London, Schwaben, Kamerun

In den vergangenen zweihundert Jahren ist Stuttgart zur Bibelhauptstadt aufgestiegen
Die Gründer der Württembergischen Bibelanstalt. Foto: epd
Die Gründer der Württembergischen Bibelanstalt. Foto: epd
Die Initiative zur Gründung eines Verlagshauses für Bibeln ging vor zweihundert Jahren nicht von der Amtskirche aus, sondern von Bürgern. Wie eine Stuttgarter Bürgerinitiative die evangelische Kirche Deutschlands geprägt und weltweit Bedeutung gewonnen hat, schildert Hermann Ehmer, Altdirektor des Archivs der württembergischen Landeskirche.

Am Stuttgarter Marktplatz, im Hause des Kaufmanns Tobias Heinrich Lotter, traf sich am 11. September 1812 eine Gruppe, um eine Gesellschaft zur Verbreitung der Bibel im Königreich Württemberg zu gründen. Die Anregung dazu war von außen gekommen, aus London, von der British and Foreign Bible Society. Bei deren Gründung 1804 war Friedrich Adolf Steinkopf beteiligt. Der gebürtige Ludwigsburger hatte ab 1801 in der britischen Hauptstadt als Pfarrer an der deutschen lutherischen Savoy-Kirche gewirkt. Und er wurde zum ehrenamtlichen Auslandssekretär der Londoner Bibelgesellschaft gewählt. Seine erste Reise führte ihn von Juni bis Dezember 1812 auf den Kontinent. In Stuttgart machte er sich zunächst über die Lage in seiner alten Heimat kundig und führte Gespräche mit einflussreichen Persönlichkeiten. Und diese stimmten dann am 11. September 1812 einmütig Steinkopfs Plan zur Gründung einer Bibelanstalt für Württemberg zu.

Zu den Gründern gehörten einige Stuttgarter Geistliche, etliche Beamte und eine Anzahl Handels- und Gewerbetreibender. Zu den fünfzehn Männern gehörten Pietisten wie der Minister Graf Seckendorff und Diakonus Christian Adam Dann. Alle Gründer der Bibelanstalt waren mehr oder weniger mit der 1780 gegründeten Basler Christentumsgesellschaft verbunden, die sich die Förderung des praktischen Christentums zur Aufgabe gemacht und dafür ein europäisches Netzwerk aufgebaut hatte. Und viele Gründer hatten auch Beziehungen zur Herrnhuter Brüdergemeine.

Eine Volksbibel

Der in der ersten Sitzung von Steinkopf formulierte Zweck der Bibelanstalt war "die Verbreitung der Bibel unter den ärmeren Volksklassen im evangelischen Württemberg". Die Bibel sollte in der Übersetzung Martin Luthers - ohne irgendwelche Zusätze, allenfalls mit Angabe von Parallelstellen - hergestellt und verbreitet werden. Dies entsprach den Grundsätzen der Londoner Bibelgesellschaft. Fürs erste sollte eine Auflage von zehntausend Exemplaren hergestellt werden, um sie zu verschenken oder zu einem ermäßigten Preis abzugeben.

Die Kosten waren durch jährliche Beiträge, freiwillige Gaben und Erlöse für verkaufte Bibeln zu bestreiten. Und als Startkapital wurden von London zweihundert Pfund sowie dreihundert Bibeln und fünfzig Neue Testamente zur Verfügung gestellt. So weit war nun alles in Gang gebracht, und Steinkopf schrieb nach London: "I have no hesitation in saying, that, should God incline the heart of the King to patronise the plan, the Würtemberg Bible Society will become a most active and useful one.” In der Tat genehmigte König Friedrich durch Erlaß vom 1. Dezember 1812 die Gründung der Bibelanstalt. Und am 10. Juli 1813 wurde ihr Portofreiheit gewährt, unter der Voraussetzung, dass die Sendungen mit dem Stempelaufdruck "Privilegirte Bibel Anstalt in Stuttgart" versehen waren. Die Bezeichnung "privilegiert", die die Bibelanstalt bis ins 20. Jahrhundert in ihrem Namen führte und die sich in vielen Lutherbibeln findet, bezieht sich also auf die Portofreiheit, die aber 1882 wegfiel.

Sofort wurde mit den Arbeiten zur Herausgabe einer Volksbibel begonnen. Bis 1815/16 stellte die Tübinger Druckerei Hopfer zehntausend Bibeln und zweitausend Neue Testamente her. Erkundigungen über den Bedarf an Bibeln im Land ließen aber erkennen, dass dies noch lange nicht hinreichte. So wurde noch bevor die erste Ausgabe hergestellt worden war, eine zweite, größere beschlossen.

Moderne Öffentlichkeitsarbeit

Nach dem Vorschlag, den Karl Hildebrand von Canstein schon 1710 gemacht hatte, entschloss man sich nun zum "stehenden Satz" überzugehen, so dass die gesetzten Bogen für die ganze Bibel stehen blieben. Dies erforderte aber eine erhebliche Investition, weil man so viele Lettern brauchte, wie die Bibel Buchstaben und Satzzeichen hatte. Andererseits sparte man künftig den Setzerlohn und musste allenfalls Fehler verbessern. Auf diese Weise konnte jederzeit ohne große Umstände nachgedruckt werden.

Als man 1817 in Stuttgart die dritte Jahrhundertfeier der Reformation als Bibelfest beging, trat die Privilegierte Bibelanstalt im Königreich Württemberg an eine größere Öffentlichkeit. Dafür waren siebentausend Exemplare des Neuen Testaments hergestellt worden, die im ganzen Land verteilt wurden. In den Stuttgarter Kirchen wurden nach der Predigt Bibeln am Altar vor allem armen Schulkindern überreicht. Das zweite Bibelfest fand 1819 statt. Und so begann die Bibelanstalt eine ununterbrochene Reihe von Jahresfesten. Damit wurde eine Form der Öffentlichkeitsarbeit übernommen, die auch andere christliche Unternehmungen damals pflegten, die auf laufende Unterstützung angewiesen waren. So begingen die Basler Mission und diakonische Einrichtungen wie die "Rettungshäuser" Jahresfeste als Feste für die Unterstützer. Sie dienten der Erbauung, der Erstattung von Rechenschaftsberichten und als Werbeveranstaltung.

Das Bibelhaus

Seit 1821 wurden "Jahresberichte" herausgegeben, die die Tätigkeit der Bibelanstalt dokumentierten, die Jahresrechnung enthielten und den Nachweis über die in die verschiedenen Bezirken des Landes abgegebenen Bibeln und Neuen Testamente. Und hinzu traten Berichte aus dem In- und Ausland. Bemerkenswert ist bei den Bibelfesten dieser Jahre die weltweite, ökumenische Sicht, die aus dem jeweils vorgetragenen Jahresbericht spricht. Es wurde nicht nur von der württembergischen Bibelanstalt berichtet, sondern auch über die Tätigkeit der anderen Bibelgesellschaften Europas. Besonders eindrucksvoll muss gewesen sein, wenn Steinkopf aus London zu Besuch kam und von der Tätigkeit der Londoner Bibelgesellschaft berichtete, die bis in entfernteste Weltgegenden reichte. Für den aufmerksamen Zuhörer wuchs so das Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen, die sich weltweit für die Bibelsache einsetzten. Und jeder konnte sich so als Glied einer internationalen Bewegung sehen.

Der Bedarf eigener Räumlichkeiten für die Druckerei und zur Aufbewahrung des Bibel- und Papiervorrats hatte sich schon lange gezeigt. 1831 konnte man in der Stuttgarter Innenstadt endlich einen Bauplatz kaufen. Mit dem Bau wurde sofort begonnen, und am 12. September 1831 konnte das Bibelhaus eingeweiht werden. Das später vielfältig erweiterte Gebäude sollte für eineinhalb Jahrhunderte die Heimstätte der Bibelanstalt sein.

Schon von Anfang an hatte man sich über neue Wege der Bibelverbreitung Gedanken gemacht. Dazu gehörte die Überreichung von Bibeln oder Neuen Testamenten an Konfirmanden und an Brautpaare. Freilich brauchte es Jahrzehnte, bis sich dies durchsetzte und in der evangelischen Kirche Deutschlands zu einem nicht mehr wegzudenkenden Brauch wurde. Endgültig fand die Traubibel ihren festen Platz in den Wohnungen, als man ihr eine "Familienchronik" beiband, die Raum zum Eintragen familiärer Ereignisse bot. Zu den Zielgruppen, die durch die Bibelanstalt Bibeln oder Neue Testamente erhielten, gehörten nicht nur die "Rettungsanstalten" im Land, sondern auch Kasernen, Krankenhäuser, Gefängnisse und Gasthöfe mit Fremdenzimmern. Ferner gehörten dazu die ausländischen Arbeiter, die zum Bau der Eisenbahn nach Württemberg gekommen waren, und die Bahnwärter, die wegen ihrer abseits gelegenen Häuschen und ihres Dienstes oft nicht den Gottesdienst besuchen konnten.

Bibeln für die Kolonien

Die Stuttgarter Bibelanstalt war ursprünglich ausschließlich für Württemberg bestimmt. Erst nach Neufassung der Statuten 1863 durfte sie sich den Deutschen in aller Welt widmen. Die Statutenänderung kam auch den Blinden zugute, denen ab 1863 die ganze Bibel in Blindenschrift - ab 1886 in Braille - geboten wurde. Die Württembergische Bibelanstalt übernahm diese Aufgabe schließlich für den gesamten deutschen Sprachraum.

Im Laufe der Zeit wurde klar, dass man nicht nur Bibeln anbieten musste, sondern auch Hilfen zum Lesen derselben. 1893 brachte die Bibelanstalt einen eigenen Bibelleseplan heraus, der den Bibeltext auf zwei Jahre verteilte und für jeden Tag als Morgen- und Abendandacht einen Abschnitt mit einem Gesangbuchlied darbot. Weitere Hilfen waren Karten und Bilder aus dem Heiligen Land. Die Bemühungen um das Verständnis des Bibeltextes fanden einen ersten Höhepunkt in der "Stuttgarter Jubiläumsbibel", die 1912 zum hundertjährigen Jubiläum der Bibelanstalt erschien, eine Bibelausgabe des Luthertextes mit einer allgemeinverständlichen Erklärung.

Stets stellte sich auch die Frage einer Angleichung des Textes der Lutherbibel an den Sprachgebrauch der jeweiligen Zeit. 1844/54 und 1866 nahm die Bibelanstalt Revisionen vor. Und danach beteiligte man sich an der unter der Federführung der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz 1892 abgeschlossenen Revision der Lutherbibel. In der Kolonialzeit sah man sich vor die Aufgabe gestellt, auch den Bewohnern der deutschen Kolonien die Bibel in ihrer Sprache zu bieten. Als erster Druck entstand 1896 ein Teil des Neuen Testaments in der in Kamerun gesprochenen Duala-Sprache. Bis heute druckt und verlegt die Bibelgesellschaft Bibeltexte in Sprachen der jungen Kirchen.

Griechisch und Hebräisch

Noch mehr galten die Bemühungen der Bibelanstalt dem Bibeltext in den Ursprachen. 1898 erschien eine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, bearbeitet durch den württembergischen Theologen Eberhard Nestle. Sein Novum Testamentum Graece setzte sich schnell und weltweit als die maßgebliche wissenschaftliche Textausgabe durch. Seit 1993 liegt die 27. Ausgabe von Nestle-Aland vor, die schon Studierende der Theologie kennenlernen und benutzen.

1921 wurden von der Bibelanstalt die Rechte an der von Rudolf Kittel herausgegebenen hebräischen Bibel erworben. Seine Biblia Hebraica erscheint daher seit 1925 in Stuttgart, heute als Biblia Hebraica Stuttgartensia im Verlag der Deutschen Bibelgesellschaft.Die stetige Entwicklung der württembergischen Bibelanstalt wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Er brachte neue Aufgaben mit sich, vor allem die Versorgung der Soldaten und Kriegsgefangenen mit Bibeln und Bibelteilen. Nach Kriegsende häuften sich die Schwierigkeiten, vor allem durch die Inflation 1923, die die Bibelanstalt vor die Existenzfrage stellte. Nach der Besserung der Verhältnisse kamen durch die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise wiederum schwere Zeiten auf die Bibelanstalt zu. Und nach 1933 spürte die Bibelanstalt die wachsende Feindschaft des NS-Regimes gegen Christentum und Kirche, die vor allem das Eintreten für das Alte Testament notwendig machte.

Auch im Zweiten Weltkrieg war es das Bestreben der Bibelanstalt, für die Bedürfnisse der Soldaten zu sorgen. So rettete im "totalen Krieg" die Anerkennung ihrer kriegswichtigen Bedeutung die Arbeit der Bibelanstalt. Doch 1944 wurde das Bibelhaus bei Luftangriffen auf Stuttgart so schwer getroffen, dass eine Weiterarbeit nur in erheblich vermindertem Umfang möglich war.

Der Wiederaufbau

Nach 1945 beginnt die Zeit des Wiederaufbaus, die 1962 mit dem hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Württembergischen Bibelanstalt als abgeschlossen betrachtet werden konnte. Die Folgezeit war gekennzeichnet durch zahlreiche neue Bibelausgaben, wie "Die Gute Nachricht für Sie". Es kam aber auch zu eingreifenden Veränderungen der alten Strukturen. Dazu gehört der weltweite Zusammenschluss der Bibelgesellschaften und die Gründung der Deutschen Bibelgesellschaft 1981, die ihren Sitz in Stuttgart nahm. Die Württembergische Bibelanstalt ging in ihr auf.

Die allgemeine Entwicklung auf dem Buch- und Verlagssektor, verbunden mit dem technischen Wandel im graphischen Gewerbe, machte noch weitere Strukturänderungen notwendig. Nach dem glücklichen Abschluss kann am 11. September in Stuttgart das zweihundertjährige Jubiläum der Gründung der Württembergischen Bibelanstalt im Verbund der Deutschen Bibelgesellschaft begangen werden.

Hermann Ehmer

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