Lahme, die nicht gehen wollen

Warum hat Jesus den Bartimäus schon als Blinden, also vor seiner Heilung, berufen?
Beim Blindenfestival in Berlin im Juni 2012 lässt sich Hannah Reuter, eine von Geburt an blinde Sprachwissenschaftlerin, beim Schminkkurs für Blinde Make-up auflegen. Foto: epd/Rolf Zöllner
Beim Blindenfestival in Berlin im Juni 2012 lässt sich Hannah Reuter, eine von Geburt an blinde Sprachwissenschaftlerin, beim Schminkkurs für Blinde Make-up auflegen. Foto: epd/Rolf Zöllner
Haben wir nicht allen Grund, das, was aus den Wundererzählungen des Neuen Testamentes an theologischen Aussagen hinsichtlich des Blicks auf Behinderte tradiert wird, kritisch zu überprüfen? Für Susanne Krahe als seit vielen Jahren erblindete Theologin ist dies eine existentielle Frage.

Manchmal habe ich Lust, mir eine biblische Szene ganz neu vorzustellen: Jesus von Nazareth will einem gehunfähigen Menschen auf die Beine helfen, erhält aber eine Abfuhr. Das Publikum hält den Atem an. "Nein danke", wehrt mein imaginierter Gelähmter sich gegen die Heilung. "Ich möchte lieber nicht auf meinen eigenen Füßen stehen. Ich werde viel lieber getragen." Erstaunte Sprachlosigkeit. Kopfschütteln.

Ich gebe zu: In der Bibel wird nirgends davon berichtet, dass die Objekte der göttlichen Machterweise sich zu Subjekten mausern, um sich dem Kraftfeld heilender Energie freiwillig zu entziehen. Warum sollten sie das auch tun? Meine behinderte Gegenfigur erklärt ihrem Publikum: Er sei doch an die Bewegungseinschränkungen gewöhnt, er fürchte sich geradezu vor einer Ausdehnung seines übersichtlichen Wirkungskreises, ja, er habe sogar gelernt, seine Inaktivität als Übung jener Muße zu nutzen, die er für seine kühnen Denkbewegungen brauche. Außerdem sichere ihm die Lähmung stetige Zuwendung. Im kuscheligen Zentrum der Aufmerksamkeit seiner Umgebung fühle er sich geborgen. Wie solle er, der von Beruf Kranke, sich in Zukunft das tägliche Brot verschaffen, wo einem Mann mit gesunden Armen und Beinen weder das Recht auf Almosen zugebilligt werde noch auf Mitleid oder Schonung?

Ich hoffe, die fiktive Erklärung meines fiktiven Gelähmten klingt nicht zynisch. Was dieser Behinderte zum Ausdruck bringt, ist die Erfahrung, dass vermeintliche Katastrophen durchaus auch positive Potenziale mitbringen, eine Erfahrung, die mein eigenes Leben nach meiner Erblindung immer wieder bereichert hat. Doch werden nicht nur fundamentalistisch denkende Theologen und Theologinnen gegen meine Verdrehung eines Kernstücks der biblischen Botschaft protestieren. Dem Messias und seinem göttlichen Auftrag dermaßen an die Karre zu fahren - bedeutet das nicht, das Angebot christlicher Hoffnung um mehrere Dimensionen zu schmälern?

Geduld statt Wunder

Kritik am Wunderglauben ist keine neuzeitliche Erfindung, wie die wunderkritischen Tendenzen der Evangelisten Markus, Matthäus und Johannes bezeugen. Schon diese Chronisten waren Nachgeborene der (Wunder-)vollen Zeit Jesu und der Apostel. Als solche sahen sie sich den desillusionierten Erfahrungen ihrer Leserinnen ausgesetzt und mussten überstiegene Erwartungen dämpfen, theologische Irrtümer korrigieren. Wo immer die Zeit sich in die Länge streckt, statt im Hier und Jetzt eines Wunders zu kulminieren, sind Geduld und Durchhaltevermögen angesagt. Sie sind als Überlebensstrategien nicht erst angesichts moderner medizinischer Wunderwaffen wirkungsvoller als Enthusiasmus oder die Provokation eines Gottesbeweises.

Die moderne Aufklärung hat das Problem eher verschoben statt verschärft. Nur in unserem, nicht aber im antiken Weltbild kollidiert das, was die Bibel "Wunder" nennt, mit einer neuen Erfahrung von Krankheit und Heilung. Was genau wäre eigentlich für heutige Leser noch glaubwürdig, ohne einen Abschied von der intellektuellen Redlichkeit einzuschließen?

Als Berufstheologin habe ich schon im Proseminar gelernt, worum es in solchen Zaubergeschichten eigentlich geht: Keinesfalls geht es um Zauberei! Die Schlüsselbegriffe "Eschatologie" und "Christologie" dienten und dienen dazu, den Histörchen einen Horizont zu erschließen, der weit hinter dem Weltbild der Überlieferer endet, aber ebenso weit hinter den bruta facta. Erst die christologische Brille ermöglicht einen Tiefblick, der in Jesus nicht den Wundermann erkennt, der er nicht sein möchte, sondern den Messias und Gottessohn, die politische und soziale Hoffnung Israels seit uralten Zeiten. Die Überlieferer wollten von besonderen Erfahrungen in besonderen Zeiten erzählen, als Gottes Möglichkeiten schlagartig Wirklichkeit wurden. Deshalb machten sie sich auch gar keine Gedanken um die Zukunft wundersam Geheilter, um mögliche Folgeschäden einer Heilung.

Wie Laub von der Bühne gefegt

Von postmirakulösen Traumata oder vergeblichen Heilungsversuchen Jesu weiß die Bibel nichts. Immer wieder, immer neu sollen die Hörerinnen und Leser demonstriert bekommen, was eine eschatologische Harke ist. Sie fegt alle körperlichen und psychischen Störungen wie Laub von der Bühne. Jubeln und Gott preisen soll das Publikum. Dass die Begeisterung vielleicht auf Kosten der "Geheilten" geschieht, stört kaum einen Zuhörer. Doch zu bedenken bleibt: Das Wunder hat alle Beteiligten von der Herausforderung erlöst, einen unpassenden Menschen in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Ein Geheilter passt besser ins Bild, wenn er nicht gar umgehend von der Bildfläche verschwindet. Von den Bewährungsproben, die die geheilten Menschen von jenem Ausnahmeereignis an in ihrem Alltagsleben noch zu bestehen hatten, ist in den Erzählungen von Wunderheilungen nicht die Rede.

Natürlich weiß ich, dass diese Erzählungen nicht beabsichtigen, Behinderte zu kränken oder gar zu beleidigen. Zweifellos wollen sie Hoffnung machen und ermutigen, wo es im schnöden Weltbetrieb wenig Hoffnung und viel Resignation gibt. Sie sagen Ausgestoßenen, Beschädigten und Hoffnungslosen, dass sie anders und mehr sind als das Gebrechen, auf das die Welt sie reduziert. Und dennoch empfinde ich ein Unbehagen. Die christologischen, eschatologischen, pädagogischen oder therapeutischen Hintergedanken, die mit diesen Geschichten transportiert werden, stören mich. Birgt die Einengung des Hoffnungshorizonts auf die Behebung, ja, die Abschaffung körperlicher und psychischer Defizite nicht auch Gefahren? Kann das "Ich möchte lieber nicht!" meines antiken Bartelby nicht auch mit theologischen Argumenten begründet werden?

Hoffnungen auf bessere Zeiten setzen voraus, dass die Gegenwart als Plage empfunden wird. Mir scheint, dass Lahme, Blinde, Gehörlose und Verrückte zu Symptomen einer fehlerhaften Schöpfung umfunktioniert werden, die wegen ihrer Unvollkommenheit der eschatologischen Wende bedarf. Die Heilung der Kranken ist eine Folie, auf der sich Gottes Herrschaft zu allererst ausbreitet. Muss sich dieses versöhnende erlösende Gotteshandeln nicht den Verdacht gefallen lassen, dass es mit der Reue des Schöpfers für seine Unachtsamkeiten gepaart ist? Entschuldigt sich Gott bei den Missratenen - "beim nächsten Versuch wird alles besser"?

Die meisten Menschen mit Behinderungen erfahren von Kindheit an, dass ihr Sosein den Maßstäben selbst der eigenen Eltern nicht genügt: Sie sind eine Enttäuschung. Sie sind nur akzeptabel, wenn sie ihre Schäden in eine therapeutische Werkstatt geben - was ihr Leben keineswegs einfacher, sondern stressiger macht, was ihre Identitätsbildung und Selbstannahme oft genug verhindert. Wenn solche Sozialisationsschäden vernarben und das defizitäre Selbstbild sich zum Positiven wandelt, wollen die Beschädigten sich aber keineswegs als hässlich, als unbrauchbar, missgestaltet oder unfertig betrachten. Sie haben erlebt, dass der verkrümmte Körper nur schmerzhafter wird, wenn man ihn gewaltsam gerade biegt. Wie mancher gehörlose Mensch sich auf die Sichtbarkeit der Welt konzentriert, habe ich mich als Blinde auf ihre Hörbarkeit ausgerichtet, statt meine Energie an medizinische Experimente zu verschwenden, die eine Heilung versprechen.

Vor allem aber wissen auch beschädigte Existenzen sich von Gott gebraucht und geliebt in ihrem Sosein, gerade als mangelhafte Geschöpfe. Wir haben unsere eigene Würde. Das, was den Heilen als Mangel erscheint, gehört zu unserem Selbstentwurf, und dieser Selbstentwurf beruft sich auf den vor Gott und von Gott gerechtfertigten Menschen.

Ideale Lösung?

Der Weg zu solchem Selbstbewusstsein ist lang und steinig. Statt die Kranken und Behinderten auf dieser Straße zu begleiten, statt den Blinden die Stolpersteine anzusagen und die Lahmen auf seinen Armen zu tragen, statt den Hässlichen, Buckligen mit göttlicher Zärtlichkeit die schmerzenden Knochen zu massieren, serviert der Heiler Jesus ihnen Gesundheit auf einem Tablett. In antiken Zeiten war das womöglich die ideale Lösung. Aber ist sie es heute immer noch? Damals gab es keinerlei Hilfsmittel, auch kein Bestreben nach Inklusion. Was blieb da anderes als ein Wunder? Die Frage muss erlaubt sein, ob es nicht sogar eigentlich ein Verdienst christlichen Umdenkens ist, dass Gott sein offizielles "Okay" auch Unheilbaren gewährt. Dieses Umdenken macht jahrelange Arbeit an unserer Identität und die Mühe, mit unserem Körper Frieden zu schließen, erst möglich. Ein immer nur als heilend gedachter Jesus dagegen rückt nicht gerade das in den Blickpunkt, was die Gebeugten und Ausgestoßenen besser können als alle Geradegerückten, sondern reiht ihn in die Schlange der Besserwisser ein, der Quacksalber, Ärzte und genervten Verwandten, die "nur das Beste" - für wen? - wollen.

Von den persönlichen Umständen der Evangelisten wissen wir wenig. Ich gestatte mir jedoch die Vermutung, dass sie ohne große Einschränkungen leben mussten. Ihre Schilderungen sind von denselben Vorurteilen, Horrorvisionen und Projektionen geprägt wie die der modernen Leser. Der einzige Autor des Neuen Testaments, der selbst "schwach" und behindert war, ist Paulus. Prompt zitiert er eine Gottesstimme, die eine Heilung lapidar ablehnt (vgl. 2. Korinther 12,9f). Diese Gottesstimme will sich in ihm, dem schwachen Paulus, als stark erweisen; nicht durch ein Wunder, sondern im mühsamen Arbeitsalltag des Unheilbaren.

Nein, ich will die Heilungswunder nicht aus der Bibel verbannen. Aber ich wünschte mir eine stärkere Beachtung ihrer Kontexte. Erstens: Zu Passion und Kreuz hin werden sie selten oder verschwinden ganz. Bringt das Ende des Gottessohns nicht auch eine Relativierung aller Wunder mit sich? Zweitens erinnere ich nochmals an die Bemühungen der Evangelisten Markus, Matthäus und Johannes. Sie setzten alles daran, Jesu Wunderkräfte aus dem Zentrum zu rücken. Sie tun das durch Hinweis auf sein Wort, sein von Anfang an durchschimmerndes Ende und durch eine mitunter parodistisch überzeichnete, bloße Zeichenhaftigkeit der Mirakel. Diesen raffinierten literarischen Techniken der Überlieferer gegenüber kommen mir Versuche, Jesu Heilungswunder zu "erklären", indem die Ausleger auf das antiquierte Weltbild, das (Nur-)Symbolische oder gar auf die "Psychosomatik" verweisen, lächerlich vor. Aber es gibt ja auch Passagen, die auch behinderten Lesern und Leserinnen den manchmal schwer verdaulichen Stoff der Tradition versüßen: Warum hat Jesus den Bartimäus schon vor seiner Heilung, also als Blinden berufen (vgl. Markus 10)? Warum berührt er die Zunge eines Gehörlosen mit Speichel und legt ihm seine Finger in die Ohren (vgl. Markus 7)? Warum, wenn er mit diesem Menschen nicht in dessen Sprache und von gleich zu gleich kommunizieren wollte? - Den Exegeten sei es überlassen, im weiten Feld der Heilungsszenen nach weiteren Beispielen einer Sensibilität für die Beschädigten zu fahnden, die die kirchliche Rezeption bis heute eher selten aufbringt.

Literatur: Gottfried Lutz/Veronika Zippert (Hrsg.): Grenzen in einem weiten Raum . Theologie und Behinderung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2007, 240 Seiten, 19, 90 Euro; insbesondere Kathrin Asper: Wo ist Bethesda? Gedanken einer Psychotherapeutin zum Thema körperliche Behinderung und Spiritualität.

Susanne Krahe

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