Per Rad durch Berlins Geschichte
"Doch, die Mauertour hat mir sehr gut gefallen. Auch wenn sie ziemlich lange dauerte und wirklich anstrengend war." So einer der Jugendlichen, die in diesem Jahr an unserer Jugendreise teilnahmen - fünf junge Frauen und vier junge Männer aus der reformierten Kirchgemeinde Mandach (Schweiz). Sie alle besuchen die achte oder neunte Schulklasse, sind angehende Konfirmanden oder wurden am Palmsonntag "frisch konfirmiert". Von letzteren ließen sich immerhin sechs die Reise nach Berlin nicht entgehen - eine Zweidrittelquote meiner Konfirmanden.
Zur geografischen Einordnung: In unserem Schweizer Dorf wohnen 315 Leute - in Berlin sind es 3,3 Millionen. Das ländlich geprägte Mandach liegt nicht weit von Waldshut entfernt in hügeligen Juraausläufern. Die nächstgelegenen größeren Städte sind Baden mit 18.000 und Brugg mit 10.500 Einwohnern. Da erscheint einem also schon das Hostel in der Nähe der Warschauer Straße in Berlin wie eine Burg oder ein Schloss. Nicht dass wir das Gefühl hätten, da wo wir her kommen, diesem kleinen Schweizer Dorf, hinter dem Mond zu leben. Aber der Kontrast ist schon sehr stark.
Entlang der Geschichte radeln
Zum Auftakt unserer Radtour müssen wir erst einmal unsere Räder in Besitz nehmen. An einem Dienstagvormittag fahren wir zum Bahnhof Zoologischer Garten. Wir treffen auf der Vorder- und Schauseite des Bahnhofs ein, schräg gegenüber dem Zooeingang. Von den Obdachlosen, denen man auf der Rückseite des Bahnhofes, auf der Jebensstraße, begegnet, ahnen wir da noch nichts. Jeder von uns wählt ein passendes Rad aus, fixiert den Sattel auf der richtigen Höhe und dreht eine Proberunde. Mit dem Wetter haben wir Glück, am Morgen regnete es noch, jetzt aber scheint die Sonne. In den Buchungsinformationen ist festgeschrieben: "Unsere Touren finden bei jedem Wetter statt, ob Regen oder Kälte."
Den Jugendlichen gefallen die Beachcruiser-artigen Stadtvelos mit dem geschwungenen oberen Rahmen - und radeln, das können sie, zuhause müssen sie nach der Schule eine halbe Stunde bergan strampeln. Nun taucht einer der "Guides" auf, von denen es auf der Homepage heißt: "Ihre Bildung wird durch ihre Erfahrung ergänzt, um Ihnen auch komplexere Themen nahebringen zu können." Und es stimmt. Julien hat Geschichte studiert und sucht eine Referendariatsstelle, "am liebsten in der Stadt". Zur Freude der Jugendlichen verkündet er erst einmal: "Wir brauchen keine Helme, wir sind ja langsam unterwegs." Ich unterdrücke meine Bedenken. Viereinhalb Stunden soll die erste Runde dauern, eine Strecke von sechzehn Kilometern wird zu bewältigen sein. Zu meiner Verwunderung sind keine Klagen zu hören. Im Gegenteil, alle interessieren sich fürs Thema. Gewiss, die Mädchen sind aufmerksamer, die Jungen etwas weniger, so kenne ich es schon aus dem Konfirmandenunterricht.
Wenn wir eine Pause machen, um dem Fremdenführer Gelegenheit zu einem kurzen Vortrag zu geben, stehen wir dicht beisammen, wie Cowboys neben ihren Pferden, und lauschen. Das heißt: nicht immer alle. Die Jungs bleiben eher im Hintergrund, manche drehen eine kleine Entlastungsrunde, um nicht immer zuhören zu müssen. Ich lasse sie. Nur diejenigen, die während der Fahrt sich allzu gern zurückfallen lassen, verpflichte ich, immer gleich hinter Julien an der Spitze zu fahren. Julien macht mit, zeigt beim Losfahren nach einem Zwischenstopp auf die beiden und animiert sie, gleich mitzukommen. So werden die beiden zu gefühlten Tour-Operatoren, können - bis alle eintreffen - mit dem Guide diskutieren.
Erschreckend, wozu Menschen fähig sind
Unsere Variante der Mauertour führt von der Siegessäule und dem sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten zum Reichstagsgebäude, dann zum Brandenburger Tor, die Spree entlang zum Humboldthafen, weiter über den Invalidenfriedhof zum Wachturm der ehemaligen Führungsstelle "Kieler Eck". Im Zentrum der Radtour steht die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße im Bezirk Wedding. Als nächstes führt unser Weg am Mauerpark vorbei und an der Segenskirche im Quartier Prenzlauer Berg, über den Rosa-Luxemburg- und den Alexanderplatz. Riesig die Baustelle fürs Humboldtforum in Berlin Mitte, dort, wo einst das Stadtschloss stand und für Jahrzehnte der Palast der Republik. Via Checkpoint Charly und Potsdamer Platz, wieder zurück in den Tierpark und zu einem Halt bei der "Karl Liebknecht"-Gedenkstätte.
An Schulwissen kann Julien bei seiner Führung nicht anschließen: "Wir sind erst bei Napoleon", stellt ein Schüler der achten Klasse klar. Die Konfirmanden haben vom Mauerbau gehört, aber das Thema DDR nicht besonders vertieft.
Trotzdem: Keiner zweifelt an dem Sinn, die Spuren einer Mauer aufzusuchen, die jetzt Geschichte ist. "Es ist spannend und erschreckend, zu was Menschen fähig sind", bemerkt ein Fünfzehnjähriger.
Juliens Führung kommt gut an. Zwar macht er Frontalunterricht, aber er weiß so viel, dass er wie die Moderatoren bei der Dokumentarsendung "Terra X" oder dem Wissensmagazin "Galileo" - beides Fernsehformate - immer noch ein Detail anfügen kann. Beispiel: der Humboldthafen beim Hauptbahnhof. Hier erfahren wir die tragische Fluchtgeschichte von Günter Litfin, der am 24. August 1961 - nur wenige Tage nach Schließung der Mauer - erschossen wurde, als er die vielleicht zweihundert Meter durch den Hafen schwimmen wollte. Zuvor war er einer der vielen Grenzgänger gewesen, hatte als Schneidergeselle in der Nähe des Bahnhofs Zoo gearbeitet. Die Wohnung im Westen hatte er nicht angemeldet, weil er sonst zum Republikflüchtling geworden wäre und seine Mutter im Ostteil der Stadt nicht mehr hätte besuchen dürfen. Niemand ahnte damals, dass der Eiserne Vorhang hier dicht gemacht werden würde. "Wenn wir die Geschichte vergessen, holt sie uns ein", steht auf dem Gedenkstein für Günter Litfin.
Ich sinniere darüber, dass wir solche Worte wohl mit anderen Ohren hören, weil wir am historischen Ort stehen, da, wo die verschiedenen politischen Systeme sichtbar aufeinanderprallten.
Konzentrierte Stille danach
Juliens Erzählungen sind anschaulich. Und er versteht es, Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Er zeigt uns, warum man die Mauer unter Denkmalschutz stellen müsste: Inzwischen werden immer wieder Wohnhäuser in den ehemaligen Todesstreifen hineingebaut. Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg erklärt er den demographischen und gesellschaftlichen Wandel anschaulich anhand der Wortschöpfungen "pregnant hill" oder "Schwabylon" - hierhin, heißt das, ziehen viele junge und werdende Familien, oft aus den alten Bundesländern.
In der Gedenkstätte Berliner Mauer zaubert Julien laminierte Bilder aus seinem Rucksack hervor, auf denen geglückte Mauerfluchten zu sehen sind: Wie sich Leute hier an der Bernauer Straße aus Häusern abseilen oder in Sprungtücher der Feuerwehr springen. Diese Häuser gehörten noch auf die Ostseite, die Gehsteige davor lagen schon im Westen. Szenen aus den Tagen um den 12./13. August 1961, als Mauerfluchten noch möglich waren.
Manches wird nur flüchtig in Augenschein genommen. Es kommt nicht darauf an, alles touristisch erradelt zu haben, wichtiger ist, dass einzelne Punkte intensiv wahrgenommen werden. So betrachten wir die Siegessäule nur von außen und das sowjetische Ehrenmal von der anderen Straßenseite aus. Doch bei der Gedenkstätte Berliner Mauer legen wir einen Halt ein, bleiben zunächst im Hintergrund bei den rostigen Stahlstäben, die den einstigen Mauerverlauf anzeigen. Julien schickt uns auf den Aussichtsturm. Von dort oben haben wir eine gute Übersicht über die Sperranlage, sehen Vorder- und Hinterlandmauer, Kontrollstreifen und Wachturm, einst grausige und kaum überwindliche Hindernisse.
Julien kennt das alles. Er macht derweil Pause, bewacht die Fahrräder, redet mit denen, die etwas früher als verabredet zurückkommen.
Am Abend nach dem Essen: konzentrierte Stille und Zeit für den Tagebucheintrag. Meine Hoffnung ist, dass manches hängenbleibt.
Endlich Freiheit!
Zwei Monate später, als wir längst wieder zu Hause sind, berichtet ein Schüler: "Für mich war sehr eindrücklich, als Julien von dem Vierzehnjährigen erzählte, der im Mai 1962 durch den Fluss schwamm und von sieben Kugeln getroffen wurde, trotzdem aber überlebte. Oder wie wir dazu Zeitungsartikel betrachten konnten, die das Geschehene schilderten, aus der Ost- und aus der West-Perspektive." Da erst habe er begriffen, wie feindlich sich die Lager gegenübergestanden hätten.
Als wir nach den fünf Tagen in der Großstadt wieder zu Hause im Dorf ankamen, rief einer der Jugendlichen beim Ausstieg aus dem Postauto, das uns vom nächstgelegenen Bahnhof ins Dorf zurückfuhr: "Endlich Freiheit." Ich nahm es ihm nicht übel. Die Jugendlichen hatten mit dem Besuch der Reichstagskuppel, den Führungen im DDR-Museum und in der Topographie des Terrors einiges an Stehvermögen an den Tag legen müssen und mancherlei zum Nachdenken bekommen. Kein Wunder, dass sich der Junge freute, wieder zuhause zu sein. Aber natürlich lag noch etwas anderes in seinem spontanen Ausruf - eine ironische und entlastende Reaktion auf das, wovon ihm in Berlin eine Ahnung vermittelt worden war: Was es bedeutet, die Freiheit - für uns Schweizer schon fast ein allzu selbstverständliches Gut - zu entbehren, wie ermutigend es sein kann, zu erfahren, wie sich Menschen mit Mut und Zivilcourage aus den Klauen des Unrechtsregimes haben befreien können.
Christian König