"Pfad der Zerstörung"
Vor mehr als dreißig Jahren räumte der Evangelist Billy Graham ein, er habe wohl manchmal das „Reich Gottes mit dem amerikanischen Lebensstil verwechselt“, und das sei ein Fehler gewesen: Denn „Gott ist nicht dasselbe wie Amerika“. Noch heute haben US-Evangelikale gelegentlich Probleme, Politik und die Verkündigung des Evangeliums zu unterscheiden. Offenbar sind weltlicher Einfluss und die Präsenz auf den Bildschirmen zu verlockend, selbst wenn man sich dabei ganz schön vertun kann.
Nach der Wiederwahl von Präsident Barack Obama müssten sich die Evangelikalen neu positionieren. Dies geschieht auch, ist aber gar nicht so einfach zu bewerkstelligen.
Der Christlichen Rechten, eine auf die Siebzigerjahre zurückgehenden evangelikalen Bewegung, die sich der Verteidigung vermeintlich traditioneller Werte verschrieben hat, ist schon oft das Ende prophezeit worden. Das begann bereits mit der Auflösung der „Moralischen Mehrheit“ des Predigers Jerry Falwell und der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur seines Kollegen Pat Robertson Ende der Achtzigerjahre. Doch nun sieht es für die US-Evangelikalen wirklich schlecht aus. Der alten Führungsriege fehlen neue Ideen, und junge Evangelikale haben offenbar nicht mehr so viel Lust auf Kulturkampf. Es gebe immer mehr Evangelikale, die sich vom konservativen Spektrum entfernten, stellt die New Yorker Universitätsprofessorin Marcia Pally fest, eine der Religionsexpertinnen und -experten, die sich mit den Veränderungen befassen.
Schlafender Gigant
Die Christliche Rechte war der Versuch, aus einer Bevölkerungsschicht, die eine konservative soziale und religiöse Einstellung verband, eine politische Bewegung zu schaffen. Gründer Falwell nannte seine 1979 ins Leben gerufene „Moralische Mehrheit“ ein „Experiment“. Der Prediger, der in den Sechzigerjahren noch verkündet hatte, „Pastoren sind nicht dazu berufen, Politiker zu sein, sondern Gewinner von Seelen“, kam in den Siebzigerjahren zu dem Schluss, in den USA existiere eine christliche Mehrheit, die bei der Modernisierung der Gesellschaft unter die Räder zu kommen drohe. In den landwirtschaftlich geprägten Südstaaten, dem so genannten Bibelgürtel, wo auch Falwell lebte, hielt die Industrialisierung Einzug, und mit wachsendem Wohlstand wünschten sich die Bürger dort auch mehr politische Macht.
Die Strategen der Republikanischen Partei erkannten rasch, dass Millionen evangelikaler Christen, die sich aus der weltlichen, vermeintlich sündhaften Politik herausgehalten hatten, ein „schlafender Gigant“ waren. Politiker von Ronald Reagan bis George W. Bush machten sich eine Rhetorik zu eigen, die gegen eine die Gesellschaft gefährdende sexuelle Unmoral, Abtreibung, Homosexualität und Pornografie antrat. So wurden die weißen Evangelikalen zum verlässlichsten Wählerreservoir. Wer wohl wen ausnutzte? Während Evangelikale ihre Institutionen aufbauten und in der Republikanischen Partei lautstark präsent waren, hielt sich das Engagement führender Republikaner für die „christlichen Themen“ eher in Grenzen, zumal sich die Gesellschaft in Richtung mehr Freizügigkeit bewegte. Heute befürwortet mehr als die Hälfte der Amerikaner die gesetzliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, und im Kongress sitzen sieben offen lebende Schwule und Lesben.
Aus konservativer Sicht war die Wahl im November 2012 eine Katastrophe. Sie habe die usa auf einem „Pfad der Zerstörung“ geschickt, klagt Franklin Graham, Sohn des 94-jährigen Billy Graham und dessen Nachfolger als Chef der „Billy-Graham-Evangelisations-Vereinigung“. Und Robert Jeffress, Pastor einer Megakirche, der First Baptist Church in Dallas erklärte, Präsident Obama eröffne dem „Antichrist“ Tür und Tor.
Ende der Vorherrschaft
Die seit der Gründung der USA bestehende politische Vorherrschaft weißer Christen ist zu Ende gegangen. So wurde Obama mithilfe einer Koalition aus Minderheiten und nicht kirchlich gebundenen Bürgerinnen und Bürgern gewählt. 79 Prozent derer, die den Republikaner Mitt Romney wählten, waren dagegen weiße Christen, davon die Hälfte Evangelikale.
Albert Mohler, Rektor der Theologischen Hochschule der Südlichen Baptisten, die die Pastoren der größten und sehr konservativen evangelischen Kirche der USA ausbildet, räumte ein, das Problem sei nicht gewesen, „dass unsere Botschaften gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe nicht an die Öffentlichkeit gelangt sind“, sondern dass sich vielmehr „die gesamte moralische Landschaft verändert“ habe. „Das zunehmend säkulare Amerika versteht zwar unsere Positionen, aber es lehnt sie ab.“
Wahlkampf machten Republikaner und Tea-Party aber nicht allein mit moralischen Fragen, sondern mit dem Kampf gegen „Big Government“, höhere Steuern, Sozialprogramme, Klimaschutz und strengere Waffengesetze.
Führende evangelikal geprägte Verbände, wie der Family Research Council, die American Family Association, die Faith and Freedom Coalition und American Values unterstützten die Kampagne gegen eine starke amerikanische Bundesregierung.
Auch schwarze Protestanten
Spricht man in den Vereinigten Staaten im politischen Kontext von „den Evangelikalen“, meint man freilich nur die weißen. Dabei sind auch die meisten schwarzen Protestanten dem evangelikalen Spektrum zuzurechnen. Allerdings bewegen sie sich politisch und gesellschaftlich in eine ganz andere Richtung. Zwar lehnen auch afroamerikanische Evangelikale Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen weitgehend ab, aber sie sind Fürsprecher der Marginalisierten, kämpfen für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus. Unter Schwarzen ist die Armutsrate etwa dreimal so hoch wie die unter Weißen. Und Afro-Amerikaner wissen aus der modernen Geschichte der USA und ihrer eigenen Erfahrung: Ohne „Big Government“, einer starken Bundesregierung in Washington, wären die Bürgerrechts-und Antidiskriminierungsgesetze nie Wirklichkeit geworden.
Insbesondere hängen den konservativen Evangelikalen ihre Ursprünge samt Schwerpunkt im Süden der USA nach: Die Christliche Rechte entstand auch als weiße, gegen die Rassenintegration gerichtete Bewegung, und viele evangelikale Schulen öffneten ihre Türen den Schwarzen erst in den Sechzigerjahren, als die staatlichen Schulen integriert wurden. Und der politische Bundesgenosse der weißen Evangelikalen ist die republikanische Partei, deren Mitglieder zu rund 90 Prozent weiß sind.
Die Republikaner zeichnen sich überdies durch eine einwanderungsfeindliche Politik aus, wobei Einwanderer aus Lateinamerika, mit und ohne Papiere, doch die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe der usa stellen. Jetzt scheint eine Liberalisierung des Einwanderungsrechts, die von führenden Vertretern evangelikaler Verbände unterstützt wird, doch möglich.
In ihrem Buch The New Evangelicals zeigt Professorin Pally, dass soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz von evangelikalen Kirchen zunehmend aufgegriffen werden. Außerdem stünden junge Evangelikale der gleichgeschlechtlichen Ehe toleranter gegenüber und befürworteten eher Regierungsprogramme gegen Armut wie auch Obamas Gesundheitsreform.
Der Moderne anpassen
Doch wie tief die Veränderungen im evangelikalen Lager reichen, ist schwer auszumachen. Besonders schwer haben es die konservativen Evangelikalen wohl mit jungen Frauen. Die landesweit bekannten Sprecher der Evangelikalen sind überwiegend Männer, die noch an gesellschaftlichen Modellen festhalten, die vielen Frauen als nicht mehr zeitgemäß erscheinen, besonders dann, wenn konservative christliche Gruppen auch noch gerichtlich sicherstellen wollen, dass Arbeitgeber bei ihren Belegschaften Krankenversicherungsleistungen für die Pille aus „Gewissensgründen“ ausschließen dürfen.
Der Kulturkampf um moralische Werte wird sicher nicht aufhören, noch wird die Christliche Rechte verschwinden, denn ihre Organisationen und Medien sind zu mächtig, und nach wie vor fühlen sich viele Millionen Amerikaner durch den konservativen Evangelikalismus repräsentiert. Manche Kirchen und Verbände dürften sich aber von nun an bemühen, ihre Botschaft der Moderne anzupassen, auch wenn dies manchen Evangelikalen noch immer unvorstellbar scheint. Ohnehin ist eine gewisse Modernisierungstendenz schon seit langem zu verzeichnen. Noch ein paar Jahrzehnte zuvor galt die Ehescheidung unter Evangelikalen als unannehmbar. Heute gehört sie zum Alltag.
So bizarr es vielen Konservativen auch erscheinen mag, dass Präsident Obama noch einmal regiert, es beflügelt doch viele, die am Alten festhalten wollen, denn nichts motiviert schließlich so sehr wie ein starker Gegner.
Konrad Ege
Konrad Ege
Konrad Ege ist freier Journalist und lebt in den USA. Er berichtet unter anderem für den Evangelischen Pressedienst (epd).