bekundete, in der DDR bleiben zu wollen, folgte ein Spießrutenlauf. Seit seiner frühesten Jugend hatte er die DDR verachtet, hier galt er als "Kommunistensau". "Ich habe mich tot gestellt. Ich wollte nichts wissen, nicht nachdenken, möglichst keine Gefühle entwickeln."
Täter - Menschen von der anderen Seite
Unter den Zeitzeugen, die durch Hohenschönhausen führen, nimmt Furian eine Art Sonderrolle ein. Bereits 1989 hat er angefangen, Menschen von "der anderen Seite", der Täterseite, zu interviewen, so zum Beispiel seinen ehemaligen Vernehmer oder seine Richterin.
Er habe keine Vorbehalte, wolle nicht verallgemeinern, nicht verurteilen. "Ich will selbst für mich entscheiden - nur für mich, nicht für andere -, wer ein Quäntchen meiner Verachtung verdient hat und wer meinen Respekt, zum Beispiel dadurch, dass er Einsicht zeigt." Nur wenige ehemalige Häftlinge sind dazu willens oder in der Lage. Viele schweigen ihr Leben lang über ihre Erfahrungen. Andere verarbeiten diese, indem sie darüber sprechen, weitere, indem sie anklagen.
Nach neunzig Minuten drängt sich die Besuchergruppe auf engstem Raum in die Freigangzelle, umgeben von hohen, mit Stacheldraht überspannten Mauern. Hier sammelt sich die ganze unheimliche Kälte des Ortes und klebt an den Mauern, hängt in der Luft. Die Besucher klatschen, Furian geht und setzt sich wieder an den Metalltisch im Besucherzentrum, nippt an seinem zweiten Moccacino und wartet darauf, dass seine letzte Führung für heute beginnt.
Katharina Lübke