Ziel Pluralitätsfähigkeit

Die Zukunft des Religionsunterrichts: Auch eine Frage der Religionsfreiheit
Religionsunterricht in Berlin Foto: epd/Rolf Zöllner
Religionsunterricht in Berlin Foto: epd/Rolf Zöllner
Je säkularer das öffentliche Bewusstsein, umso lauter der Ruf nach einem für alle verbindlichen Ethikunterricht - statt des Religionsunterrichts. Dagegen wirkt - neben der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts - ein zunehmend offener Religionsunterricht, wie Friedrich Schweitzer, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik in Tübingen, ausführt.

Die Frage nach der Zukunft des Religionsunterrichts wird heute vielfach gleich so verstanden: Hat der Religionsunterricht überhaupt noch Zukunft? Besonders für den nach Konfessionen getrennt erteilten Unterricht wird dies häufig bezweifelt. Die Trennung zwischen evangelisch und katholisch sei doch bloß ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten.

Nur selten wird freilich gefordert, dass der Religionsunterricht ersatzlos gestrichen werden soll. Zumindest ein Unterricht in ethischen Fragen, der auch religiöse Themen behandelt, soll auch in Zukunft angeboten werden, und nicht selten wird verlangt, dass es dann keine Austritts- oder Abwahlmöglichkeiten mehr geben darf. Die Bezeichnungen sind dabei schwankend - Ethikunterricht, philosophische Ethik, Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER), Ethik für alle. Gemeinsam ist diesen Ansätzen aber die Überzeugung, dass das entsprechende Fach religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet und allein vom Staat verantwortet sein soll, einschließlich der Festlegung von Inhalten, auch im Blick auf die Normen und Werte, deren Vermittlung zumindest immer wieder von einem solchen Ethikunterricht erwartet wird. Denn religiöse Neutralität bedeute keine Wertneutralität, wie die Vertreter von LER in Brandenburg betonen.

Kritische Anfragen

Steht so bereits die Grundgestalt des Religionsunterrichts in Frage und ist auch für die Zukunft wohl kaum mit einem Nachlassen der kritischen Anfragen an den Religionsunterricht zu rechnen, beziehen sich weitere Fragen auch dort, wo am herkömmlichen Religionsunterricht festgehalten werden soll, auf den Bildungsauftrag und die Bildungsziele für den Religionsunterricht.

In der bislang einzigen Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht, "Identität und Verständigung" von 1994, wird in dieser Hinsicht eine klare Entscheidung getroffen: Der Religionsunterricht sei ein Angebot der Schule und müsse nicht nur bildungstheoretisch begründet, sondern auch gemäß bildungstheoretischer Kriterien ausgestaltet werden. Kirchliche Erwartungen wie das Anliegen der Mission seien mit solchen Kriterien nicht vereinbar und könnten demnach auch nicht Ziel des Religionsunterrichts sein. Entsprechendes gilt natürlich auch für sämtliche Inhalte, die mit den Grund- und Menschenrechten nicht zur Deckung zu bringen sind - eine Frage, die derzeit weniger im Blick auf den christlichen, häufig aber hinsichtlich eines islamischen Religionsunterrichts kritisch diskutiert wird. Prinzipiell betrifft diese Frage aber alle Religionen oder kann sie jedenfalls betreffen. Der schulische Religionsunterricht untersteht den Maßgaben eines pädagogisch und rechtlich auszuweisenden Bildungsverständnisses.

Außer Zweifel steht demnach, dass der Religionsunterricht der Bildung dienen muss, verstanden als Unterstützung der Selbstwerdung junger Menschen, die freilich nur in sozialer Verantwortung denkbar ist. Darauf zielen die Begriffe "Identität" und "Verständigung". Weiter zugespitzt kann auch von Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel gesprochen werden, die heute immer wichtiger wird.

Evangelische Identität

Pluralitätsfähigkeit gehört nicht zu den traditionellen Zielen des Religionsunterrichts. Lange Zeit bestand dazu auch kein Anlass, als sich die Gesellschaft selbst kaum als religiös oder weltanschaulich plural verstand. In der Gegenwart gehört das Aufwachsen in der religiösen und weltanschaulichen Pluralität dagegen zu den entscheidenden Herausforderungen, und auch für ein friedliches und tolerantes Zusammenleben erscheint Pluralitätsfähigkeit als unerlässliche Voraussetzung. So gesehen kann diese Fähigkeit als entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung religions- oder ethikunterrichtlicher Angebote eingesetzt werden.

Zumindest in kirchenoffizieller Sicht steht inzwischen fest, dass der Religionsunterricht der Ausbildung von Pluralitätsfähigkeit dienen soll. Wie die EKD-Thesen zum Religionsunterricht von 2006 zeigen, geht es darum, die beiden Pole von Fundamentalismus und Relativismus zu vermeiden - durch eine reflektierte und prinzipienorientierte Fähigkeit, in der Pluralität Orientierung zu gewinnen. Evangelische Identität bewährt sich in der Verständigung mit anderen, gerade auch angesichts bleibender Differenz. Damit trägt der Religionsunterricht zu einer zukunftsfähigen Bildung für das Leben in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft bei.

Im engeren Sinne betrifft die Frage der Konfessionalität nur den Bereich des Christentums und hier vor allem das Verhältnis zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht. In dieser Hinsicht besteht seit langem Einverständnis, dass in Zukunft ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht angestrebt werden sollte - als Kooperation auf der Grundlage verschiedener Religionsunterrichtsgruppen, die auf unterschiedliche Arten und Weisen miteinander zusammenarbeiten.

Dieses Modell, das derzeit vor allem in Baden-Württemberg und in Niedersachsen an mehreren hundert Schulen erfolgreich praktiziert wird, wurde auch in verschiedenen empirischen Untersuchungen auf die Probe gestellt. In religionsdidaktischer Hinsicht kann es als bewährt bezeichnet werden. Darüber hinaus findet es auch die ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten - der Kinder und Jugendlichen ebenso wie der Lehrerinnen und Lehrer und der Eltern. Kritische Stimmen, die sich ausschließlich für einen getrennten, also nicht-kooperativen Unterricht aussprechen, sind überaus selten. Wenn dieses Modell bislang nicht auch in anderen Bundesländern offiziell praktiziert wird, so geht dies vor allem auf ein Zögern der katholischen Seite zurück. Es ist zu hoffen, dass hier in Zukunft weitere Fortschritte im Blick auf klare Vereinbarungen erzielt werden.

Streitpunkt islamischer Religionsunterricht

Erst hier begegnen uns die entscheidenden Streitfragen für die Zukunft. Soll es einen islamischen Religionsunterricht geben, der als ordentliches Lehrfach im Sinne des Grundgesetzes (Artikel 7, 3) mit gleichem Recht neben einem evangelischen und katholischen Religionsunterricht steht? Wenn diese Frage bejaht wird, kommt ein Ethikunterricht für alle von vornherein nicht in Betracht - denn auch das Berliner Appendix-Modell, bei dem ein für alle verpflichtender Ethikunterricht mit einem zusätzlichen freiwilligen Angebot von Religionsunterricht verbunden wird, geht ja gerade nicht vom Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach aus.

Einen islamischen Religionsunterricht wird es ohne einen konfessionellen christlichen Religionsunterricht nicht geben - und umgekehrt. Insofern besteht hier ein Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung. Dabei sollte freilich nicht vergessen werden, dass die von den quantitativen Verhältnissen her durchaus plausible Konzentration auf christlichen und islamischen Religionsunterricht im Blick auf andere Formen von Religionsunterricht überschritten werden muss - den jüdischen ebenso wie den christlich-orthodoxen Religionsunterricht. Beide Formen werden in der Bundesrepublik an verschiedenen Orten schon heute erteilt. Auch diese Angebote müssten bei einem Ethikunterricht für alle abgeschafft werden. Zumindest als gleichberechtigte Schulfächer können sie neben Ethik nur dann fortbestehen, wenn der Ethikunterricht Wahl(pflicht)- oder Ersatzfach bleibt.

Die wachsende Vielfalt von Angeboten wird allerdings vor allem in schulorganisatorischer Hinsicht immer wieder als Belastung angesehen. Diese ist freilich weniger in einem objektiven Sinne gegeben. Ihre Wahrnehmung ist vielmehr selbst Resultat der fehlenden Plausibilität konfessions- und religionsspezifischer Angebote, die heutigen Schulleitungen offenbar nicht mehr einleuchten. Auch in dieser Hinsicht gibt es allerdings Abstufungen: Wer eine Trennung zwischen evangelisch und katholisch als überholt ansieht, etwa weil heute ein Drittel der Kinder in diesem Unterricht ohnehin aus evangelisch-katholischen Elternhäusern kommt, hält deshalb zumindest nicht automatisch auch schon die Unterschiede zwischen Christentum und Islam für gleichgültig.

Religionsunterricht für alle

Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch an den Hamburger "Religionsunterricht für alle" gedacht, der von allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit, besucht wird - beziehungsweise, da sich die Verhältnisse in Hamburg mit der Einrichtung eines katholischen Religionsunterrichts derzeit ändern, zumindest in der Vergangenheit - "von allen" besucht wurde. Der Hamburger Religionsunterricht wurde und wird aber, was häufig übersehen wird, "in evangelischer Verantwortung" erteilt. Insofern handelt es sich nicht um ein Modell, bei dem christliche Kinder nun einen Religionsunterricht "in islamischer Verantwortung" besuchen müssen. Auf längere Sicht wird es freilich kaum einleuchten, dass ein solcher Besuch umgekehrt von den muslimischen Kindern erwartet wird.

Letztlich geht es um eine politische Entscheidung: Ethikunterricht für alle oder konfessions- und religionsspezifische Angebote. Eine bedeutsame Rolle wird für diese Entscheidung die Auffassung von Religionsfreiheit spielen: Je stärker die Religionsfreiheit auch in Schule und Öffentlichkeit gewichtet wird, desto mehr spricht für konfessions- und religionsspezifische Angebote. Umgekehrt gilt: Je mehr sich in Öffentlichkeit und Politik laizistische Tendenzen durchsetzen, die Religion als eine rein private Angelegenheit behandeln wollen, umso mehr Zustimmung wird auch ein Ethikunterricht für alle finden.

Die jahre- und jahrzehntelange Diskussion um den Religionsunterricht hat allerdings auch die Folgen einer möglichen Umstellung auf einen Ethikunterricht als einziges Angebot bewusst gemacht. Ein solcher Unterricht bleibt von seinem allein vom Staat verbürgten Auftrag her in aller Regel unterhalb der existenziellen Fragen, die sich im Kindes- und vor allem im Jugendalter stellen. Konfessionelle oder religiöse Identitäten will dieser Unterricht, wo nicht überhaupt kritisieren, so doch bestenfalls zur Kenntnis nehmen und keinesfalls unterstützen. Personale Begegnungen schließlich mit Erwachsenen, die für eine bestimmte religiöse Überzeugung stehen, nicht damit alle Kinder und Jugendlichen diese übernehmen, sondern damit sie sich daran reiben können, kommen bei einem Ethikunterricht für alle nur punktuell zustande, also in speziellen Einzelstunden, zu denen sie eingeladen werden, was sie tendenziell auf die Rolle von Exoten reduziert.

Dreidimensionale Herausforderung

Nicht vergessen werden darf auch die prekäre Rolle, in die der Staat gerät, wenn er den Bürgerinnen und Bürgern ihre Werte vorschreiben will. Der freiheitliche Staat ist auf Werte angewiesen, kann sie aber nur um den Preis seiner Freiheitlichkeit, etwa durch einen Ethikunterricht, durchsetzen. Aus dieser Lage wird der Staat durch einen konfessionellen Religionsunterricht befreit.

Was hier als Stärke eines konfessionellen Religionsunterrichts angesprochen wird, scheint freilich aus anderer Perspektive mit entscheidenden Nachteilen verbunden zu sein. Hier ist dann von konfessioneller Enge und fehlender Offenheit die Rede. An solchen Einwänden wird noch einmal deutlich, dass die Zukunft des Religionsunterrichts immer auch von den Bildungszielen abhängig ist, die in diesem Unterricht verfolgt werden.

Die Frage nach der Zukunft des Religionsunterrichts erweist sich nach dem Gesagten als eine mindestens dreidimensionale Herausforderung. Dabei spielen kaum beeinflussbare gesellschaftliche Entwicklungen ebenso eine Rolle wie politische Entscheidungen, aber eben auch die didaktische Qualität des Unterrichts selbst.

Kaum beeinflussbar sind vor allem die demographischen Faktoren. Sie führen dazu, dass der Anteil evangelischer und katholischer Kinder rückläufig ist. Und dadurch gerät der konfessionelle Religionsunterricht zunehmend unter Druck. Wenn evangelischer und katholischer Religionsunterricht, auch zusammengenommen, vielleicht noch die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erreicht, werden die Forderungen nach alternativen Wegen sicher immer lauter und für viele auch plausibler werden.

Welche Alternativen sich dann durchsetzen, darüber entscheidet allerdings nicht allein die Demographie. Ob es auch in Zukunft ein konfessions- und religionsbezogenes Unterrichtsangebot geben soll - mit christlichem, jüdischem und islamischem Religionsunterricht -, das neben einem Ethikunterricht steht, hängt von politischen Optionen ab sowie nicht zuletzt vom bildungspolitischen Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Zentral ist dabei die Entscheidung im Blick auf die Religionsfreiheit in der Schule, die nie auf die Frage von Mehrheiten reduziert werden darf.

Plausibel wird ein Religionsunterricht bei alledem freilich nur sein, wenn er seine eigene Zukunftsfähigkeit durch ein zukunftsfähiges Bildungsangebot unter Beweis zu stellen vermag. Ein Religionsunterricht, der nur die eigene Konfession stärken will und sich dem Dialog verweigert, hätte keine Zukunft. Er bliebe hinter den theologischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Anforderungen zurück. Die Zukunft gehört einem dialogisch angelegten Religionsunterricht, der dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient, als Beitrag zur religiösen Identitätsbildung und zur Verständigungsfähigkeit. Der Einsatz für einen solchen Unterricht lohnt sich - auch in Zukunft.

Literatur Friedrich Schweitzer: Menschenwürde und Bildung. TVZ Verlag, Zürich 2011, 112 Seiten, Euro 13,80.

Ders.: Schöpfungsglaube - nur für Kinder?: Zum Streit zwischen Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Kreationismus. Aussaat Verlag, Neukirchen-Vluyn 2012, 116 Seiten, Euro 12,99.

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Friedrich Schweitzer

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Foto: Jörg Winter

Friedrich Schweitzer

Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Universität Tübingen.


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