Schätze aus Haderlumpen
Nur zwei Worte brauchte ein britischer Experte im Herbst 1996, um den Sensationsfund zu bestätigen, der bald darauf die Fachkreise in Aufruhr versetzte: "No doubt", kein Zweifel. Soeben hatte man die einzige vollständige Ausgabe der ersten gedruckten englischen Bibel entdeckt, die schon Shakespeare verwendete. Sie lag in der Württembergischen Landesbibliothek und war über Jahrhunderte hinweg unerkannt geblieben. Seither ist die Übersetzung des Neuen Testaments von William Tyndale aus dem Jahr 1526 wohl das wichtigste Buch von Stuttgart. Doch das wertvollste ist es keineswegs.
Umgeben von grünen Metallgittern erstreckt sich der Bereich der berühmten Bibelsammlung im zweiten Untergeschoss des Bibliotheksgebäudes. Die Luft ist achtzehn Grad kühl. Besucher haben hier keinen Zutritt. Mehr als einen Laufkilometer an Regalen füllen die fast zwanzigtausend Bände. Lediglich in London und Cambridge gibt es noch größere Bestände. Den Grundstein für diese einzigartige Kollektion legte einst der württembergische Herzog Karl Eugen (1728-1793), der ein notorischer Bücher- (und Frauen-)Narr war. Er unternahm regelrechte Bibliotheksreisen und kaufte europaweit antiquarisch ein. "Böse Zungen behaupten, dass er bei seinem Tod achttausend Bibeln und 250 uneheliche Kinder hinterließ", meint der jetzige Abteilungsleiter Christian Herrmann schmunzelnd.
Nur ausgewählten Besuchern öffnet Abteilungsleiter Christian Herrmann die Panzertür, hinter der die Bibeln lagern.
Das wahrscheinlich teuerste gedruckte Buch der Welt, eine "B 36".
Beim Gang durch die Regalreihen erzählt er, dass die Sammlung weiter wächst. Dies liegt vor allem an der langen Tradition der Bibelherstellung in dieser Gegend, die mit dem schwäbischen Luthertum und Pietismus begann und bis heute andauert. Ungefähr drei Viertel aller deutschsprachigen Ausgaben der Heiligen Schrift stammen aus Stuttgart, das sich selber die "Stadt der Bibel" nennt. Die ortsansässige Deutsche Bibelgesellschaft, die 2012 ihren zweihundertsten Geburtstag feierte, gibt neben unzähligen Übersetzungen nicht zuletzt jene Editionen des hebräischen und griechischen Originaltextes heraus, mit denen Wissenschaftler in aller Welt arbeiten. Auch das Katholische Bibelwerk hat sich am Neckar niedergelassen.
Das göttliche Wort in 640 Sprachen
Deshalb findet man das göttliche Wort in den Stuttgarter Katakomben in mehr als 640 Sprachen, seit kurzem auch auf Gälisch, wie Bibliothekar Herrmann stolz berichtet. Er hat den Neuzugang im Sommerurlaub von einem Kirchendiener auf der schottischen Insel Skye geschenkt bekommen.
Der Kunsthistoriker Berthold Kress arbeitet sich durch Bibeln des 16. Jahrhunderts.
Christian Herrmann mit den Kassetten der zweibändigen Gutenberg-Bibel.
Seine kostbarsten Schätze verbirgt Herrmann in einem mehrfach gesicherten klimatisierten Tresorraum, den er nur ausnahmsweise öffnet, wie jüngst, als ein Team der BBC die Tyndale-Bibel für eine TV-Dokumentation filmen wollte. Dort liegt auch ein Band aus den Anfangsjahren der Druckkunst, dessen bloßer Kurzname das Herz von Philologen höher schlagen lässt, eine "B 36". So lautet der Fachbegriff für eine 36-zeilige Bibel, die um 1461 in Bamberg entstand. Aufgrund ihrer Seltenheit ist sie wahrscheinlich das teuerste gedruckte Buch überhaupt. Der Versicherungswert beträgt fünfzehn Millionen Euro.
Restauratorin Enke Huhsmann bei der Arbeit.
Für den Fall, dass eines der Sammlungsstücke alterungs- oder benutzungsbedingt beschädigt ist, betreibt die Bibliothek eine eigene Restaurationswerkstatt im Erdgeschoss. Dort werden mit Zahnarztbesteck Wurmlöcher gefüllt, mit selbstgekochtem Weizenkleister Buchrücken geklebt, mit Pergamenten aus Schafs-, Ziegen- und Kalbsleder Seiten ausgebessert. Doch eigentlich, erklärt die Restauratorin Enke Huhsmann, sind die Bände von früher oft langlebiger als solche jüngeren Datums, da das Papier ehemals nicht aus säurehaltigem Holzstoff, sondern aus gebrauchten Textilien, mittelhochdeutsch "Hadern", hergestellt wurde. Ganze Scharen von Lumpensammlern waren dafür unterwegs.
Spuren der Vergangenheit
Kürzlich lag auf Huhsmanns Werkbank eine der neuesten Bibliothekserwerbungen, die sogenannte Prinzessinnenbibel von 1591. Eine Eigentümerliste auf der ersten Seite dokumentiert die spezielle Herkunft des Folianten, der einst von einer hiesigen Adelstochter an eine Schweizer Familie verkauft wurde. Die Spuren der Vergangenheit zeigen sich an dem abgeschabten Ledereinband, einer angebrochenen Deckelverbindung und Wasserschäden. Manchmal, erklärt Huhsmann, würde sie gerne mehr wissen über die Objekte, die durch ihre Hände gehen. "Leider bleibt meist gar keine Zeit, um sich mit den Kollegen über den Hintergrund der Bücher auszutauschen."
Das Neue Testament von William Tyndale.
Der Slowene Primus Trubar.
Ein kroatisches Neues Testament, geschrieben im ersten slawischen Alphabet, aus einer schwäbischen Druckerei.
Dass Bibeln oft mehr als nur biblische Geschichten erzählen, bestätigt die Theologin Sonja Beckmayer. Die Doktorandin aus der Gutenberg-Stadt Mainz, wo die Drucktechnik erfunden wurde, untersucht den alltäglichen Bibelgebrauch in der evangelischen Kirche und hat zuletzt ausgiebig in Stuttgart geforscht. Sie fand dabei Kinderzeichnungen, Todesanzeigen, Fotos, Postkarten und gepresste Blüten zwischen den Buchdeckeln, neben handschriftlichen Eintragungen und Markierungen, ja sogar Korrekturen des Textes. "Die Bibel scheint so etwas wie eine Speicherfunktion zu haben", schließt sie daraus.
Die historischen Markenzeichen der Privilegierten Württembergischen Bibelanstalt, der ersten deutschen Bibelgesellschaft.
Allerdings gab es auch Zeiten, in denen die Herkunft mancher Heiligen Schrift bewusst verschleiert wurde, gerade wenn es sich um eine jener landessprachlichen Fassungen handelte, welche vielerorts die Reformatoren anfertigten. Sammlungsleiter Herrmann erläutert, wie einige dieser Ausgaben, die anfangs kirchlich verboten waren, zur Tarnung ein falsches oder gar kein Titelblatt trugen. Inzwischen kann man bisweilen anhand von Illustrationen oder ähnlichem nachvollziehen, wer die Urheber waren.
Dies gelang bereits zwei Mal dem Londoner Kunsthistoriker Berthold Kress, der regelmäßig in die Württembergische Landesbibliothek kommt. Er erstellt einen Katalog biblischer Holzschnitte aus dem 16. Jahrhundert. Bei seiner Arbeit fiel Kress auf, wie die Bildsprache der von ihm erfassten Werke schon früh die Konfessionsgrenzen überwand: "Oft kehren die gleichen Motive in lutherischen, katholischen und reformierten Bibeln wieder."
Die Hinrichtung Tyndales.
Weniger Glück hatte William Tyndale. Er wurde verbrannt. Indes fanden seine letzten Worte Erhörung: "Herr, öffne die Augen des Königs von England!" Mittlerweile ist die 1611 erschienene King-James-Bibel, die zu achtzig Prozent auf Tyndales Version beruht, wohl das meistgedruckte Buch der Welt.
Frauenheld und Bibelsammler Herzog Karl Eugen von Württemberg.
Das Titelblatt der Prinzessinenbibel.
Fabian Kramer